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Zeitgenössischer Tanz in Venezuela

Klaus Jetz | | Artikel drucken
Lesedauer: 9 Minuten

Noris Ugueto leitet zusammen mit Carlos Orta das Tanz-Ensemble „Coreoarte“ aus Caracas. Die Truppe befindet sich zur Zeit zum vierten Mal auf Europa-Tournee und hält sich hauptsächlich in Köln auf. Im August residierte sie als Gasttruppe in den Kölner Tanzprojekte/Deutz. Außer in Lübeck, Köln, Aachen und Bonn gab „Coreoarte“ bisher auch Vorstellungen in Paris, Wien, Avignon und Hamburg. Im nächsten Frühjahr stehen Aufführungen in New York auf dem Programm. Zudem wurde „Coreoarte“ nach Indien und Polen eingeladen. Dieses internationale Programm kontrastiert mit den Möglichkeiten, die sich der Kompanie in Venezuela selbst bieten. Ich sprach mit Noris Ugueto sowie Efrain Guerra, einem der Tänzer von „Coreoarte“ über „danza contemporánea“ in Venezuela sowie ihre Arbeit und die Schwierigkeiten und Aussichten der Truppe.

Noris hat die Entwicklung der „danza venezolana“ in den letzten 40 Jahren selbst durchlebt und gibt mir eine kurze Einführung in die Geschichte des venezolanischen Tanzes. Zu Beginn des Jahrhunderts gibt es nur klassisches Ballett, das vor allem von der „Folklore caraqueno“ beeinflußt und zudem eine Privatangelegenheit eines hart arbeitenden Freundeskreises ist. 1948 kommt der mexikanische Tänzer Grisk Olgin nach Venezuela und arbeitet mit Schauspielern, da es kaum Tänzer gibt. Im Gegensatz zum Theater hat sich der Tanz nicht entwickelt. Die erste wichtige Tänzerin in Venezuela ist Conchita Creredio, die einen modernen Tanzstil entwickelt und mit dem klassischen Ballett bricht. Hierbei stützt sie sich hauptsächlich auf die Arbeit der in New York lebenden Tänzer Jose Limón und Martha Graham. Conchita Creredios Arbeit ist für die Entwicklung des Tanzes in Venezuela zwar von großer Bedeutung, sie wird jedoch von niemandem beachtet. Die Tänzerinnen proben nachts in privater Atmosphäre. „Retablo de maravilla“ (Folklore) ist die erste berühmte, in Theatern auftretende Tanztruppe, die in den 50er Jahren mehrere Tourneen durch Lateinamerika und Europa unternimmt. Noch immer hat das Theater größere Bedeutung als der Tanz. Dies ändert sich in den 60er Jahren durch den tänzerischen Einfluß der an der Küste heimischen schwarzen Bevölkerung. Die Kompagnien „Sonia Sanoja“ und „Negro Ledesma“ erlangen Bedeutung in diesen Jahren und entwickeln den venezolanischen „modern dance“ fort, wobei sie sich auf die Arbeit des US-amerikanischen Choreographen Merce Cunninstiam stützen. Auch die Tänzerin Sandra Rodriguez beginnt in diesen Jahren mit ihrer Arbeit in Venezuela. Sie geht später in die USA und startet dort eine internationale Karriere. Nicht zuletzt ihrem Wirken ist es zu verdanken, daß es in den 70er Jahren auch in Venezuela zu einem „Tanz-Boom“ kommt. Zusammen mit Vicente Nebreda gründet sie das Ensemble „Ballet Nuevo Mundo de Caracas“, das allerdings seit der Trennung der beiden Tänzer von Sandra Rodriguez alleine geleitet wird. Zu einem neuen Boom des „modern dance“ kommt es durch die Gründung der Kompagnie „Danza hoy“ Anfang der 80er Jahre. Die Truppe verfügt über neue Techniken, und die Tänzerinnen kommen aus dem Ausland. Unterdessen lebt auch das klassische Ballett weiter. Zu nennen ist vor allem Hercilia López mit ihrem „ballet y contradanza“, die außerhalb Venezuelas jedoch völlig unbekannt sind. Es entstehen weitere „modern dance“-Gruppen, so z.B. die von Abelardo Gameche, einem ehemaligen Tänzer von „Negro Ledesma“ oder die Truppe um Andreina Womut mit Namen „Rajatabla danza“.

„Coreoarte“ entsteht 1983 unter der Leitung von Noris Ugueto und Carlos Orta, ehemaliger Tänzer des Folkwang-Balletts in Essen und des Netherlands Dance Theatre. Zur Zeit ist er Mitglied der „Jose Limón Company“ in New York. 1985 spaltet sich eine Gruppe von Tänzern ab und gründet „Acción colectiva“. Weitere venezolanische Kompagnien gibt es in Maracaibo: „Danza Luz“, „Macro Danza“ unter der Leitung von Nora Parisi, „Neodanza“, die bereits in Hamburg auftrat, sowie „Danza de Bellas Artes“, die sich unter der Leitung von Yasimin Villavicencio dem zeitgenössischen Ballett widmet. In Valencia arbeitet die Kompagnie „Danza contemporänea Carabobo“, in Carüpano die Truppe um Rodolfo Varela und in Merida (Universidad de los Andes) versammeln sich regelmäßig einige Studenten, ohne aber eine feste Kompagnie zu bilden.

Ich frage Noris, wie sie die Arbeit von „Coreoarte“ definiert.

Noris: Unser Tanz basiert auf bekannten Techniken, aber wir identifizieren uns mit Venezuela, der Karibik und ganz Lateinamerika. Durch unseren Tanz drücken wir aus, was wir sind: Bewohner eines Kontinents, Lateinamerikaner und Bewohner der Karibik. Ein Kontinent, wo die Geschichte sehr präsent ist, ein vor Leben strotzender Kontinent mit einer ausgeprägten kulturellen Vielfalt. Der Tango ist genauso Teil unserer Kultur wie die Salsa-Rythmen. Dieses Erbe und diese Vielfalt spiegeln sich in unserer Arbeit wider, wobei wir versuchen, einen möglichst hohen Grad an Perfektion zu erreichen. Wir wollen zeigen, daß es in der Kunst keine Unterentwicklung gibt. Wir kommen nach Europa, um zu zeigen, wer und was wir sind. Wir haben eine Menge zu sagen.

Wir wagen uns ständig an neue Projekte, was wir als eine wertvolle, aber mühsame Arbeit ansehen. Das Wichtigste sind Ausdauer und Aufrichtigkeit, sich selbst nichts vorzumachen. Was dabei herauskommt, sehen wir dann später auf der Bühne. Leider nehmen wir in Venezuela nicht die Stellung ein, die wir eigentlich haben sollten. Das ist schwierig, da es keine richtige Welt des Tanzes auf professioneller Ebene gibt. Höchstens kleine Welten. Ich habe diese ganze Entwicklung miterlebt, die kleinen Streitereien zwischen den Gruppen, den Neid und die Mißgunst. Es gibt in Venezuela zwar eine Bewegung des künstlerischen Tanzes, sie findet aber keine Verbreitung im Land. Unsere Rolle, unsere Stellung innerhalb dieser Bewegung muß noch definiert werden.

Frage: Aber ihr habt doch sicherlich Erfolg mit eurer Arbeit in Venezuela? Schließlich kommt Ihr jedes Jahr nach Europa, und die Tänzerinnen werden hier immer hoch gelobt.

Noris: In Venezuela läßt der Erfolg leider auf sich warten. Hier ist das anders. Für uns ist es einfacher, einen Auftritt in Europa zu bekommen als in Venezuela, wo das Interesse fehlt. Der Kern unserer Tänzerinnen ist uns erhalten geblieben. Viele sind von Anfang an dabei. Einige sind abgesprungen. Auf der schulischen Ebene gab es Fluktuationen. Wir haben viele Tänzerinnen ausgebildet. Dennoch ist für uns weniger die Technik wichtig, als vielmehr die Musikalität, die Körperlichkeit und die innere Einstellung der Tänzerinnen. Die reine Technik, Pirouetten ohne Gefühl sind für uns ohne Bedeutung.

Frage: Wie sieht die Zusammenarbeit auf lateinamerikanischer Ebene aus? Nehmt Ihr an Festivals in Lateinamerika teil?

Noris: Leider haben wir keine Verbindung zu Lateinamerika. Wir sind, abgesehen von Cúcuta/Kolumbien, in keiner anderen Stadt Lateinamerikas oder der Karibik aufgetreten. Auch hier gilt: es ist wirklich einfacher, nach Europa oder in die USA zu gehen als in ein anderes lateinamerikanisches Land. Ich möchte aber sagen, daß wir uns glücklich schätzen, seit einem Jahr eine Lehrerin aus Kuba in unseren Reihen zu haben. lsabel Blanco kann auf dreißig Jahre Erfahrung in kubanischem Tanz zurückblicken. Der gehört schließlich ebenso zu unserer Nationalkultur wie der Tango, Mambo und andere Tänze. Überhaupt haben Kuba und Puerto Rico, auf dem Umweg über New York, den größten Einfluß auf unsere Arbeit: ich nenne nur den Bolero, Cha Cha Cha, Son und Danzón.

Efrain: Und Perez Prado, der als Kubaner in Mexiko den Mambo entwickelte. Und nicht zuletzt der dominikanische Merengue.

Frage: Bekommt Ihr Unterstützung vom venezolanischen Staat?

Noris: Es wird zwar ziemlich viel Geld vom Staat für kulturelle Zwecke verteilt, aber es ist überhaupt nicht einfach, etwas aus dem Topf zu bekommen. Es kommt immer darauf an, ob man jemanden im Ministerium oder in einer anderen wichtigen Behörde kennt. Die Protektion ist wichtig, der sogenannte „padrinaje. Die gute oder schlechte Arbeit, die man leistet, spielt überhaupt keine Rolle. Ich glaube, Coreoarte müßte viel mehr bekommen, aber leider fehlen uns die Kontakte. Für diese Europa-Reise zum Beispiel hat man uns kaum unterstützt. Schließlich kosten uns die Flug-Tickets eine Menge Geld. Man hat uns zwar etwas bezahlt, aber nicht gratis. Ich mußte einen Vertrag unterschreiben, daß wir die Unterstützung durch acht Auftritte „abarbeiten. Diejenigen, die bessere Kontakte haben, bekommen alles umsonst. Sie leben in den besten Hotels und bekommen sogar Spesen. Wir hingegen leben hier bei Freunden, auf die wir angewiesen sind.

Frage: Wie ist die Reaktion auf Eure Arbeit in Venezuela?

Efrain: Das ist genauso wie mit der staatlichen Unterstützung.

Noris: Die Presse bestimmt im Grunde, zu welchen Auftritten das Publikum strömt. Die Leute gehen aus Prestigegründen zu kulturellen Veranstaltungen, die in der Presse hoch gelobt werden. Es gibt in der venezolanischen Presse keine ernsthaften Kritiker. Wir tanzen und tanzen und tanzen und niemand schreibt darüber. Hier ist das anders. Wir sind gespannt darauf, welches Echo unsere Europa-Tournee in der venezolanischen Presse haben wird.

Frage: Wie ist die finanzielle Situation von „Coreoarte in Venezuela?

Noris: Wir haben riesige Probleme. Besonders das Haus, das wir angemietet haben, kostet uns Monat für Monat eine Menge Geld. Wir leben und arbeiten hier. Einen Probenraum können wir uns nicht leisten. Ständig machen wir uns Sorgen um unsere Einkünfte. In Venezuela zahlt man ungern für Auftritte. Im Gegenteil: manchmal müssen wir noch bezahlen, um auftreten zu können. So ist es uns auf der Insel Margarita ergangen. Andere Gruppen, die über Geld verfügen, treten zudem gratis auf und verderben so die Preise. Auch das Publikum zahlt höchst ungern Eintritt, was bei der lange andauernden Wirtschaftskrise verständlich ist, und der CONAC (Consejo Nacional de Cultura) verteilt sein Geld, wie ich schon gesagt habe, immer an dieselben Leute. Diese Europa-Reise haben wir durch unsere eigenen Anstrengungen ermöglicht. Und manchmal erfahren wir erst einen Tag vorher, daß wir am nächsten Tag abreisen, weil es immer wieder Probleme mit den Flug-Tickets gibt. Die Wirtschaftskrise in unserem Land betrifft und beeinflußt uns alle. Immer wieder fragen wir uns, ob und wie wir überleben können. Die Krise ist aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken.

Frage: Wie erlebt Ihr den neu aufflammenden Rassismus in Deutschland?

Noris: Ich habe hier noch nichts davon gemerkt. In unserem Land bekommen wir den Rassismus eher zu spüren.

Efrain: Obwohl wir natürlich darüber informiert sind, was hier passiert ist und passiert. Die Zeitungen in Venezuela berichten darüber. Und Freunde aus Deutschland haben mir von den Morden erzählt.

Noris: Wir können uns aber nicht beschweren. In Venezuela bekommen wir keinen Tanzraum, und in Deutschland stellt man ihn uns umsonst zur Verfügung. Die Unterstützung, die wir hier erfahren, ist entscheidend für unsere Arbeit. Ende September nehmen wir an einer Veranstaltung gegen Fremdenfeindlichkeit auf dem Kölner Neumarkt teil.

Frage: Welche Pläne habt Ihr für die Zukunft?

Noris: Wir werden im nächsten Jahr wohl viele Reisen unternehmen, wenn alles gut geht. In Paris werden wir dieses Jahr noch im Theater der UNESCO auftreten. Im Oktober werde ich in die USA reisen, um eine Tournee nach New York, wo wir im Frühjahr an Universitäten auftreten werden, vorzubereiten.

Efrain: Für das kommende Jahr haben wir schon Einladungen, um in Polen und Indien aufzutreten. Außerdem werden wir wohl wieder nach Köln kommen.

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