Seit 1914 gibt es bereits einen Kanal, der den Atlantischen und den Stillen Ozean miteinander verbindet. Dieser verläuft quer durch Panama, einen Staat, den es ohne diese Wasserstraße aller Wahrscheinlichkeit nach gar nicht geben würde. Weshalb ist dann für Nicaragua ein Kanal, den es dort gar nicht gibt, zu einer Schicksalsfrage geworden? Die Antwort darauf reicht weit in die Vergangenheit zurück und zeigt, wie sehr allein die Möglichkeit eines Kanals den Weg Nicaraguas bestimmt hat.
Der Isthmus als Hoffnung und Fluch
Der Süden und Norden des amerikanischen Doppelkontinents sind nur durch eine schmale Landbrücke miteinander verbunden, die zugleich zwei riesige Ozeane voneinander trennt. Mit der Eroberung Amerikas durch die Spanier und der Entstehung des modernen Weltsystems begann die Suche nach Transitrouten, die den atlantischen Raum zuerst mit der pazifischen Küste Amerikas, später mit der asiatischen Gegenküste auf möglichst kurzem Weg miteinander verbinden sollte. Am Anfang stand der Camino Real, auf dem die Gold- und Silberschätze Perus nach Spanien transportiert wurden. Bereits im 18. Jahrhundert gab es Pläne für den Bau eines inter-ozeanischen Kanals. Theoretisch eigneten sich dafür vier oder fünf Stellen, von der Landenge von Tehuantepec im Norden (Mexiko) bis zur Atrato-Senke im Süden (Kolumbien). Favoriten waren jedoch der Isthmus von Panama und die Nicaragua-Route. Die damit verbundenen Möglichkeiten reizten im Verlauf der Jahrhunderte zuerst das britisch, dann das US-amerikanische Empire, die Kontrolle über den Isthmus zu erlangen. Die Chancen dafür wurden größer, als das spanische Kolonialreich zerfiel und auf dem zentralamerikanischen Isthmus neue Staaten entstanden. Panama wurde 1821 als Teil Kolumbiens unabhängig, der Teil nördlich davon schloss sich im selben Jahr Mexiko an. 1823 entstand daraus die Zentralamerikanische Föderation, die1840 schließlich in fünf Kleinstaaten zerfiel. Neben Guatemala, El Salvador, Honduras und Costa Rica gehörte auch Nicaragua dazu. Der Traum, die isthmische Lage als Sprungbrett der Teilhabe am kapitalistischen Reichtum zu nutzen, verwandelte sich jedoch in einen Albtraum. Als es ernst wurde mit den verschiedenen Projekten eines inter-ozeanischen Kanals, entschieden fremde Imperien, ob und wie daraus Realität werden sollte. Die daraus erwachsende Interventions- und Kolonialpolitik traf Panama und Nicaragua besonders hart.
Nicaragua oder Panama? Das ist die Kanal-Frage!
Mit der Eroberung Kaliforniens durch US-Truppen im Krieg gegen Mexiko und den Goldfunden, die dort 1848 gemacht wurden, geriet der Isthmus erstmals ins Visier Washingtons. Es waren US-amerikanische Unternehmen, die sich die beiden wichtigsten Transitrouten als sprudelnde Profitquelle sicherten: Cornelius Vanderbilt in Nicaragua und William Henry Aspinwall in Panama. Mit finanzieller Unterstützung des US-Kongresses wurde 1850 mit dem Bau der Panama Railroad begonnen. 1855 durchquerte der erste Eisenbahnzug den Isthmus. Bis zur Fertigstellung der transkontinentalen Eisenbahn 1869 in den USA war die Panama Railroad Co. eines der profitabelsten Unternehmen der Welt. Die Erfolge der Nordamerikaner riefen die Briten auf den Plan, die in Nicaragua an der Atlantikküste (Mosquitia) ein eigenes Protektorat errichtet hatten. Der Streit wurde 1850 durch einen Vertrag zwischen den Außenministern beider Länder, Henry Lytton Bulwer (Großbritannien) und John Clayton (USA), beigelegt. Die Vertragspartner kamen überein, dass der Bau eines Kanals nur im beiderseitigen Einverständnis erfolgen sollte. Außerdem einigten sie sich darauf, dass dieser neutral und offen für alle Seefahrernationen sein sollte. Der Clayton-Bulwer-Vertrag schrieb außerdem den Verzicht Großbritannien auf seine zentralamerikanischen Kolonien und Protektorate fest, wovon nur Britisch-Honduras, das heutige Belize ausgenommen war.
Vom 15.-29. Mai 1879 fand in Paris ein wissenschaftlicher Kongress statt, in dem die Frage diskutiert wurde, welche Stelle des Isthmus am besten für das Projekt eines inter-ozeanischen Kanals geeignet sei. Ferdinand de Lesseps, der Erbauer des Suez-Kanals, setzte sich dort mit seiner Auffassung durch, dass dafür nur die Panama-Route infrage komme. Am 20. Oktober 1880 gründete er mit weiteren Interessenten die Compagnie Universelle du Canal Interocéanique de Panama, die am 20. Januar 1882 mit den Erdarbeiten in Panama begann. Die Gegenposition vertrat Admiral Daniel Ammen, der im Auftrag von US-Präsident Ulysses Grant (1869-1877) sieben Expeditionen zur Erkundung einer geeigneten Kanalroute organisiert hatte. Die US-amerikanische Delegation plädierte wie fast alle nicht-französische Vertreter für die Nicaragua-Route, konnte sich mit dieser Auffassung nicht durchsetzen. Allerdings endete das Vorhaben des ehrgeizigen Franzosen als der größte Bau- und Finanzskandal des 19. Jahrhundert. Am 15. Dezember 1888 musste die Compagnie Universelle Konkurs anmelden. Allerdings war der US-amerikanischen Maritime Canal Company of Nicaragua im Jahr darauf dasselbe Schicksal beschieden.
Die Konkurrenz beider Routen lebte nach dem Spanisch-Amerikanischen Krieg 1898 erneut auf. Ihr schneller und klarer Sieg bescherte den USA den Aufstieg in die Liga der imperialistischen Großmächte. Um diese Position abzusichern, bedurfte es einer schnellen maritimen Verbindung zwischen der Ost- und der Westküste der Vereinigten Staaten. Maßgeblicher Befürworter eine inter-ozeanischen Kanals war Theodore Roosevelt. Als US-Präsident McKinley am 6. September1901 durch ein Attentat getötet wurde, übernahm sein Vize Roosevelt das höchste Staatsamt. Als neuer Präsident trieb er das Projekt eines US-amerikanischen Kanals auf dem zentralamerikanischen Isthmus mit aller Energie voran. Obwohl der US-Kongress am 9. Januar 1902 mit 308:2 für die Nicaragua-Route gestimmt hatte, wechselte Roosevelt kurz darauf das Lager und drückte mit Hilfe zweier Lobbyisten die Panama-Route durch. Den Ausschlag soll eine Briefmarke gegeben haben, auf der ein Ausbruch des Vulkans Momotombo in Nicaragua zu sehen ist. Diese Entscheidung der USA hatte nicht nur für Panama, das mit tätiger Unterstützung Washingtons am 3. November 1903 als neuer Staat aus der Taufe gehoben worden war, sondern auch für den Verlierer Nicaragua weitreichende Folgen.
Imperiale Heimsuchungen
Die USA hatten sich zwar gegen die Nicaragua-Route entschieden, wollten aber zugleich verhindern, dass mögliche Rivalen einen zweiten inter-ozeanischen Kanal in diesem favorisierten Gebiet bauen. Dabei stand ihnen José Santos Zelaya im Wege. Dieser war 1893 Präsident Nicaraguas geworden. Als Führer der Liberalen forcierte er den Ausbau und die Festigung des Nationalstaates. Dessen Entwicklung war aus drei entscheidenden und miteinander zusammen hängenden Gründen hinter der der Nachbarländer Costa Rica, El Salvador und Guatemala zurück geblieben. Erstens war der Konflikt innerhalb den Elitefraktionen der Liberalen und Konservativen besonders tief und langwierig. Dies hatte eine wesentliche Ursache in der Entscheidung der Liberalen, während eines der häufigen Bürgerkriege auf Hilfe von außen zurückzugreifen. Sie hatten 1855 mit dem US-amerikanischen Abenteurer William Walker ein militärisches Bündnis geschlossen, das dieser dazu nutzte, sich selbst zum Präsidenten Nicaraguas zu machen. Es bedurfte der Intervention der anderen vier zentralamerikanischen Republiken, um Walker wieder zu vertreiben. Es folgte ein Elitepakt zwischen Konservativen und Liberalen, der ersteren bis 1893 die Präsidentschaft sicherte. Dadurch geriet aber zweitens der Aufbau eines Kaffeestaates in Verzug. Einen solchen hatten die Kaffeepflanzer Costa Ricas, El Salvadors und Guatemalas im Ergebnis der (staatlich durchgesetzten) Dominanz der Kaffeeökonomie ab 1870 zu
errichten begonnen, in Costa Rica sogar noch früher. Durch die dauerhafte Anbindung an den Weltmarkt konnte sich die entstehende Kaffee-Oligarchie Ressourcen erschließen, die sie für den Ausbau „ihres“ Staates nutzen konnte. Politische Repräsentanten des Kaffee-Staates waren in Nicaragua – wie auch anderen Orts auf dem Isthmus – die Liberalen. Ein dritter Faktor der verspäteten Staatsbildung war die Jahrhunderte lange britische Präsenz an der nicaraguanischen Atlantikküste. Erst Zelaya gelang es, das Gebiet der Mosquitia ins Staatsgebiet einzugliedern. Zentrale Elemente seines Projektes waren zum einen der Bau eines inter-ozeanischen Kanals, weshalb er Verhandlungen mit Japan und Deutschland angebahnt hatte. Zum anderen wollte er Zentralamerika wieder vereinigen. Beides brachte ihm die Feindschaft Washingtons ein. Mit Hilfe der Konservativen betrieben sie den Sturz Zelayas. Dieser musste 1909 ins Exil gehen.
Damit war in Nicaragua eine Ära der Bürgerkriege und US-Interventionen eröffnet, die bis 1933 währte. Von 1912 bis 1925 und erneut von 1927 bis 1933 hielten US-Truppen das Land besetzt. Damit sank das Nicaragua, das vom eigenen inter-ozeanischen Kanal geträumt hatte, zum Protektorat der USA herab. Die Zerstörung des Projekts von Zelaya durch die Intervention Washingtons brachte den zentralamerikanischen Land eine dreifache bittere Niederlage mit Langzeitwirkung: Hier gab es weder einen Kaffeestaat (wie er sich in Costa Rica, El Salvador oder Guatemala herausgebildet hatte) noch das „achte Weltwunder“ eines inter-ozeanischen Kanals (wie ihn Panama „besaß“), dafür hatte Washington sein Protektorat inklusive Besatzungsregime (wie in Kuba, Haiti oder die Dominikanische Republik) erreichtet. Seinen symbolischen Niederschlag fand dieser demütigende Status im Bryan-Chamorro-Vertrag, den der US-amerikanische Außenminister mit dem nicaraguanischen Botschafter 1914 in Washington vereinbart hatten. In Artikel I übertrug Nicaragua den Vereinigten Staaten das exklusive Recht, überall im Land, ohne Steuern oder Gebühren zahlen zu müssen, nach eigenem Gusto einen Kanal zu bauen. Der Vertrag wurde erst 1970 in Managua von beiden Seiten für beendet erklärt.
David wehrt sich gegen Goliath
Die frühzeitige, mehrfache und langfristige Einmischung zuerst Londons, dann Washingtons hat in dieser Weise kein zentralamerikanisches Land erlebt. Abgesehen vom kolonialen Status der Kanalzone kann sich Nicaragua in dieser Hinsicht nur mit Panama „messen“, wobei es einen gravierenden Unterschied gibt. Die Nicaraguaner leisteten von Anfang an Widerstand gegen die Zugriffe der britischen und nordamerikanischen Imperialisten. Dies begann mit dem „nationalen Krieg“ gegen William Walker und seine Filibuster, manifestierte sich im Streben nach Unabhängigkeit unter Zelaya und gipfelte im Kampf von Augusto César Sandino gegen die Besatzungsmacht. Dass es letzterem in einem sechsjährigen Guerillakrieg gelang, die US-Truppen zum Rückzug aus Nicaragua zu zwingen, hat ihm den Status eines anti-imperialistischen Freiheitskämpfer mit kontinentaler, ja internationaler Ausstrahlung verliehen. Eine von Sandinos Hauptforderungen war die Aufhebung des Bryan-Chamorro-Vertrages. Das neue Nicaragua sollte selbst über das Projekt des „Großen Kanals“ bestimmen können. Die Sandinisten der 1950er und 1960er Jahre knüpften an dieses anti-imperialistische Erbe an und begannen nach dem Sturz Somozas 1979 mit einer Revolution, die die Vorherrschaft der USA in der westlichen Hemisphäre herausforderte.
Diese lange Tradition des Widerstandes hat ihre Kehrseite im Verrat zuerst (1909) der Konservativen, dann (1927) der Liberalen sowie in der Errichtung der Familiendiktatur der Somozas. Deren Gründer, Anastasio Somoza, hatte seine politische Karriere als Chef der von den USA geschaffenen Nationalgarde begonnen. 1934 ließ er Sandino, der zu Verhandlungen in Managua weilte, heimtückisch ermorden.
Zwei Jahre später machte sich Somoza selbst zum Präsidenten Nicaraguas. Von Franklin D. Roosevelt, von 1933 bis 1945 Präsident der USA, sind die Worte überliefert, mit denen er Somoza als „Hurensohn, aber unseren Hurensohn“ beschreibt. Der Sandinismus verstand den Kampf gegen die Somoza-Diktatur stets auch als Kampf gegen die Vormachtstellung der USA. Dass die Guerilleros der FSLN, der Sandinistischen Befreiungsfront, eine Revolution in Washingtons „eigenem Hinterhof“ begonnen hatten, ließ die Alarmglocken im Weißen Haus schrillen. Unter Präsident Ronald Reagan begannen die USA einen Krieg „niederer Intensität“ gegen Nicaragua, der rasch die Dimensionen eines Regionalkonflikts annahm. Dieser währte bis 1990, als mit der Abwahl der Sandinisten das wichtigste Kriegsziel Washingtons erreicht war. Im geopolitischen Selbstverständnis der Reagan-Administration war die sandinistische Revolution eine von Moskau und Havanna zu verantwortende und auch deshalb besonders gefährliche Weiterung des Ost-West-Konfliktes.
Die Anhänger dieser Sichtweise haben bis heute nicht begriffen, dass es am Ende die USA selbst waren, die für diese Revolution verantwortlich sind. Blickt man auf die Kette der historischen Ereignisse zurück, dann wird deutlich, dass der Sturz Zelayas, der seitens der USA in erster Linie durch das Interesse an der Sicherung des isthmischen Kanalmonopols motiviert war, den Ausgangspunkt jenes Pfades bildet, der über weitere Stufen bis zu Revolution 1979 geführt hat. Es war Washington, das Nicaragua besetzt und zum Protektorat gemacht hat. Es waren die USA, die Somoza als Statthalter eingesetzt und unterstützt haben. Und es war Washingtons Besatzungsregime, gegen das Sandino und mit ihm tausende andere Nicaraguaner mit Erfolg kämpften. Ohne die permanente Einmischung der USA und die dadurch verursachten Fehlentwicklungen hätte es keine sandinistische Revolution gegeben. Genauso wie es im Umkehrschluss stimmt, dass letztlich die Übermacht der USA die Revolution 1990 besiegt hat. Gegen Ende der Somoza-Diktatur hatte sich zwar die Kanal-Frage in den Augen Washingtons erledigt. Dennoch bildete sie den Ausgangspunkt für das besondere Interesse, mit dem die USA Nicaragua seit Mitte des 19. Jahrhunderts „beglückt“. Es ist der lange Fluch eines nicht gebauten Kanals, der die USA einerseits dazu trieb, immer wieder in die Geschicke Nicaraguas einzugreifen. Damit machten sie sich andererseits selbst zum unfreiwilligen Geburtshelfer der „unvermeidlichen Revolution“ (LaFeber) von 1979.
Die Kanal-Frage heute: Vom Fluch zum Segen?
Spätestens seit 2012 steht die Kanal-Frage erneut auf der Tagesordnung. Im Juli jenes Jahres verabschiedete das nicaraguanische Parlament ein Gesetz (Ley No. 800), das den Bau eines inter-ozeanischen Kanals erlaubte. Im Mai 2013 gab Präsident Daniel Ortega bekannt, dass die HKND-Gruppe (Hong Kong Nicaragua Canal Development Investment Co., Limited) unter Führung des Milliardärs Wang Jing aus Hongkong dieses Projekt ausführen würde. Im Juni 2013 wurde ein zweites Gesetz (Ley 840) verabschiedet, das der HKND für 50 Jahre eine Konzession zusprach, die noch einmal um 50 Jahre verlängert werden konnte. Diese beinhaltet das exklusive Recht des Baus, der Finanzierung und der Bewirtschaftung des Kanals, eingeschlossen die daran angebundenen Häfen, Eisenbahnslinien, Pipelines und Flughäfen. Der Kanal selbst, dessen Baukosten auf 40 Mrd. US-Dollar geschätzt werden, soll eine Länge von 278 km haben. Im Unterschied zu vorangegangenen Projekten soll der östliche Teil nicht dem Lauf des Río San Juan folgen, sondern weiter nördlich liegen und einen künstlich angelegten See umfassen. Die HKND plant, den Nicaragua-See (Cocibolca) als Mittelstück in den Kanal einzubeziehen und den westlichen Teil bei Brito am Atlantik enden zu lassen. Faktisch läuft das Vorhaben darauf hinaus, auf dem Gebiet entlang des Kanals eine ausländische Enklave zu schaffen.
Die Dimension, die möglichen Folgen und besonders das Verfahren zur Vergabe der Konzession an die HKND haben in Nicaragua zu einer Polarisierung geführt, in der sich Befürworter und Gegner des Kanals gegenüber stehen. Während erstere vor allem das ökonomische Potential des Kanals als Argument anführen (Wachstumsimpulse für Logistik, Verkehr, Tourismus, Maquila-Industrien mit voraussichtlich 200.00 Arbeitsplätzen und zusätzlichen Synergieeffekten), kritisieren letztere vor allem die ökologischen Folgen. Außerdem befürchten die Gegner des Kanalbaus neue Abhängigkeiten und wehren sich gegen die anstehenden Ereignissen. Als besonders gravierend wird die Intransparenz des gesamten Verfahren empfunden. Dazu gehört auch, dass sich die Planungen und Gutachten bei genauerer Überprüfung als voreilig, ungenau und unrealistisch erweisen. Auch die Person und das Umfeld des Hauptinvestors Wang Jing lassen an der Seriosität des Megaprojektes zweifeln. Mit zahlreichen Protesten, an denen von August 2014 bis April insgesamt mehr als 350.000 Menschen teilnahmen, verliehen die Gegner des Kanals ihrer Kritik politischen Nachdruck. Obwohl 2019 mit den Bauarbeiten begonnen werden sollte, ist es inzwischen still um das Megaprojekt geworden – ein Hinweis mehr, auf welch fragilem Fundament das ganze Vorhaben steht.
Der „Große Kanal“ und die Polarisierung, die sein geplanter Bau bewirkt, ist zugleich ein Symbol einer Übergangszeit (Interregnum), in der alte Muster und Strukturen nicht mehr funktionieren oder den Weg in die Katastrophe weisen, zugleich aber neue Kräfte noch zu schwach sind, diesen Zustand zu ändern. Der offensichtliche Widerspruch zwischen der Dimension des Vorhabens sowie der damit verbundenen Folgen einerseits und dem Fehlen von Transparenz und belastbarer Planung andererseits spiegeln eine Hybris wider, die der neoliberalen Globalisierung wesenseigen ist. Hinzu kommt eine neue Konstellation, die durch den Aufstieg Chinas, die „America First“-Politik eines Donald Trump und einen neuen „kalten Krieg“ mit Russland gekennzeichnet ist. In diesem Kontext besitzt auch der Nicaragua-Kanal eine geopolitische Dimension. Diese resultiert einmal aus der geographischen Lage des zentralamerikanischen Landes, die bereits London und Washington für sich nutzen wollten, zum anderen daraus, dass der Hauptinvestor aus Hongkong kommt. Gerade weil nichts genaues über dessen Verbindungen zur Volksrepublik China bekannt ist, hat Washington teilweise misstrauisch, teilweise interessiert auf das Megaprojekt reagiert.
Mit seiner Dimension und der geplanten Funktion reiht sich der Kanalbau in die Logik anderer regionaler Vorhaben wie das Proyecto Mesoamérica oder die Alianza del Pacifico ein. Diese ist auf die weitere Erschließung des Isthmus zum Zweck der Ressourcenausbeutung und -plünderung gerichtet. Es wäre die Aufgabe linker Politik, mit dieser Logik des Extraktivismus zu brechen und nach alternativen Wegen zu suchen. Je weiter das Kanalprojekt voranschreitet, desto stärker wird sich die Polarisierung innerhalb der nicaraguanischen Gesellschaft ausprägen.Statt auf technisch wie ökologisch riskante Megaprojekte zu setzen, sollte die Regierung umsteuern und die Wirtschaft des Landes auf ein breiteres und zukunftsfähigeres Fundament stellen. Unter den gegenwärtigen Bedingungen des Interregnums würde die Umsetzung des Traums vom interozeanischen Kanal in einem Albtraum ökologischer Zerstörung, sozialer Polarisierung und neuer Abhängigkeit enden.
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Bildquellen: Quetzal-Redaktion [1]_gc [2]_gt