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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Geschichten aus Nikaragua (Teil 1)

Aníbal Ramírez | | Artikel drucken
Lesedauer: 17 Minuten

Nikaragua ist ein Volk von Mestizen (eine Mischung von Weißen und Indianern), Misquitos (eine Mischung von Indianern und Schwarzen), von Schwarzen und Weißen. Die Nikaraguaner zeichnen sich vor allem durch eine Eigenschaft aus: sie sind überaus unentschieden und leben ständig in einem Meer von Zweifeln. Der Nikaraguaner kennt sich nicht selbst, und wenn er sich kennt, versucht er es zu verbergen, indem er sich selbst verleugnet oder sich in die Welt der Phantasie flüchtet. Man kann alles von ihm erwarten, außer daß er sein wahres Gesicht zeigt, das Gesicht, das er selbst fürchtet. Er ist ein Wesen, das in seinem eigenen Selbst gefangen ist. Die Realität ist seine ärgste Feindin, aber er schenkt ihr nicht viel Aufmerksamkeit, und so kommt es, daß er oft von ihr überrumpelt wird. Der Nikaraguaner schleppt mühsam seine Vergangenheit mit sich – er kann sich nicht von ihr lösen – und ohne nachzudenken, ohne sich der Erfahrungen dieses Gestern zu bedienen, versucht er sich in die Gegenwart zu flüchten: er lebt auf bemerkenswerte Weise in der Gegenwart – er lebt nur für das Heute. Das Morgen existiert nicht für ihn, obwohl es ein normales Wort in seiner Sprache ist. Der Nikaraguaner schiebt alles auf für morgen -denn er weiß, daß dieses Morgen keinerlei Bedeutung für ihn hat: Das Morgen („mañana“) ist eine Form des Vergessens.

Er hängt an seinem Land, aber diese Zuneigung ist zwiespältig. Wenn er im Ausland ist, bringen ihn die Zauber der Ferne dazu, seiner Heimat fern zu bleiben, obwohl er in seinem Innern stets die verlockende Hoffnung nährt, eines Tages zurückzukehren: eine Rückkehr, die im allgemeinen nicht stattfindet oder erst, wenn die unpopulären Glocken zu läuten beginnen, die das Nahen des Todes ankündigen. Das Land ist für den Nikaraguaner nicht nur der Ort, den er seine Heimat nennt, das mit einer Nationalität und einer Identität gestempelt ist. Das Land ist ein verzaubertes Gefängnis. Das Land ist die Geschichte und seine Vergangenheit. Aber das Land ist auch die Erinnerung an einen Raum und eine Zeit, getränkt von Namen und bevölkert von Personen; von Schulen, Festen oder Messen oder Versammlungen, von gelesenen Büchern; von angesammelten Erfahrungen, gewesenen Illusionen, einem ganz bestimmten Haß oder einer unbeherrschbaren Leidenschaft oder genossener oder gefürchteter Geheimnisse. Im Heimatland eines Jeden befinden sich die Wurzeln der angenehmen und der verabscheuten Aromen seiner Erfahrung. Dort entwickelt sich sein Geschmack. Sein Land ist die Tradition, die jeder bewußt oder unbewußt überall mit hinnimmt: Dogmen, Riten, Gebräuche, Denkformen und Lebensweisen, die Art zu lieben und zu vergessen und die Liebe und das Vergessen zu leben, die Art, die Zeit zu durchlaufen und alt zu werden, und überhaupt die Auffassungen über Leben und Tod. Das Land ist eine Glaubensform oder ein geheimnisvoller und unbekannter Gott, der die Leute quält und keine Ruhe gibt, weil er in allen Ecken ist und die begangenen Sünden zählt, oder der Teufel, Herr eines Paradises angenehmer Visionen. Der Nikaraguaner mag das Land verfluchen oder hassen, aber das Land beugt sich ihm nicht und macht keine Zugeständnisse, es gibt ihm keine Chance, sich seiner zu entledigen. Das Land ist mehr als ein Bild, es verfolgt ihn wie ein Gespenst. Für einen Nikaraguaner ist es typisch, häufig an den Tod zu denken. Er hat dem Tod verschiedene Gestalten gegeben und verschiedene Namen: so zum Beispiel Totenkopf, Sensenmann, Äffin, die behaarte Hand usw. Der Tod wird nicht als etwas Übernatürliches angesehen, und man hat keine Angst vor ihm. Das Thema Tod ist kein Tabu für den Nikaraguaner; es ist im Gegenteil ein bevorzugtes Thema. Der Tod hat einen festen Platz in der nikaraguanischen Kultur. Er ist in Legenden, Erzählungen, Geschichten, Romanzen und Liedern präsent. Der Tod ist ein Teil der Tradition des Landes.

Der Nikaraguaner ist ein Familienwesen. Er bleibt an seine Familie gekettet, auch wenn er von ihr getrennt ist durch Entfernungen oder durch unterschiedliche politische Überzeugungen. Die Familie kann eine Barriere gegen das Überschreiten bestimmter Grenzen sein, oder auch eine unerschöpfliche Quelle der Inspiration; sie ist ein Alptraum oder ein Ort des Friedens. Auf jeden Fall ist sie mehr als ein Bild oder ein Begriff: sie ist der Anfang und das Ende. Die Familie ist im Land verwurzelt, so wie das Land in der Familie verwurzelt ist.

Die Geschichte Nikaraguas ist eine Geschichte von Kriegen, eine Geschichte von Diktatoren. Der erste Präsident der republikanischen Epoche war Don Frutos Chamorro (1853-1855). Er war gleichzeitig der erste Diktator. Das von ihm eingeführte politische System stärkte vor allem seine eigene Positionen und führte 1855 zum Bürgerkrieg.

Don Jose Santos Zelaya (1893-1909) war weder ein einfacher noch ein gewöhnlicher Diktator. Wahrscheinlich versuchte er, ein Robespierre auf der heißen Erde seines Landes zu sein. Don Jose wollte das Land durch Gesetze verändern. Er suchte finanzielle Unterstützung für die ökonomische Entwicklung in Europa und in Japan. Aber die Yankees machten ihm Schwierigkeiten. Eines Tages stieß man ihn von seinem bequemen Präsidentensessel herunter. Die Yankees hatten ihn entmachtet. Andere versuchten sich in der Rolle des Diktators, hatten aber kein Talent dazu. Sie waren nicht mehr als Caudillos [1], wie etwa Don Emiliano Chamorro, der ein besonderer Fall in der Geschichte des Landes ist: Emiliano Chamorro ernannte sich 1925 selbst per Staatsstreich zum Präsidenten. Wohl blieb er es nicht sehr lange, denn auf amerikanischen Druck mußte er schon im Jahr darauf zurücktreten. Aber er war der sympathischste und komischste Caudillo, den das Land je hatte.

Auch Cesar Augusto Sandino war kein Diktator. Es war sein Geschick, keiner zu werden, denn ein Zufall versperrte ihm den Weg. Dieser Zufall war der Krieg von 1926, und sein Schicksal war es, zum antiimperialistischen Caudillo aufzusteigen und gegen die Yankees zu kämpfen, die die Erde seiner Heimat befleckten. Ich frage mich, was geschehen wäre, wenn Don Cesar Augusto Sandino auf den Präsidentensessel gelangt wäre. Möglicherweise hätte er sich nicht von den Männern unterschieden, die in der Präsidenten-Residenz wohnten. Vielleicht wäre er auch ein Diktator geworden, denn letztendlich war er ein Mann seiner Zeit und seines Landes.

Anastasio Somoza Garcia (1936-1956), der Alte, wie man den ersten Somoza gewöhnlich nannte, Gründer der Somoza-Dynastie, war ein überaus lächerlicher Diktator – der unkultivierteste, der Nikaragua je regiert hat. Sein erstes, letztes und einziges Argument war gewöhnlich eine Kugel für seinen Gegner. Schließlich fiel er seinem eigenen Gesetz zum Opfer: Er wurde auf einer Party erschossen.

Don Luis Somoza Debayle (1956-1963), Sohn des alten Somoza, war Diplomat, Politiker und Diktator in einem. Er soll an Völlerei gestorben sein. Manche wollen wissen, daß er einen riesigen Teller Reis mit Garnelen hinunterschlang und daß sein Magen dabei zum Teufel ging. Andere behaupten, daß „Tachito“ (Spitzname für Anastasio Somoza Debayle), der jüngere Sohn des „Alten“ Somoza, seinen Bruder vergiftete.

„Tachito“ Somoza (1967-1979) war ein Diktator von unbeschreiblicher Grausamkeit. Er galt als Psychopath – seine Armee brachte gnadenlos tausende Unschuldige um. Als er vom Volk besiegt wurde, floh er nach Paraguay, aber sein Schicksal holte ihn dort ein. Eine Panzerfaust traf sein Auto und beendete das Leben des Diktators auf einer Straße in Paraguay. Das nikaraguanische Volk hatte den Diktator überwunden und eine Partei übernahm die Macht. Eine Partei mit einer „Nationalleitung“, die aus neun Mitgliedern bestand und damit genau die Stärke einer Baseballmannschaft auf dem Spielfeld hatte. Die neun (1979-1990) wandten sich gegen die Tradition der Caudillos, aber sie kamen selbst als Halbgötter daher und bedienten sich einer hochmütigen Sprache, letztlich der Sprache der Caudillos. Und sie begannen, ihre Toten zu kanonisieren. Am Ende unterschieden sie in nichts von den vorherigen Caudillos. Und wenn man nun nicht länger auf die Bibel schwor, so leistete man den Eid stattdessen auf die Bücher des Marxismus-Leninismus. In Nikaragua wiederholt sich die Geschichte. Jeder Politiker möchte entweder Caudillo oder Diktator sein.

In Nikaragua bestätigen die Literaturzeitschriften und die Leute immer wieder, daß einhundert Prozent der Nikaraguaner Gedichte schreiben. Nikaragua ist das einzige Land der Welt, wo selbst die Analphabeten Dichter sind: sie schreiben ihre Gedichte nicht eigenhändig, sondern sie diktieren sie einer gebildeten Person ihres Vertrauens, die sie dann aufschreibt. Ein bekanntes nikaraguanisches Sprichwort sagt: Jeder Seufzer ist ein Gedicht. Die Dichtertradition der Nikaraguaner begann mit Don Rúben Darío. Seit Rúben Dario ist jeder Nikaraguaner ein zweiter Dario und alle späteren Dichtergenerationen – das heißt alle späteren Generationen von Nikaraguanern – haben Dario im Tempel der Poesie gehuldigt. Sie haben ihm auf dem Opferaltar im Tempel der Poesie ihren Tribut gezollt und ihn immer wieder als Vater der nationalen Literatur bestätigt. Der nikaraguanische Tempel der Poesie sind die Märkte und die Straßen des Landes, der Ort, wo die Sprache der Nikaraguaner am lebendigsten ist. Die nikaraguanische Sprache ist sowohl außerordentlich bildhaft als auch überaus vulgär (mit jedem dritten Wort beschimpft man jemanden als Hundesohn oder wünscht ihn zum Teufel).

Don Rüben Dario hat in Nikaragua eine doppelte Vaterrolle: er ist nicht nur der Vater der Literatur, sondern außerdem der Vater des Vaterlandes. Das Vaterland gab es zwar schon vor Dario, aber es hatte keinen Vater. Die Vaterrolle bekam Dario einstimmig nach seinem Tod zugesprochen, von den politischen Gruppen, den Abenteurern, den religiösen Vereinigungen, den atheistischen Sekten, dem Klub der Heuchler, den Freimaurern, den Herrensöhnchen, der Geheimorganisation der Schwulen und Lesben und anderen Mitgliedenern verschiedener Kreise der nikaraguanischen Gesellschaft: alles Staatsbürger und Dichter. Die Regierungen und die Leute pflegen sich ihrer Literaten und ihrer Helden erst dann zu erinnern, wenn sie bereits im Sterben liegen oder diese Welt schon verlassen haben. Don Rüben Dario verbrachte einen großen Teil seines Lebens unter erheblichen ökonomischen Zwängen, und in seiner Heimat war sein Ruhm als Zecher und Frauenheld zu Lebzeiten größer als sein Ruhm als Barde, aber als er starb, weinte das Volk Krokodilstränen.

Das Leben Darios hatte dramatische und gleichzeitig fantastischen Züge. Das Drama und die Phantasie verließen ihn nicht einmal auf dem Totenlager: in seinem letzten Alptraum sah er, wie sein Körper aufgeschnitten wurde und man sich um seine Eingeweide stritt. Sein Alptraum war mehr als ein Traum oder eine Vision: er wurde Wirklichkeit. Als der Leichnam noch warm war, nahm ein Doktor Debayle eine Autopsie vor: er entfernte die Leber „von weißer Farbe und harter Konsistenz“, das Herz, das „Ansätze von Fett aufwies“, die Lungen die „gesund“ waren, und die Nieren, die „dreißig Jahre lang Alkohol ausgeschieden hatten“. Am nächsten Tag entnahm der Doktor Debayle das Gehirn: er glaubte, weil er die Operation vornahm, gehöre es ihm, und er verschwand damit auf die Straße. Ehe er jedoch bei seinem Haus anlangte, nahm ihn die Polizei fest. Der Schwager Darios verlangte die Herausgabe des Gehirns. Debayle versicherte, daß das Gehirn des Barden sein Eigentum sei und forderte von den Behörden eine Untersuchung des Falles. Der schändliche Schwager Darios erklärte, daß es nichts zu untersuchen gebe: das Gehirn gehöre der Witwe, Dona Rosario, und sei eine Reliquie der Familie. Die Polizisten beschlossen schließlich, das Gehirn zur Polizeidirektion des Departements Leon zu bringen, damit der Polizeidirektor entscheide, wem es gehöre. Das Gehirn mußte mehrere Stunden im Gefängnis bleiben, den der Chef der leonesischen Polizei sah sich außerstande, einen Beschluß zu fassen: sowohl der Schwager Darios als auch der Doktor Debayle waren enge Freunde von ihm. Die Geschichte drang bis zum Präsidenten der Republik. Der fällte sein Urteil: das Gehirn gehöre der Familie. Der Bruder von Dona Rosario erhielt das Gehirn, das inzwischen zum Stadtgespräch geworden war. Böse Zungen zerrissen sich die Mäuler, daß das vermeintliche Dario-Gehirn gar nicht das richtige sei. Der Verbleib des echten Gehirns war ein Rätsel, zu dessen Lösung es im Volk drei verschiedene Versionen gab. In der ersten Version stahl Doktor Debayle das Gehirn an dem Tag, als er die Leber, das Herz, die Lungen und die Nieren entnahm, und der Streit mit dem Bruder von Dona Rosario um das falsche Gehirn des Dichters war nichts als eine Komödie, die er aufführte, um den Verdacht von sich abzulenken. In der zweiten Version vertauschte der unglückselige Schwager Darios die Gehirne – er nahm das Gehirn eines anderen Toten zuhilfe – während Doktor Debayle seine Autopsie beendete und die Schädeldecke wieder schloß. Später verkaufte er das Gehirn Darios zu einem guten Preis. Man bezweifelte, daß die Witwe eine Komplizin ihres Bruders war. In der dritten Version wurde das Gehirn Darios im Gefängnis gestohlen, und der Polizeichef schickte ein Bataillon Polizisten ins Krankenhaus von Leon, damit sie ihm von dort das Gehirn des erstbesten Toten brachten, das daraufhin dem schrecklichen Schwager Darios übergeben wurde – und das alles, um den Ruf der Polizei zu retten. In dieser letzten Version konnte man sich nicht auf den Namen des Diebes einigen: der Dieb konnte ein Mann aus dem Volk oder das Volk selbst sein. Dona Rosario bekam von ihrem Bruder das Gehirn ausgehändigt und schickte es nach Granada. Dort sollte ein anderer Arzt eine wissenschaftliche Untersuchung des Gehirns durchführen, stellte aber stattdessen poetologische Studien zu Darios Werk an. Die Familie des Dichters schenkte Doktor Debayle trotz des vorangegangenen Streits als Ausgleich Darios Herz: er erhielt es mit der Post zugestellt, und es gab eine Notiz darüber in den Gesellschaftsnachrichten der Leoner Lokalpresse. Die Familie von Dario zeigte sich nicht nur Doktor Debayle gegenüber großzügig: die Nieren des Dichters erhielt die Universität als Geschenk. Allein über den Verbleib der Lungen des Barden finden sich in den Zeitungen keine Hinweise.

Im Sommer scheint die Sonne unbarmherzig und dörrt die Felder aus. Im März und im April (den schlimmsten Hitzemonaten) hat man dauernd das Bedürfnis nach einer eiskalten Dusche. Viele Hauptstädter fahren ans Meer und lassen sich’s im salzigen Wasser Wohlsein: Wasser, in das man kackt, spuckt, pinkelt und das man manchmal auch schluckt. Die verheirateten Erwachsenen aus der Hauptstadt, die ans Meer fahren, vergnügen sich beim Schnaps an pikanten Witzen; die Jugend läßt sich nicht die Gelegenheit entgehen, am Strand herumzuknutschen und im Wasser zu vögeln (die Jungen, die keine Freundin haben, mit der sie herumknutschen oder die sie vögeln können, kasteien sich mit Blicken auf die Frauen im Bikini und onanieren sich im Meer ihre Phantasien weg); die Kinder spielen und krakeelen herum. Die Leute aus den Dörfern sagen, daß die Städter ein verdorbenes Volk sind und die christlichen Bräuche vergessen und den Anstand verloren haben: sie trinken viel Schnaps, die jungen Leute rauchen Marihuana und Haschisch; die Frauen aus der Stadt zeigen ihre Beine, und es ist leicht, sie ins Bett zu kriegen; es gibt viele Bordelle und noch mehr Schwule, und man geht am Sonntag nicht in die Kirche; die Semana Santa ist keine heilige, sondern eine sündige Woche dort, und das ist der Grund, warum es in Managua HIV-Infizierte und Aidskranke gibt, es ist eine Strafe Gottes. Die Leute aus den Dörfern beteuern, daß nach Managua zu gehen soviel heißt wie sich selbst ins Verderben zu stürzen: Managua, das ist Sodom und Gomorrha. Die Hauptstädter fahren auf die Dörfer, um sich an vergangene Zeiten zu erinnern, und um Geschäfte zu machen. Sechzig Prozent der Hauptstädter haben früher auf dem Dorf gewohnt. Die anderen vierzig Prozent (die „richtigen“ Hauptstädter) kümmern sich nicht darum, was die Dörfler sagen. Sie beschweren sich nur, daß diese nicht auf dem Land geblieben sind und stattdessen nach Managua kommen, weswegen die Hauptstadt heute einem großen Dorf gleicht. Die Hauptstädter sind sich einig, daß die Stadt keine Stadt mehr ist, sondern ein Monster.

Die Dörfer im Norden des Landes sind schön, und die Leute dort sind sehr freundlich. Die meisten Menschen in dieser Region sind hellhäutig, und viele haben Probleme mit den Zähnen, weil das Wasser aus den Flüssen und Rohrleitungen so kalt ist: es kann also passieren, daß man ein sehr hübsches, hellhäutiges Mädchen sieht und sie für eine Spanierin oder Deutsche hält, aber sie gefällt einem nur solange, bis sie beginnt zu lächeln.

Viele alte Traditionen und Bräuche sind die in den Dörfern des Nordens noch am Leben. Die Semana Santa ist solch eine lebendige Tradition, obwohl die alten Frauen und Männer behaupten, daß selbst in den Dörfern des Nordens einige gute christliche Bräuche verloren gegangen sind. Sie erzählen, daß in ihrer Zeit und in der ihrer Vorfahren – also in den Zeiten Methusalems – die Semana Santa eine tiefreligiöse Angelegenheit war. Man durfte kein Schweinefleisch und kein Rindfleisch essen, und der Beischlaf galt in dieser Zeit als Sünde, die von Gott bestraft werden würde. Heute noch werden in den Dörfern des Nordens zur Zeit der Semana Santa die Kirchen geschmückt, und die religiösen Zeremonien werden in aller Feierlichkeit abgehalten. Die Pfarrer singen zusammen mit den Kindern und den frommen Frauen und Männern Lieder und Psalmen. Die Kirchen sind die ganze Zeit über voll, und die Gottesdienste und Prozessionen sind wie das tägliche Brot. Die Gläubigen tragen die Figuren der Heiligen durch die Straßen. Vor den Kirchen versammelt sich die Gemeinde, und die Händlerinnen und Straßenverkäufer bieten ihre Waren und allerlei Krimskrams an: raspados (kleingehacktes Eis mit Sirup), enchiladas (Pasteten), Zuckerwatte, Jocotes (eine kirschähnliche Frucht), fritierten Fisch, Heiligenbildchen, Kruzifixe, Medaillons, Kerzen jeder Größe und Dicke, gesegnete Palmenzweige und Flaschen mit Weihwasser, Papstbildnisse, Aspirintabletten, Penizillinkapseln, Mittelchen gegen Durchfall und gegen Verstopfung. Die Jungen amüsieren sich, die Verliebten gehen eng umschlungen spazieren und küssen sich in dunklen Ecken. Die Alten und die Kinder vergnügen sich damit, den Clowns und den Kostümierten zuzusehen, die als Gladiatoren, Juden oder Römer verkleidet Passagen aus dem Neuen Testament darstellen. Am zufriedensten sind die Ehefrauen: an diesen Tagen geht der verheiratete Mann nicht in ein Bordell oder zur Geliebten, sondern er nimmt mit seiner Frau und den Kindern an den religiösen Feierlichkeiten teil.

Die Nikaraguaner trinken hauptsächlich Rum und Branntwein. Branntwein wird vor allem in Kneipen und billigen Lokalen verkauft. Ein „Einfacher“ oder ein „Doppelter“ wird mit einem Jocote oder einer Scheibe grünem Mango mit Salz serviert. In den alten Kneipen, wo man noch die alten Bräuche pflegt, bekommt man zu einer Flasche Schnaps einen Teller mit gallo pinto (Bohnen mit Reis), chicharrón (gebackene Schweineschwarte), fritierten Fleischstückchen und Tortillas. Rum ist das populärste Getränk. Die Männer kippen den Rum und ein Glas Wasser hinterher, die Frauen nehmen ihn als Highball, mit Wasser oder Coca-Cola. Rum ist teurer als Branntwein. Früher bekam man mit einer Flasche Rum ein richtiges Essen und ein paar Flaschen Wasser oder Cola und eine randvolle Schüssel Eiswürfel mit Zitronenstückchen. Heute, da das Leben teuer geworden ist, bekommt man dazu eine Flasche Wasser, eine Coca-Cola und ein Schüsselchen mit einigen wenigen Eisstückchen. Die Rumfabriken werben im Fernsehen und im Radio für ihre Produkte. Am meisten getrunken wird die Marke „RON PLATA“, die als „RON PLATA, der Rum für den echten Mann“ angepriesen wird. Die Leute trinken auch Bier, aber bei weitem nicht so häufig wie Rum oder Branntwein: Bier ist sehr teuer. Es wird in Bierkneipen, Restaurants und im Laden um die Ecke angeboten. Es gibt nur zwei Sorten: „Tona“ und „Victoria“. „La Tona“ geht als „die echte Nikaraguanerin“ durch die Werbung und „Victoria“ als „die Blonde mit Geschmack“. Keine der beiden Sorten taugt etwas: sie sind beide miserabel. In einigen Gebieten des Nordens trinken die Leute „cususa“ – ein Maisschnaps indianischer Herkunft, der zu Hause gebrannt wird. Es ist verboten, ihn herzustellen und zu verkaufen, aber die Bauern im Norden trinken ihn trotzdem. Cususa mit Grapefruitsaft ist ein Genuß und steht einem Highball in nichts nach.

[l] Caudillo: Autoritärer Führer einer Partei, Bewegung oder Armee in Lateinamerika. Berühmte Beispiel sind Júan Domingo Perón in Argentinien und Emiliano Zapata in Mexiko. Die Ursprünge der lateinamerikanischen Caudillo-Tradition liegen in Spanien, der letzte Vertreter dort war General Francisco Franco, der gleichzeitig ein Diktator war, aber bis zum seinem Tod vom Volk als „El Caudillo“ bezeichnet wurde, (siehe auch Quetzal Nr. 3 Lexikon)

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