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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Als ich ein Kind war, wollte ich irgendwann einmal nach Deutschland fahren

Aníbal Ramírez | | Artikel drucken
Lesedauer: 21 Minuten

Das Haus meines Großvaters war sehr groß, und in seiner Mitte gab es einen Innenhof, in dem ein Feigenbaum stand. So lange, wie meine Erinnerung zurückreicht, gab es diesen Feigenbaum, und ich kletterte oft hinauf und spielte dort. In das Haus meines Großvaters kam regelmäßig ein Jude. Der Jude war ein gutaussehender Mann mit einem langen Bart, welcher mich als Kind sehr beeindruckte. Er sprach ausgezeichnet Spanisch. Immer wenn er kam, kniete er vor dem Feigenbaum nieder und betete. Nachdem er sein Gebet beendet hatte, aß er einige Feigen. Und danach begann er mit uns zu sprechen, und er redete stundenlang ohne Pause. Ich weiß nicht, wie er in unser Land gekommen ist und warum. Er war einfach da, und niemand wunderte sich. Er war wie jeder andere. Er war kein Ausländer.

In meiner Kindheit und Jugend hatte das Wort „Ausländer“ keine besondere Bedeutung für mich. Die wenigen Immigranten in Nikaragua waren überwiegend europäische Juden und Chinesen. Sie unterschieden sich von uns nur dadurch, daß sie nicht korrekt Spanisch sprachen oder einen anderen Akzent hatten. Sie waren in der Gesellschaft nicht schlechter angesehen als die anderen. Die einzige Benachteiligung, die man als Bürger einer anderen Nationalität hatte, war, daß man nicht wählen konnte.

Ich erinnere mich gern an einen kleinen Chinesen, der ganz in der Nähe unseres Hauses wohnte. Die meisten Chinesen waren im Verlauf der fünfziger Jahre eingewandert. Der Chinese war arm und lebte in einer Billigpension. Seine Frau war Nikaraguanerin. Sie hatten einen Sohn und eine Tochter. Der kleine Chinese war sehr bekannt im ganzen Viertel, da er an einem Stand köstliche gebackene Wan-tangs verkaufte, und, wenn man ihn darum bat, Paprikaschoten mit einer Füllung aus Rindfleisch zubereitete. Er begann mittags gegen eins zu kochen und zu braten und beendete seine Arbeit gegen vier. In dieser Zeit füllte er zwei große Blechkisten mit Wan-tangs, die er in chinesische Gaststätten brachte. Den Rest verkaufte er im Stadtzentrum.

In Managua gab es damals sehr viele chinesische Restaurants. Sie wurden vor allem von den Biertrinkern frequentiert, denn dort bekam man das Bier schön kalt und mit einer Kleinigkeit zu essen dazu. Die chinesischen Gaststätten haben ihre Spuren in der Landesküche Nikaraguas hinterlassen – chop-suey zum Beispiel ist heute bei den Leuten in Managua sehr beliebt. Ich mochte es, dem Chinesen beim Kochen zuzusehen, er war ein Meister seines Fachs, und vor allem war alles bei ihm blitzsauber. Wenn er nach Hause zurückkehrte und durch unsere Straße kam, schenkte er den Kindern des Viertels die übriggebliebenen Wan-tangs.

Als ich ein Kind war, Mitte der sechziger Jahre, nahm ich mir vor, irgendwann in meinem Leben einmal nach Deutschland zu fahren. Für mich gab es damals nur ein Deutschland, als Kind wußte ich nicht, daß zwei deutsche Staaten existierten. Das bißchen, was ich in der Schule über Deutschland gehört hatte und das, was ich mir vorstellte, ergab ein sehr anziehendes Bild und faszinierte mich. Vielleicht hat mich die Phantasie in ihr Labyrinth entführt. In jenen Jahren zeigte man im Fernsehen Filme über den zweiten Weltkrieg. In diesen Filmen waren immer Amerikaner oder Engländer die Helden. Sie verkörperten die Gerechtigkeit und das Gute, und sie waren Supermänner mit einer Superintelligenz. Die Deutschen waren immer die Bösen und wurden grundsätzlich als dumm dargestellt. Natürlich hatte diese Darstellung mit der Ehre zu tun, die man den Siegern erwies, und mit dem Mythos, den sich diese Sieger selbst schufen. In jenen Filmen gefielen mir die meisten der dort gezeigten deutschen Frauen. Sie waren schön, groß und langbeinig, und hatten engelsgleiche Gesichter mit blauen Augen. In der Deutschen Demokratischen Republik stellte ich dann fest, daß nicht alle deutschen Frauen schön und groß und langbeinig sind, und daß auch nicht alle strahlend blaue Augen haben…

Ich hatte mehrere Gelegenheiten, ins Ausland zu gehen, aber ich habe sie nicht genutzt. Eine dieser Gelegenheiten bot mir meine Oma, die in Kalifornien lebt und mich einlud, zu ihr zu kommen. Ich sollte bei ihr wohnen und an der Universität von Los Angeles studieren. Aber die Vereinigten Staaten haben mich nie interessiert. Ich war immer der Meinung, daß dieses Land mit seinem Mangel an Geschichte und seiner Zukunftsobsession nicht gesund für den Geist ist; es fehlt ihm an Seele, und sein alles beherrschender Pragmatismus macht es inhuman.
Eine andere Gelegenheit bot sich, als ich an der Universität meiner Heimatstadt Managua arbeitete und man mit anbot, in der Sowjetunion zu promovieren. Ich lehnte wieder ab. Die Sowjetunion hat mich nie angezogen. Ich begeisterte mich für die russische Geschichte und die Klassiker ihrer Literatur, aber weiter ging mein Interesse nicht. Außerdem hatte ich mir in den Kopf gesetzt, daß, wenn ich überhaupt im Ausland studieren würde, es in einem der beiden deutschen Staaten sein müsse. Irgendwann bekam ich dann die Gelegenheit zu einem Studium in Leipzig.

Bevor ich in die DDR kam, hatte ich ein ziemlich naives Bild von diesem Land und seinem realen Sozialismus. Es war eine Vorstellung, die ich mir Anfang der achtziger Jahre mit Hilfe einiger Bücher über das Leben in der DDR und weniger Romane von DDR-Autoren gebildet hatte. Von Leuten, die schon in der DDR gewesen waren, hatte ich viel Gutes gehört.

Ich kam also im September 1984 in die DDR. Wir landeten sehr früh am Morgen in Berlin-Schönefeld. Ich erinnere mich, daß es kalt war, und daß die Straßenlampen noch angeschaltet waren. Ich hatte einen ungefähr 14 Stunden langen Flug hinter mir, nicht gerechnet eine 90minütige Pause in Gander, Kanada. Es war mein erster Flug gewesen. Auf der Strecke von Kuba nach Gander hatte es unerwartet einen Sturm gegeben, der mich nervös und hilflos machte. Ich glaube, ich werde diesen Flug nicht mehr vergessen, er war eine der schrecklichsten Erfahrungen in meinem Leben. Ich gehörte zu einer Gruppe von 45 Studenten und Aspiranten, die im Rahmen der Zusammenarbeit zwischen der DDR und der Regierung Nikaraguas in die DDR zum Studium fuhren.

Ich begann, Leipzig kennenzulernen. Mein erster Eindruck war, daß ich mich in eine andere Zeit zurückversetzt fühlte. Die Stadt schien irgendwann aufgehört zu haben, sich weiterzuentwickeln. Ihre Verwahrlosung und ihr Geruch einer alten, schlecht gepflegten Dame schienen allgegenwärtig. Leipzig glich jenen Städten, die ich aus Filmen der vierziger und fünfziger Jahre kannte. Später stellte ich fest, daß dieser Eindruck dem Charakter der Stadt nicht gerecht wurde. Oder vielleicht habe ich mich im Lauf der Zeit auch an ihr Gesicht gewöhnt. Leipzig ist für mich eine dunkle, traurige und melancholische Stadt. Meine Heimatstadt ist immer noch Managua. Dieser Stadt fühle ich mich verbunden, trotz der Entfernung und der langen Zeit meiner Abwesenheit. Sie verkörpert alle Erinnerungen meiner Kindheit und Jugend. Trotzdem habe ich Leipzig in den letzten Jahren mögen gelernt. Die Stadt ist mir nicht mehr fremd. Es ist „mein Leipzig“ geworden, in dem ich viele Straßen, viele schöne und häßliche Ecken kenne und in das ich gern zurückkomme, wenn ich ein paar Tage nicht dort war. Trotz der manchmal stickigen Luft und der bröckelnden Fassaden fühle ich mich wohl.

Eine einzigartige Erfahrung für viele Ausländer, die in die DDR zum Studium kamen, war das Erlernen der deutschen Sprache. Es war ein für jeden ganz anderes Erlebnis, und für viele blieb es wahrscheinlich unvergeßlich. Ich habe am Herder-Institut Deutsch gelernt, der zentralen Sprachbildungseinrichtung für ausländische Studenten. Das Herder-Instituts hatte zwei große, düstere Häuser in der Lumumba-Straße. Sie erinnerten mich an Häuser aus den Filmen von Alfred Hitchcock.

Ich gehörte zu einer Gruppe von 8 Studenten; die meisten von uns waren Ende zwanzig oder Anfang dreißig. Mit 25 Jahren war ich der Jüngste. Fast alle hatten zu Hause Familien, hatten einen Beruf und schon einige Jahre gearbeitet – sie kamen in die DDR zur Weiterbildung. Die Deutschkurse am Herder-Institut glichen indessen eher dem Unterricht an einer Grundschule als an einem Institut für Erwachsenenqualifizierung. Wir wurden wie Schulkinder behandelt. Der Lehrgang selbst bestand vornehmlich aus endlosem Wiederholen des Vorgesprochenen oder in der Beantwortung stereotyper Fragen. Im ersten Semester war ich sehr diszipliniert; im zweiten gab sich das. Ich stellte fest, daß ich nicht viel dazu lernte. In den ersten drei Monaten lernt man eine Lektion pro Tag; das bedeutet, 30 bis 50 neue Wörter und dazu die entsprechende Grammatik zu memorieren und die Hausaufgaben zu machen. Ich verbrachte fast meine gesamte freie Zeit über den Büchern im Internatszimmer oder in der Deutschen Bücherei und hatte kaum Gelegenheit, das Gelernte irgendwo anzuwenden. Am Ende habe ich die Prüfung des Herder-Instituts bestanden, aber Deutsch konnte ich nicht, und meine Phonetik ist heute noch ein Rätsel für viele Gesprächspartner.

In diesen 10 Monaten habe ich keine einzige Bekanntschaft mit Deutschen geknüpft, und unterhalten habe ich mich ausschließlich mit meinen Landsleuten. Ich wohnte in einem Internat, in dem nur Ausländer lebten. In unserem Zimmer waren wir zu dritt – drei erwachsene Leute, die sich nicht kannten, mit völlig unterschiedlichen Gewohnheiten und Lebensrhythmen. Nicht immer gelang es uns, alle Interessen unter einen Hut zu bringen. Im Nachbarzimmer wurde nachts oft gefeiert, und bis um 2 Uhr morgens hörte man laute Musik und Türenknallen und lärmende Betrunkene auf den Gängen. Unter den Studenten, die für die Sauberkeit der Toiletten und Küchen verantwortlich waren, hatten manche noch nie in ihren Leben einen Lappen in die Hand genommen.

Nach dem Abschluß des Herder-Instituts konnte ich in ein anderes Internat umziehen, in dem auch deutsche Studenten lebten. Dort hatte ich das erste Mal öfter mit Deutschen zu tun und konnte ein bißchen von ihrem Leben, ihren Meinungen und Problemen kennenlernen. Ich habe das als ein Art Befreiung aus der Isolierung empfunden. Vorher lebte ich zwar hier, wußte aber von dem Leben um mich fast nichts. Die ausländischen Studenten blieben unter sich und haben deswegen auch die Eigenarten des Lebens hier nur sehr langsam begriffen. Es gab auch Studenten, die später noch kaum Kontakte suchten. Das konnte die verschiedensten Gründe haben. Meist waren Hemmungen im Spiel, wenn sie ihr Deutsch als mangelhaft empfanden. Manchen fiel die kulturelle Umstellung sehr schwer. Andere hatten Probleme zu Hause, in der Familie, oder es kamen Nachrichten von dort, die sie erschreckten: die instabile politische Situation, ökonomische Schwierigkeiten, Dürren, Überschwemmungen, Hungersnöte.

Ein großes Problem war am Anfang das Essen. Das mag banal klingen, aber für jemanden, der die deutsche Küche nicht kennt und nicht gewohnt ist und ohnehin mit tausend anderen kleinen Schwierigkeiten zu tun hat, kann sich selbst so was wie das Essen zum Problem auswachsen. Es dauert eine Zeit, ehe man mit Schwarzbrot und Wurst etwas anfangen kann. Die langsame Gewöhnung an das deutsche Essen hatte zwangsläufig wahre Kochexzesse in der mit einem einzigen Herd für zwanzig Personen ausgerüsteten Internatsküche zur Folge. Jeder wollte sein landesspezifisches Essen kochen. Das endete damit, daß die letzten spätabends in die Küche gelangten, die inzwischen einem Schlachtfeld glich.

Manche meiner Landsleute nennen das deutsche Essen heute noch einfallslos und langweilig. Mag sein, daß es auch eine Frage der Bereitschaft ist, sich auf eine andere Kultur einzulassen. Als ich hier ankam, fand ich Bratwurst oder Eisbein mit Sauerkraut schrecklich, jetzt habe ich mich so daran gewöhnt, daß ich beides nicht mehr missen möchte.

In Nikaragua erlebt man die Einsamkeit im Schoß der Familie. Der Nikaraguaner empfindet das Gefühl des Verlassenseins nicht allein. Es ist die Familie als Ganzes, die diesen Eindruck empfindet. In Nikaragua war ich daran gewöhnt, von Menschen umgeben zu sein, angefangen mit meiner Familie, die zahlreich und bunt ist: eine typischen Familie der Mittelklasse, die in ihre eigenen Widersprüche verstrickt war und ihre kollektive Einsamkeit lebte. Das Wort Einsamkeit kam nur in Gedichten vor.

In Deutschland, vielleicht auch in anderen Industriestaaten, ist jeder mit sich selbst beschäftigt. Der Begriff „Familie“ wird sehr eng gefaßt und entbehrt der Unbedingtheit, die er bei uns hat. Der einzelne ist unabhängiger, ichbezogener. Viele leben im Universum ihrer vier Wände. In Deutschland fand ich eine mir bisher unbekannte Form der Einsamkeit. Es ist die Einsamkeit im eigentlichen Sinn: sich in einer Sackgasse zu befinden und weder das Wort zu besitzen, mit dem man die Gespenster der Geschichte vertreiben kann noch genügend Phantasie, um sich Bilder zu erschaffen, die sich über die Visionen der Gegenwart legen. Eine unbestimmte Einsamkeit. Eine Einsamkeit, die man betrügen, beschwatzen, weit wegwerfen möchte. Sie bedeutet nicht nur das Fehlen von Gesellschaft; sie ist ein verlassener Ort, ist Bedrückung, Freude, ein Schmerz, den man empfindet, weil ein Mensch oder viele Menschen fehlen, ein Abschied. Sie ist auch Traum, Prosa, Verlassenheit, Trennung, Vergangenheiten, Monologe, Erinnerung, Sehnsucht. Sie ist ein Gefängnis. Sie hat viele Namen.

Deutschland ist für seine Philosophen bekannt, aber in den Leipziger Bibliotheken, die als die besten Ostdeutschlands galten, da Leipzig eine lange Tradition des Buchdrucks besitzt und seine Buchmesse eine der ältesten Europas ist, konnte man die Werke großer deutscher Philosophen wie Nietzsche und Heidegger nicht finden. An ihrer Stelle standen die Werke des Generalsekretärs der Einheitspartei Erich Honecker, die von Jahr zu Jahr zahlreicher wurden, sowie zahllose Bücher von Marx, Engels und Lenin. Einer der Funktionäre der sandinistischen Jugend in der DDR war ein Philosophiestudent. Sein dringendster Wunsch war es, vor der Rückkehr nach Nikaragua das komplette Werk von Marx und Engels zu kaufen, den gesamten Lenin hatte er schon. Er setzte Himmel und Hölle in Bewegung, und am Ende veranstaltete seine Seminargruppe eine Sammlung und schenkte ihm die Bücher.

Die Welt ist immer noch dieselbe, aber ihre Physiognomie hat sich verändert. Die Worte „Wende“ und „Reform“ sind der gemeinsame Nenner der zeitgenössischen Rhetorik, sie stehen an der Spitze des jüngsten Modetrends, aber ihre Modernität ist uralt. Die Geschichte der Menschheit zeigt, daß die drängende Notwendigkeit von Wandlungen und Reformen der einzige Erzeuger von Revolten und Revolutionen ist. Die Modernität ist immer auf Pfaden gewandelt, die von Revolten und Revolutionen gesäumt waren. Die Veränderungen, die das gegenwärtige Antlitz der Welt geprägt haben, sind außerordentlich. Sie umfassen das soziale, politische und ideologische Leben. Das ist ein komplizierter und dialektisch bestimmter Prozeß: die internationalen Umbrüche haben Reformen auf nationaler Ebene bewirkt und diese wiederum haben auf die internationalen Prozesse zurückgewirkt. Dieses Phänomen setzt sich beständig fort.

Ich kam in das sozialistische Land DDR. Dieses Land gibt es nicht mehr. Auch das Land, das ich 1984 verließ, das sandinistische Nikaragua, ist heute Geschichte. Jetzt gibt es dort wie hier eine andere Regierung, andere politische Verhältnisse. Dennoch haben die Nikaraguaner sich nicht verändert: sie sind immer noch überaus unentschieden und leben in einem Meer von Zweifeln. Die Ostdeutschen glaubte ich als Leute mit bestimmten Eigenschaften zu kennen, die sich für die Verbrechen und Greueltaten des Zweiten Weltkriegs schämten. Das Gesicht des heutigen Ostdeutschen erscheint anders. Die Ereignisse der letzten Jahre, die Verbrechen von Rostock und Hoyerswerda und die Aggressionen gegen Fremde in anderen Städten erzeugen eine lähmende Angst.

Früher waren die meisten Ausländer in der DDR entweder Studenten oder Gastarbeiter. Die Mehrheit von ihnen kam aus der sogenannten Dritten Welt. Der Staat gewährleistete ihre soziale Absicherung. Heute hat sich der Kreis derer, die nach Deutschland kommen, erheblich vergrößert. Sie kommen auf eigene Gefahr, und häufig mit riesigen Illusionen. Zu den zahlreichen Asylbewerbern aus Problemregionen der Erde gesellen sich jene, die sich von einer Auswanderung aus anderen europäischen Staaten nach Deutschland einfach ein besseres Leben versprechen. In Ostdeutschland treffen sie auf eine Bevölkerung, die sich seit der Wende mit einer gravierenden Erschütterung aller bisher gültigen Normen und Werte konfrontiert sieht.

Als sich die Vereinigung der beiden deutschen Staaten abzuzeichnen begann, rechneten wohl nur wenige mit den sozialen Belastungen, die heute einen großen Teil der Menschen hier betreffen. Viele glaubten, mit einer guten Ausbildung oder langjähriger Berufserfahrung könne ihnen nichts passieren. Was dann wirklich eintrat – Massenarbeitslosigkeit, die Schließung vieler Betriebe und die generelle Abwertung ostdeutscher Ausbildungsprofile und Kenntnisse – stellte eine tiefe Verunsicherung für die Leute im Osten dar. Verunsicherung produziert Hilflosigkeit, diese wiederum Aggressionen. Und es sind nicht zuletzt diese Aggressionen, die die Asylbewerber heute zu spüren bekommen. Damit können zwar unmenschliche Reaktionen gegenüber Fremden nicht gerechtfertigt werden, aber diese Faktoren müssen bei der Beurteilung der Fremdenfeindlichkeit auch mit bedacht werden.

Der Haß einiger Gruppen gegen Ausländer ist nicht allein ein ostdeutsches Phänomen. Er ist ein Problem sowohl ganz Deutschlands als auch anderer europäischer Länder. Dabei spielen die kritische weltwirtschaftliche Situation und der seit den achtziger Jahren wiederaufblühende Nationalismus eine große Rolle.

Nationalismus wird zum Problem, wenn er einen imperialistischen Charakter annimmt wie Anfang der dreißiger Jahre in Deutschland, wo er schließlich zum Ruin des Landes führte. Einige Völker zeigen den starken Drang, ihr Nationalgefühl herauszustellen, um sich von anderen Völkern abzuheben und sich ihnen gegenüber aufzuwerten: diese Verhaltensweise ist Ausdruck eines Minderwertigkeitskomplexes. Ich fühle mich als Nikaraguaner nicht schlechter und nicht besser als andere. Sätze wie „Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein“ finde ich unerträglich. Genauso unerträglich wäre mir solch ein Satz aus dem Mund eines Franzosen oder eines Mexikaners oder Nikaraguaners. Ein Land ist wie ein Politiker – es hat immer auch Flecken auf seiner Weste.

In meiner persönlichen Erfahrung stellte ich fest, daß ich in erster Linie Lateinamerikaner bin und erst danach Nikaraguaner. Wenn man im eigenen Land lebt, sieht man alle Dinge sehr einseitig, es fehlen der weite Horizont und das Überblicksdenken, obwohl man vielleicht eine umfassende Bildung genossen hat; das eigene Land erscheint als der Mittelpunkt der Welt. In diesem Licht ist der Lateinamerikanismus nicht mehr als eine sehr weit von der Realität entfernte Vision und eine heuchlerische Haltung der politischen Führer Lateinamerikas.

Lateinamerikaner zu sein bedeutet nicht nur, auf diesem Kontinent geboren zu sein und dort gelebt zu haben oder zu leben, nicht nur, dieselbe Sprache zu sprechen, das Spanische, mit all seinen verschiedenen Regionalismen und Intellektualismen. Es erschöpft sich auch nicht darin, eine ähnliche philosophische und poetische Lebensauffassung – unabhängig von einer optimistischen oder pessimistischen Grundhaltung – zu haben. Lateinamerikaner zu sein ist weder eine Überzeugung noch ein Glaubensbekenntnis. Es ist eine Haltung und eine Handlungsweise. Es ist Rhythmus, Passion und Tradition. Es ist Sein; Anfang und Ende. Wir sind das Produkt zweier Traditionen, die sich bestätigen, die sich ausschließen und die zusammenleben, trotz mancher Extravaganz.

In Deutschland habe ich den realen Kontext des Wortes „Ausländer“ kennengelernt. Ausländer aus einem armen Land zu sein ist anders, als wenn man aus Westeuropa oder Australien oder Japan, den USA oder Kanada kommt. Es ist demütigend, wenn man in eines der Länder Westeuropas einreisen möchte und sich in die „andere“ Schlange an der Paßkontrolle einreihen muß. Man wird kontrolliert, als ob man ein Terrorist wäre, und man wird angeschaut wie ein Krimineller. Immer, wenn ich gefragt wurde, ob ich als Ausländer belästigt worden bin, habe ich dies verneint. Es gab Gelegenheiten, wo ich das Gefühl hatte, daß Leute mich wie ein seltsames Tier betrachteten. Es hat mich nicht gestört, in jeder Gesellschaft gibt es Ignoranten oder Dummköpfe oder ignorante Dummköpfe. Die einzige Form allerdings recht subtiler Diskriminierung als Ausländer erlebte ich noch in den Zeiten der DDR, und sie sagt eher etwas über die Paranoia des damaligen Systems aus als über die Haltung gegenüber Ausländern. 1986 verbrachte ich viel Zeit in Berlin, weil ich dort zu dieser Zeit eine Freundin hatte. Sie hatte in Leipzig Politische Ökonomie studiert und begann danach an der Gewerkschafts-Hochschule als Lehrerin zu arbeiten. Dann nahmen meine wöchentlichen Berlin-Reisen ein für uns beide unerwartetes Ende. Meine Freundin bekam eine Aspirantur an der Hochschule angeboten unter der Bedingung, daß sie sich von mir trennte. Sie sollte als ein zuverlässiger Kader der SED „herangebildet“ werden. Sie entschied sich für diese Karriere, und so fand ich mich eines Abends mit drei Koffern auf dem Lichtenberger Bahnhof und auf dem Weg zurück nach Leipzig.

Ich weiß, daß ich Lateinamerikaner bin, nikaraguanischer Nationalität und in Deutschland ein Ausländer. Ich weiß auch, daß ich in meinem Land mittlerweile ein Ausländer bin. Die beiden Male, als ich in den letzten zehn Jahren in Nikaragua war, habe ich mich dort so gefühlt. Nikaragua ist mein Land und ist es auch nicht. Das Land ist ein verzaubertes Gefängnis; dort sind die Wurzeln der angenehmen und der unangenehmen Aromen der Kindheit, die Wurzeln der erträumten und der verabscheuten Gerüche; die Tradition, die ich bewußt oder unbewußt überall mit hinnehme. Es ist mein Glaube und mein Gespenst. Es hat sich in eine Erinnerung verwandelt, wie die unvergeßliche Geliebte, mit der man schöne und schreckliche Zeiten durchlebt hat, und von der man gleichzeitig weiß, daß sie nicht die vom Schicksal Bestimmte war.

Einige Male habe ich Leute sehr verächtlich über Ausländer reden hören. Und sie hatten recht mit dem, was sie sagten, denn es bezog sich auf das unannehmbare Verhalten einiger Ausländer; es ist jedoch ein Unterschied, ob man sagt „einige“ oder „die“ Ausländer. So wie es Ausländer mit schlechtem Ruf gibt, gibt es auch ebensolche Deutsche. Nassauer findet man überall. Ich kannte einen Nikaraguaner aus irgendeinem Dorf im Süden, dessen Familie in die USA ausgewandert war. Einer seiner Brüder, ein Priester, lebte in Puerto Rico. Er selbst kehrte 1983 voller revolutionärem Schwung nach Nikaragua zurück. 1984 bekam er vom nikaraguanischen Bildungsministerium ein Promotionsstipendium und kam zum Informatikstudium in die DDR. Die Deutschprüfung im Herder-Institut bestand er nur, weil man beide Augen zudrückte; den Physik-Kurs brauchte er gar nicht erst zu belegen, da die Lehrkräfte, als sie seine ersten Ergebnisse in diesem Studienfach sahen, es für besser hielten, ihn davon freizustellen. Nach dem Herder-Institut wurde er nach Ilmenau geschickt, um dort zu promovieren. Anderthalb Jahre später verabschiedete ihn die dortige Hochschule: er verbrachte neunzig Prozent seiner Zeit in Leipzig und seine Forschungsarbeit konnte man unter Null verbuchen. Er pflegte sich damit zu entschuldigen, daß die Deutschen in seiner Forschungsgruppe in Ilmenau sein Thema nicht verstünden. Als der Verantwortliche der nikaraguanischen Botschaft ihm sein Rückflugticket aushändigen wollte, nahm er es nicht an: das Ticket war nach Nikaragua ausgestellt, und er wollte eins nach Puerto Rico. Er behauptete, daß er kein Nikaraguaner sei und zeigte dem Botschaftsbeamten seinen US-amerikanischen Paß. Man konnte ihn nicht ausreisen lassen, es dauerte sechs Monate, bis sein Bruder, der Priester, ihm ein Ticket für Puerto Rico schickte. Er sprach ein Deutsch, das mit spanischen und englischen Brocken bis zur Unkenntlichkeit vermischt war – auch sein Spanisch ließ sehr zu wünschen übrig, und die Lästerzungen unter den Nikaraguanern, die Englisch sprachen, lachten über seine unnachahmliche Art, sich in dieser Sprache auszudrücken. Frauen, die nicht mit ihm ins Bett gehen wollten, pflegte er als Rassisten zu bezeichnen.

Es ist sehr schwierig, sich von Verallgemeinerungen zu lösen. Manchmal sind Verallgemeinerungen verhängnisvoll und sehr weit von der Wirklichkeit entfernt. In Gesprächen mit Deutschen hört man sehr häufig, daß die Lateinamerikaner alle viel Krach machen und die Männer allesamt Machos und Frauenhelden sind. In Nikaragua besteht die allgemeine Auffassung, blonde Frauen seien sehr freizügig und gewöhnlich auf der Jagd nach Männern. Die Wirklichkeit ist offensichtlich in beiden Fällen eine andere. Es gibt Leute, die glauben, daß Faschismus in Deutschland noch einmal möglich ist. Es gibt neofaschistische Gruppen und Gruppen von Dummköpfen, die Anlaß zur Besorgnis geben, aber sie repräsentieren nicht die Deutschen schlechthin. In Deutschland erlebt man seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine schwierige Epoche, eine Zeit der Probe für die humanistischen und demokratischen Schichten und diejenigen, welche es zu sein beanspruchen. Von ihren Verhaltensweisen und politischen Aktionen wird es abhängen, ob das neue Kapitel der deutschen Geschichte Ähnlichkeit mit der Vergangenheit haben wird. Die negativen Erscheinungen in einem Land bekämpft man nicht mit Demagogie. In Nikaragua hat man mich gefragt, ob es wahr ist, daß in Deutschland Ausländer gejagt werden. Im Ausland erscheinen Schlagzeilen über die Ausländerfeindlichkeit in Deutschland, und einige Zeitungen ziehen offen Parallelen zum Deutschland der dreißiger Jahre. Das Deutschland der dreißiger Jahre ist nicht die Bundesrepublik Deutschland der neunziger Jahre.

Leipzig – november 1993
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Die Leute aus dem Volk in Nikaragua nennen jeden hellhäutigen und blonden Ausländer „gringo“, ohne einen Unterschied zu machen, aus welchem Land er kommt. Bis kurz vor der Revolution der Sandinisten waren in der Tat alle weißen und blonden Ausländer in Nikaragua Nordamerikaner. Nikaragua hat seine Touristen immer gut behandelt, die Alten, die in ihren Wohnwagen kamen, um Urlaub zu machen, die Sektenprediger aller An, die Vagabunden und Exzentriker, die auf der Suche nach dem Sinn des Lebens oder auf Vergnügungsjagd waren, die wenigen Abenteurer und Geschäftsleute, die sich aus Liebe zu unserem Land oder zu einer Nikaraguanerin in der Heimat Darios niederließen. Alle waren sie Nordamerikaner. Jedoch war das Verhältnis zu ihnen ambivalent: sie sind immer auch ein Objekt des Spotts gewesen. In vielen pikaresken Geschichten und Volkserzählungen kommt der gringo als Spottobjekt vor. Daß der Nikaraguaner sich über ihn lustig macht, ist Ausdruck seines Minderwertigkeitskomplexes gegenüber dem Überlegenheitsanspruch des gringos. Der gringo ist, was der Nikaraguaner nicht ist und sein will, manchmal aber auch nicht sein will. Die Zukunflsobsession des gringos, die gleichzeitig sein Verderben ist, geht dem Nikaraguaner völlig ab. Der Nikaraguaner lebt in einem ewigen Konflikt mit seiner Vergangenheit – und das ist sein Verderben.

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