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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Die Cuarteria

Aníbal Ramírez | | Artikel drucken
Lesedauer: 6 Minuten

Die Cuarteria stand in einer der Hauptstraßen des alten Viertels Boer in Managua. Sie hatte 15 Zimmer, jedes 14 Quadratmeter groß, in denen die Familien zusammengedrängt lebten. In manchen roch es nach Klosett, und sie wurden fast nie gereinigt. Fünfzehn verwahrloste Zimmer und ein fürchterliches Durcheinander von Leuten und ihren Habseligkeiten. Jeder von ihnen mit seiner Vergangenheit und Gegenwart. Alle Augenblicke gab es Streitereien, manchmal ohne jeden Grund. Teresa betrog ihren Mann mit Eustaquio. Filiberto, der Homosexuelle, machte Francisco, dem Sohn von Maria Cáceres, den Hof. Unter den Waschtrögen entdeckte man eines Abends Chimino und Chilo bei dem Versuch, sich zu lieben -beide waren gerade fünf-. In der Latrine fand man von Zeit zu Zeit einen Fötus. Wenn man den Klatschgesprächen glaubte, waren sie von Mariquita, dem Strichmädchen. Dann war da Doña Esmeralda mit ihren fünfzig Jahren, die beständig den Rosenkranz herunterbetete und zu Jesus von Nazareth betete, damit er ihre drei Enkel und Enkelinnen beschirmte.

In der Cuarteria gab es keine freien Zimmer. Wenn jemand auszog, weil er etwas Besseres gefunden hatte oder sich sogar ein Haus mieten konnte oder wenn jemand kurzerhand auf die Straße gesetzt wurde, weil er das Geld für die Miete nicht aufbrachte, nahmen sofort neue Mieter von den Zimmern Besitz-, sie begannen mit einer gründlichen Reinigung, die gleichzeitig auch die letzte für lange Zeit war: sie vertrieben vorübergehend die Ratten und metzelten die wehrlosen Kakerlaken, die sich nicht in ihre Verstecke hatten retten können, sie beseitigten die Schmutzhaufen, die sich als mageres Erbe der ehemaligen Bewohner in allen Ecken fanden. In den Waschtrögen der Cuarteria türmte sich die Wäsche in großen Haufen, grau und übel riechend. Mit dem Wasser wurde nicht gespart, ungeachtet der Anweisungen der Besitzerin, daß nichts vergeudet werden dürfe; da man das Wasser nicht bezahlte, wurde unbekümmert jede Menge davon verbraucht.

Juan Arcadio, der sich nicht mehr als einmal im Monat wusch und den selbst das Anstrengung kostete, war ein eingefleischter Anhänger des Brett- und Würfelspiels. Beim Brettspiel konnte sich nur Don Teofilo mit ihm messen, ein alter Junggeselle und langjähriger Bewohner der Cuarteria, der als Kartenabreißer im Kino Boer arbeitete. Juan Arcadio und Don Teofilo lieferten sich großartige Duelle, die die Gaffer und die Kinderschar des Viertels in Spannung versetzten: niemand konnte abschätzen, zu wessen Gunsten das Spiel ausgehen würde.

Juan Arcadio lebte lange Jahre in der Cuarteria. Er wurde dort geboren und wuchs in ihr auf. Er kannte alle Geschichten über sämtliche Bewohner, die vorübergehend oder ständig in der Cuarteria gewohnt hatten. In einem Notizbuch hatte er alle Familien und ihre Eigenarten vermerkt, ebenso, von wann bis wann sie in der Cuarteria lebten. Sein besonderes Interesse galt den zahllosen Frauen, die Jahr für Jahr dort Kinder bekamen. Den Rekord in seinem Notizbuch hielt Doña Filomena Lopez Altamirano -Gott hab‘ sie selig- die 22 Kinder zur Welt gebracht hatte. Drei Söhne und zwei Töchter Doña Filomenas wohnten in der Cuarteria, und eine der Töchter, Anastasia, kam selbst diesem Rekord ziemlich nahe: nach den Aufzeichnungen von Juan Arcadio bekam sie 17 Kinder. In das Zimmer, das er mit seiner Mutter teilte, die 1966 an Magenkrebs starb, begann er später Frauen mitzunehmen – vor allem nach nächtlichen Trinkgelagen, wo er Schluck um Schluck des von ihm bevorzugten „Ron Plata – für ganze Männer“ stöhnend vor Behagen genoß-.

Jacinta war die verführerischste schwarze Schönheit in der Cuarteria, und sie buk Tortillas an einem der Stände auf dem Boer-Markt. Sie hielt ihren Mann Nicolas aus, in den sie sehr verliebt war und für dessen Grillen und Wünsche sie sich bis zum Hals in Schulden stürzte. Folglich sah sie sich gezwungen, täglich enorme Mengen von Tortillas zu backen. Obwohl sie verheiratet war, hatte sie viele Verehrer: einer von ihnen, Marco Aurelio, verfolgte sie mit verstohlener Hartnäckigkeit. Wenn sie mit ihrem Mann Streit hatte, hörte man sie ihn gewöhnlich anschreien, daß er auf ihre Kosten lebe und sie immerhin eine begehrte Frau sei. Dann ging das Gebrüll in schmatzende Geräusche über und in das Quietschen des eisernen Bettgestells, das jede Bewegung ihrer Körper mit einem unerträglichen Kreischen quittierte.

Die Cuarteria-Kinder spielten in ihrer freien Zeit Baseball: sie waren fanatische Baseballspieler und Fans der Boer-Mannschaft, die in der Profi-Liga spielte. Manchmal vergnügten sie sich auch mit dem Kreisel oder beim Murmelspiel, oder sie gingen zur Lagune Tiscapa schwimmen. Wenn sie Langeweile hatten, führten sie Krieg gegen die Kinder eines anderen Viertels: sie attackierten sie mit Steinen oder Katapultgeschossen, die sie selbst anfertigten. Nicht immer waren sie Sieger in diesen Kämpfen.

Wenn im Kino ein Film kam, den sie sehen wollten, besuchten sie Don Teofilo und überredeten ihn, sie umsonst hineinzulassen. Das Kino befand sich auf dem der Cuarteria gegenüberliegenden Gehsteig, genau an einer der beiden Straßenecken. Dort bekam man Karten für den unüberdachten Sperrsitz ganz billig, aber es stank nach Erbrochenem und nach Exkrementen- die Logenplätze dagegen waren zwar sehr teuer, aber man konnte sich zurücklehnen, es war dunkel, und manchmal liebten sich dort die Pärchen, ohne sich von ihren Nachbarn stören zu lassen. Nur wenige der Kinder gingen zur Schule, und diese wenigen gingen sehr lustlos dorthin, so als ob sie sich einer Strafe unterziehen mußten. Die meisten von ihnen schaffte nicht einmal ein Schuljahr oder blieben immer wieder sitzen.

Das Leben ging seinen ewig gleichen Gang in lärmender Geschäftigkeit. Alles fand ein Ende in einer entsetzlichen Nacht, als der Himmel und die Erde bebten, bis die Mauern und Lehmwände der Cuarteria wie ein Kartenhaus einstürzten und ihre Bewohner in Staub und Erde begruben. Niemand vermochte sich zu retten.

Die schöne Mariquita bezahlte mit ihrem Leben für ihre Hingabe an die Männer. Auch die arme Doña Esmeralda konnte nicht rechtzeitig gerettet werden. Als man sie aus den Trümmern zog, war ihr Mund mit Erde gefüllt. Die Unbefleckte Heilige von Socorro, deren begeisterte Jüngerin sie gewesen war, konnte in ihrer letzten Stunde nichts für sie tun.

Vielleicht kam sie in den Himmel; wenn man aber Juan Arcadio Glauben schenkte, war es wahrscheinlicher, daß sie zur Hölle fuhr, denn er sagte, daß sie in ihren jungen Jahren ein richtiges Flittchen gewesen sei und deshalb später soviel betete, damit Gott ihr die Sünden ihrer Jugend vergebe. Juan Arcadio konnte sich ebenfalls nicht retten, er wurde unter einer Flut von Erdbrocken begraben, ebenso wie Teresa und ihr Mann, Eustaquio, wie Filiberto, Francisco und seine Mutter, Chimino und Chilo, Don Teofilo, Jacinta und Nicolas und all die anderen aus der alten verfallenen Cuarteria, die dem höllischen Tanz der Erde zum Opfer fiel.

(*) Cuarteria: Armenpension in Lateinamerika

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