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Rosa (Erzählung)

Tobias Röhlicke | | Artikel drucken
Lesedauer: 9 Minuten

Der Tag an dem Rosa vom Himmel fiel, war ein Samstag. Er weiß noch, dass er über die Predigt des nächsten Tages nachdachte, als Rosas wimmerndes Stöhnen seinen Blick vom Weg ablenkte.
Rosa fiel nicht direkt vom Himmel, sondern von einem Zug. Dennoch redete er sich ein, dass es etwas mit dem Himmel zu tun haben musste. Manchmal malten er und Rosa sich aus, dass der Zug, von dem sie gefallen war, tatsächlich El Cielo geheißen hatte, Der Himmel. Aber wahrscheinlich ist es nicht. Die Transportzüge, die sich schnaufend und zeternd vom grünen Süden Mexikos in den rauen Norden kämpfen, werden von den Mexikanern La Bestia genannt, die Bestie. Viel weiter von Himmel könnte der Name also nicht entfernt sein.
Aus seiner Sicht fiel sie ihm vom Himmel vor die Füße und veränderte sein Leben für immer. Aus ihrer Sicht fiel sie vom zu schnellen, mit hunderten weiteren Immigranten überladenem Zug, knallte in ein vertrocknetes Gebüsch und brach sich mehrere Rippen und ein Fußgelenk.

Rosa war eine Immigrantin aus Guatemala. Eine guatemaltekische Immigrantin. War. Ist. Wer weiß, ob sie den Titel jemals wieder loswird…
Ihre große Reise begann im Stadtviertel mit dem Bilderbuchnamen La Limonada. In der Limonade leben 60.000 bis 100.000 Menschen und das Stadtviertel ist kein Viertel mit bunten Kolonialhäusern und kleinen Vorstadtgärten, sondern ein Slum. Ein Slum, eine Favela, eine Shantytown, eine Barackensiedlung. Und nicht nur eines unter vielen, sondern der größte Slum Zentralamerikas.
Rosa hatte ihr gesamtes Leben in La Limonada verbracht. Sie war dort aufgewachsen, mit einem Vater, dem sie egal war, einem Vater, der in jeder ihrer Erinnerungen eine Flasche in der Hand hatte. Sie jagte dort als Mädchen nach dem wertvollsten Müll auf den Müllhalden. Sie verliebte sich als junge Frau in den falschen Mann, der einmal mit ihr schlief und davonrannte. Von der einen Nacht wurde sie schwanger. Mit der Tochter kämpfte sie sich fünf Jahre weiter durchs Leben. Bis heute weiß sie nicht, woran sie starb. Sie weiß nur, dass sie eines Morgens aufwachte, auf ihre Tochter hinunterblickte und wusste, dass sie nicht mehr lebte. Alleine kämpfte sie weiter. Nach einer Weile fand sie einen Mann. Erst war er liebevoll und fürsorglich, gab Rosa einen Teil seines Einkommens und half ihr, einen kleinen Hot-Dog Stand zu eröffnen. Aber nach der Hochzeit, als Rosas Stand genug Geld einbrachte, hörte er auf zu arbeiten und begann, zu trinken. Zu spät merkte sie, dass sie ihren Vater geheiratet hatte.
La Limonada ist nicht nur einer der ärmsten Orte des Landes, sondern auch einer der gefährlichsten. „Nicht mal der Weihnachtsmann traut sich nach Limonada“, heißt es. Die Banden teilen sich die Stadtviertel auf wie Kolonialherren Kontinente und regieren mit Gewalt und Terror. Wer kein Bewohner eines Viertels ist, betritt es nicht. Denn die Banden, die Gangs, schrecken nicht davor zurück auch Unbekannte anzugreifen oder zu töten. Selbst im eigenen Viertel ist man nicht vor umherfliegenden Kugeln oder von Schreien erfüllten Massenschlägereien sicher.
Eines Tages tauchte Rosas Mann nicht mehr auf. Da er schon öfter verschwunden war, machte sie sich erst zwei Tage später auf die Suche. Zwar fand sie weder ihn noch jemanden, der ihn gesehen hatte, aber sie erfuhr von dem Berg an Schulden, den er hinter ihrem Rücken aufgetürmt hatte. Durch ihren Vater, durch Bekannte, durch das Leben, das sie nie außerhalb von La Limonada verbracht hatte, wusste sie, was folgen würde. Wenn die Bande ihn erwischt hatten, würden sie vor ihr keinen Halt machen. Sie war der nächste Schritt, um zumindest einen Teil der Schulden einzutreiben. Also würden sie bei ihr auftauchen, in einer kleinen Gruppe, zu viert oder fünft. Einer oder zwei würden ihr die Arme auf den Rücken drehen, ein dritter würde zuschlagen und die anderen beiden den Stand entweder abreißen oder abbauen und mitnehmen. Wenn sie Glück hatte, würde sie es überleben. Vielleicht fand sie ein Nachbar und pflegte sie gesund oder brachte sie zu einem der mehr als überfüllten, öffentlichen Krankenhäuser, in dem sie – wieder mit Glück – von einer zu jungen, überforderten Ärztin in wenigen Minuten behandelt würde. Aber wahrscheinlicher war, dass sie niemand fand. Oder dass der Ruf der Bande sich so schnell durchs Viertel verbreitete, dass sie niemand finden wollte. Dann würde sie, wieder einmal allein, noch mehrere Stunden, vielleicht Tage, vor sich hin kämpfen und schließlich den inneren Blutungen erliegen.
Aber Rosa kam all dem zuvor und verkaufte in nur wenigen Stunden den Hot-Dog Stand an zwei Nachbarn. Weit unter Wert. Mit dem Gewinn und ihrem wenigen Ersparten bezahlte sie einen Schieber, den sie mithilfe eines Onkels kontaktierte und der ihre Flucht in die USA organisierte – wenn sie floh, dann in ein anderes Leben, in eine andere Welt. Rosa war dreiundvierzig als sie zum ersten Mal in ihrem Leben La Limonada verließ und sich in einem der bunt bemalten, ehemaligen amerikanischen Schulbusse auf den Weg in Richtung Norden begab.
Hinter der mexikanischen Grenze verfrachtete man sie neben hunderten anderen Migranten auf LKWs. In vielen Gesichtern erblickte Rosa dieselben Zweifel, dieselbe Unsicherheit, und dieselbe Angst, die auch sie erfüllten. Angst vor dem, was vor ihnen lag, Angst, die Reise nicht zu überleben, Angst davor, von der mexikanischen oder amerikanischen Polizei erwischt zu werden. Ein paar wenige traten die Flucht zum zweiten oder dritten Mal an. Entweder hatte man sie direkt auf der Flucht oder bereits in den USA erwischt und exportiert. Wie Schweine oder Hühner lud man sie auf den LKW. Die meisten Migranten mussten stehen. Es stank nach Schweiß, Verzweiflung, Urin. Einmal fiel Rosa während der Fahrt und riss die Umstehenden mit sich. Bis zwei Monate später einer der LKWs im Süden Mexikos verunglücken würde, wusste niemand genau, wie viele Menschen die Schieber auf den LKWs unterbrachten. 55 Menschen kamen bei dem Unglück ums Leben, 105 weitere wurden verletzt. Von der Angst vor der mexikanischen Polizei getrieben, flohen viele der Verletzten blutend von der Unfallstelle.
Nach acht Stunden hielt der LKW in dem Rosa transportiert wurde und die nächste Gruppe von Schiebern trieb sie wie eine Herde Kühe mit Stoßen und Geschrei zu den Gleisen. Rosa kann sich nicht erinnern, wie sie auf dem Zug landete. Sie weiß noch, dass sie weitere Stunden in der Kälte und dem Dunst des frühen Morgens neben den hunderten anderen Migranten im Gebüsch hockte und wartete. Als der Zug einfuhr, schrien die Schieber und wedelten mit den Armen. Wenige Momente später klammerte Rosa sich neben den anderen Migranten auf dem Dach des Zuges fest. Erst mit dem Bild eines Jungen, der der kreischenden Mutter von der Schwerkraft aus den Armen gerissen wurde und vom Zug fiel, kam Rosas Wahrnehmung zurück. Bis ihr drei Stunden später der Ast eines vorbeifahrenden Baumes ins Gesicht schlug und sie rückwärts vom Zug riss, sprach sie kein Wort.

Mithilfe zweier Jungs, die auf einem Lastenfahrrad vorbeigekommen waren, brachte er Rosa ins Dorf, zu dem kleinen roten Haus, das er neben der Kirche bewohnte. Rosa stöhnte und fluchte und wimmerte. Hin und wieder traf ihn ihr wütender Blick. Die langen Locken hingen ihr ins verschwitzte Gesicht, ihr großer, rundlicher Körper zuckte unter den Schmerzen. Er hatte sie in der Kiste des Fahrrads auf die Seite gelegt und schob das Rad vorsichtig über den staubigen, mit Löchern versehrten Weg.
Er wusste, dass sie eine Migrantin aus Honduras, Guatemala oder El Salvador war. Mehrmals die Woche kämpfte sich eine der Bestien an seiner Kleinstadt im Bundesland Oaxaca vorbei. Fast immer waren sie mit Immigranten beladen, meistens überbeladen. Hin und wieder fiel einer vom Zug. Die Wenigsten überlebten den Fall. Während er Rosas Arm betrachtete, fragte er sich, ob ihr offensichtliches Übergewicht ihr das Leben gerettet hatte.
In seinem dunklen, nach Feuchtigkeit riechenden Wohnzimmer pflegte er Rosa, bis sie genesen war und darüber hinaus. Er pflegte sie durch die Tage des Schmerzes, durch die Wochen der Lethargie, die ihren Ursprung im missglückten Migrationsversuch hatte, bis hin zu der entschiedenen, tatkräftigen Rosa, die sein Leben und ihn für immer verändern würde. Es war diese Rosa, die ihn dazu brachte, das Bisherige in Frage zu stellen. Es war diese Rosa, die ihn zu den Fragen führte, von denen er gedacht hatte, sie sich niemals stellen zu müssen. Es war diese Rosa, die ihn erst in die Versuchung führte, danach zu den Selbstzweifeln, dann wieder in die Versuchung, schließlich zum Selbsthass und letztendlich zu dem Punkt, von dem es kein Zurück mehr gab.

Rosa war die erste Frau, die er kennenlernte. Rosa war die erste Frau, die er richtig kennenlernte. Erst durch Rosa erfuhr er, was es bedeutete einen Menschen so gut kennen zu wollen, wie sich selbst. Erst durch Rosa verstand er, dass er selbst seine Mutter und die große Schwester nie ganz kennengelernt hatte. Denn es war Rosa, die ihm all die Fragen stellte, die ihm die endlosen Möglichkeiten zeigte, wohin der Fluss eines offenen Gesprächs fließen kann. Denn es war Rosa, die ihn fragte, warum er nie von seinem Vater sprach. Es war Rosa, die ihn fragte, was er, bevor er starb, gerne noch ein letztes Mal machen würde. Und es war Rosa, die wissen wollte, ob er als Pfarrer niemals ein sexuelles Verlangen verspürte. Rosa veränderte seine Sicht auf die Menschen und seine Beziehung zu ihnen so sehr, dass er sich immer wieder voller Scham die Frage stellte, ob er, ohne über dieses Wissen und diese Beziehung verfügt zu haben, überhaupt je ein guter Pfarrer hat sein können.

Erst Jahre später erfuhr er von ihr, warum sie geflohen war. Denn das war sie: geflohen. Im Gegensatz zu vielen anderen zog sie nicht die Illusion vom vermeintlichen Wohlstand in die erste Welt weit oben im Norden. Vielmehr entriss sie die Realität ihrer guatemaltekischen Wurzeln und setzte die umliegenden Baracken und Wellblechhütten in Flammen.

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