Wir haben zwei Feinde, wir kämpfen gegen das Virus
und einen Völkermörder, der unsere Kultur nicht respektiert.i
(Dario Kopenawa, Yanomami)
So gibt es heute zwei pandemische Krisen,
die (…) besonders die Welt der Mapuche schädigen:
das COVID-19-Virus und das Kapitalismus-Virus, dessen wichtigste
Symptome Rassismus, Patriarchat,
Kolonialismus und Umweltzerstörung sind.ii
Können Sie sich an diese alarmierenden und beängstigenden Nachrichten erinnern, die im letzten Jahr durch die Medien gingen?
Drei indigene Anführer sind in Bogotá an COVID-19 gestorben.i
Peru: Indigene Anführer melden 58 Todesfälle durch COVID-19 in Shipibo-Konibo-Gemeinden in Ucayali.ii
Die Indigenen im Amazonasgebiet sterben mit alarmierender Geschwindigkeit am Coronavirus.iii
Vermutlich nicht. Die Zeiten ändern sich schnell, und von COVID-19 hören wir nun täglich viel zu viel. Da vergisst man alte Nachrichten recht schnell. Irgendwann im August 2020 verstummten diese alarmierenden Meldungen fast vollständig, nicht nur hier in Deutschland, wo sie sowieso weniger präsent waren, sondern auch in Lateinamerika. Sie verschwanden nicht völlig, doch inzwischen ist eigentlich keine Rede mehr von einer existenziellen Bedrohung der indigenen Völker, von einem möglichen Genozid. Sind wir des Alarmismus müde geworden, haben die Medien und NGOs übertrieben? War es gar nicht so schlimm? Oder sollten wir einfach einmal genauer hinsehen, wie Indigene von der Pandemie betroffen sind?
Man schätzt, dass in Lateinamerika zurzeit ca. 800 indigene Völker leben, zu denen insgesamt etwa 58 Millionen Menschen gehören.iv Als Beispiel für die Betrachtung der Folgen der aktuell grassierenden Pandemie auf die indigene Bevölkerung sollen im Folgenden die Mapuche in Chile dienen. Zum einen sind die Mapuche als kampferprobtes Volk bekannt, dass seit langem verschiedene Formen des Kampfes um Souveränität praktiziert. Zum anderen haben sie dabei im Laufe der Jahre eine gute Öffentlichkeitsarbeit entwickelt; es ist also relativ einfach, ihre Reaktion auf die Coronakrise herauszuarbeiten. Zudem macht eine Analyse des Diskussions- und Forschungsstands zum Thema Indigene in Lateinamerika und Corona deutlich, dass bei aller Unterschiedlichkeit der 800 indigenen Völker die im Zusammenhang mit der Pandemie entstandenen Probleme im Kern ähnlich sind.
Gemeinden mit einem hohen Mapuche-Anteil sind ärmer
Schon ein erster Blick auf die unmittelbaren, d.h. die gesundheitlichen Auswirkungen von COVID-19 auf die Mapuche, lässt Zweifel aufkommen, ob die Wahl dieses Volkes besonders klug war. Während man in Kolumbien, Mexiko oder Peru gute Statistiken über die Infektionszahlen und Todesfälle unter der indigenen Bevölkerung findet, geht man im Fall Chile leer aus. Man muss festzustellen, dass nur eingeschränkt epidemiologische Angaben zur Belastung der Mapuche durch COVID-19 möglich sind. Das chilenische Gesundheitsministerium (Minsal) veröffentlicht zwar regelmäßig sehr detaillierte Berichte zur Corona-Lage im Land, doch eine ethnische Differenzierung erfolgt dabei nicht. Mit dieser Praxis hält das Minsal zwar seinen eigenen seit 2017 geltenden „Technischen Standard 820“ zur Gesundheitsberichterstattung nicht ein, der auch die Variable „indigene Völker“ vorsieht, aber das schein zumindest für die Beamten nicht relevant zu sein. Indigene Organisationen brauchen die Informationen aber, um die Belastung der Mapuche durch COVID-19 zu erfassen und Maßnahmen planen zu können. Deshalb verlangen sie von den Behörden die Anwendung dieses Standards auf die Berichterstattung über Corona und fordern die Bereitstellung nichtaggregierter (noch nicht zusammengefasster) statistischer Daten. Doch wird dem nach wie vor nicht entsprochen
Es waren WissenschaftlerInnen, die die vorhandenen statistischen Daten für detailliertere Analysen genutzt haben, die das Gesundheitsministerium offensichtlich nicht erarbeiten will oder kann. Das Journal AlterNative veröffentlichte in der Dezemberausgabe 2020 eine kurze Studie mit dem Titel „COVID-19 and Indigenous peoples in Chile: vulnerability to contagion and mortality“, für welche die AutorInnen aggregierte Daten auf Gemeindeebene des Gesundheitsministeriums (Morbidität und Mortalität infolge COVID-19) und des Nationalen Instituts für Statistik INE (Volks- und Haushaltszählung) heranzogen. Sie analysierten diese Daten unter dem Gesichtspunkt des Anteils der indigenen Bevölkerung in den Gemeinden. Auch wenn die AutorInnen nicht expliziert ausführten, welche Ethnien sie genau in die Untersuchung einbezogen, so lassen die angeführten Beispiele sowie die verwendete Literatur den Schluss zu, dass sie vornehmlich Daten von Gemeinden im Wallmapu (Mapucheland) analysierten. Für die untersuchten fünf Monate nach der ersten nachgewiesenen Coronainfektion in Chile im März 2020 sind die Ergebnisse eindeutig: Je größer der Anteil der indigenen Bevölkerung in einer Gemeinde, desto stärker ist die Belastung durch Corona. Mit dem Anteil an Indigenen an der Bevölkerung steigt nicht nur die Zahl der Infizierten, sondern auch die der Todesfälle.v
Erfahrungen von Sozialwissenschaftlern in der Analyse aggregierter Daten weisen darauf hin, dass diese ebenso präzise sein können wie individuelle Daten, weshalb auch diese Ergebnisse als valide anzusehen sind. Zurzeit sind andere wissenschaftliche Analysen der Wirkung von COVID-19 auf die indigene Bevölkerung in Chile nicht möglich. Das Institut für Indigene Studien der Universidad de la frontera in Temuco folgt im Übrigen mit seiner Veröffentlichung von Infektionszahlen in Mapuche-Gemeinden, sprich Gemeinden mit einem hohen Anteil an indigener Bevölkerung, dem gleichen Prinzip.vi
Grundsätzlich bestätigt der Bericht in AlterNative bereits seit langem bekannte Forschungsergebnisse über den engen Zusammenhang von sozialer Lage und Gesundheit. Mit Blick auf COVID-19 hat eine schottische Studie diesen Zusammenhang noch einmal bestätigt. Dort stellte man fest, dass Menschen aus ärmeren Wohngegenden häufiger an Corona erkrankten und auch häufiger verstarben. Diese Menschen wiesen einen schlechteren Gesundheitszustand auf als weniger arme Menschen. Sie gingen zumeist Tätigkeiten nach, in denen Arbeiten im Home Office nicht möglich ist; was auch angesichts ihrer oft beengten Wohnbedingungen kaum möglich gewesen wäre. Zudem, so die Studie, ist in den sozial schwächeren Gemeinden in der Regel auch die Gesundheitsversorgung schlechter.vii
In Bezug auf Lateinamerika muss grundsätzlich festgestellt werden, dass der Gesundheitszustand Indigener schlechter ist, sie leiden häufiger an chronischen Krankheiten und verfügen über einen deutlich geringeren Zugang zu einer guten Gesundheitsversorgung; ganz gleich, ob sie in traditionellen Gemeinschaften oder in Städten leben. Ein kurzer Blick auf die Lebensbedingungen der Mapuche in Chile im Vergleich zu Nicht-Mapuche, unterstreicht eine grundlegende Aussage: Gemeinden mit einem hohen Mapuche-Anteil sind ärmer als andere.
- Mapuche sind häufiger von Armut und extremer Armut betroffen.
- Ihr Bildungsniveau ist schlechter und es gibt unter ihnen deutlich mehr Analphabeten.
- Ihr Gesundheitszustand ist grundlegend schlechter als der von Nicht-Mapuche. Sie leiden häufiger an zerebrovaskulären Krankheiten (die z.B. Ursache für Schlaganfälle sind) und Tuberkulose. Die Wahrscheinlichkeit, an diesen Krankheiten zu versterben, ist erhöht. Generell weisen Mapuche eine höhere (vorzeitige) Mortalität auf, d.h. ihre Lebenserwartung ist geringer.
- Die geringere Lebenserwartung ist nicht zuletzt eine Folge der deutlich höheren Säuglings- und Kindersterblichkeit; Mapuchekinder sterben viel häufiger an Bronchialerkrankungen
- Häufiger als andere Chilenen leben Mapuche unter beengten Wohnverhältnissen.
- Nicht selten verfügen sie über einen eingeschränkten bzw. gar. keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Untersuchungen zufolge trifft das auf insgesamt zehn Prozent der chilenischen Ureinwohner zu, im ländlichen Raum auf ein Drittel.viii
Diese Lebensbedingungen und Belastungen teilen die Mapuche mit der Mehrzahl der lateinamerikanischen Ureinwohner, wobei die Bedingungen in deren traditionellen Siedlungsgebieten als besonders schlecht einzuschätzen sind; im Fall der Mapuche betrifft das vor allem den ländlichen Raum von Auracanía, der ärmsten Region Chiles. Insofern ist es nicht überraschend, dass der nach der oben zitierten Studie Mapuche eine größere Vulnerabilität gegenüber dem Coronavirus aufweisen und anfälliger für eine Ansteckung und schwerer Krankheitsverläufe sind.
Hinzu kommt, dass sich die soziale Lage der Mapuche infolge der Pandemie weiter verschlechtert. Auf YouTube kursieren Videos, die zeigen, wie chilenische Polizisten gegen Mapuchefrauen vorgehen, die in Temuco ihr Gemüse verkaufen wollen. Ein Großteil der Mapuche, vor allem die Frauen, arbeitet im tertiären Sektor. Durch die Einschränkungen in der Coronakrise brechen ihre Einnahmequellen weg, womit sich die finanzielle Lage in hohem Maße verschlechtert. Die Befragten einer bereits im Mai 2020 durchgeführten qualitativen Ergebung zu den „sozioökonomischen und kulturellen Auswirkungen der Covid-19-Pandemie“ in 27 indigenen und afrochilenischen Gemeinden nannten ökonomische Schwierigkeiten als das größte Problem.ix In den Städten verlieren sie ihre Arbeitsstellen bzw. Einnahmen aus informeller Tätigkeit, auf dem Lande ist es kaum möglich, die landwirtschaftlichen oder handwerklichen Produkte zu verkaufen. Unterstützung gibt es für nur wenig; die Behörden bieten bestenfalls Gutscheine und Lebensmittelpakete sowie Kredite an.x Die Lebensmittelpakete reichen in der Regel nicht aus, die Versorgung der bedürftigen Familien zu sichern und die Kredite tragen zu einer weiteren Verschuldung der ohnehin verschuldeten Haushalte bei. Die Folge des Rückgangs der Einnahmen ist eine Reduktion in den täglichen Ausgaben, die in den ärmsten Haushalten vor allem die Ernährung, Bildung und gesundheitliche Versorgung betreffen. xi
Die Frontlinie des Kampfes liegt in der Gemeinde
Angesichts dieser Situation –allgemein schlechterer Gesundheitszustand, überfüllte Haushalte, eingeschränkter Zugang zu sauberem Wasser– muten die allgemeinen Ratschläge des chilenischen Gesundheitsministeriums zumindest wirklichkeitsfremd an, mit der Lebenswirklichkeit in den indigenen Gemeinden haben sie wenig zu tun. In beengten Wohnverhältnissen kann man den geforderten Abstand von einem Meter ebenso wenig einhalten, wie man sich ohne Zugang zu Wasser regelmäßig die Hände waschen kann.
Diese allgemeine Ignoranz verweist auf einen Aspekt, der ebenfalls zu einer stärkeren Belastung der Mapuche durch COVID-19 beiträgt: die Nichtbeachtung ihrer kulturellen Bedürfnisse. Die Kultur der Mapuche unterliegt, ebenso wie die anderer indigener Völker im Land, einer starken Marginalisierung, sie wird gegenüber der chilenischen „Leitkultur“ als rückständig und minderwertig abgewertet. Diese Missachtung wird vor allem jetzt bei den Bemühen deutlich, die Coronakrise zu bewältigen; die kulturellen Besonderheiten und Bedürfnisse der dieser Ethnie werden kaum wahrgenommen. Das beginnt bei scheinbar unkomplizierten Dingen, z.B. bei der Kommunikation über die Gefahren des Coronavirus.
Die bereits genannte Untersuchung zu den sozioökonomischen und kulturellen Auswirkungen der Pandemie stellte fest, dass mangelnde Information über das Virus und seine Folgen für die Befragten ein großes Problem darstellt. Vor allen Dingen bemängelten sie, dass z.B. die vom Minsal erarbeiteten Empfehlungen für das Verhalten in der Pandemie nicht an die Kultur der indigenen Bevölkerung angepasst, sondern im Wesentlichen einfach übersetzt wurden. xii Ein Blick auf die Homepage des Ministeriums belegt, dass sich daran bis heute nichts geändert hat. Dort findet man nur eine Broschüre in Mapudungun, der Sprache der Mapuche, zahlreiche weitere Informationsmaterialien wie Broschüren, Plakate und Videos liegen nur in Spanisch vor. Andere indigene Sprachen fehlen völlig.xiii
Wenig Beachtung bei den offiziellen Coronamaßnahmen in Chile findet auch die traditionelle soziale Organisation der Mapuche. In der Mapuchegemeinschaft wird z.B. den Alten, also der am stärksten durch COVID-19 gefährdeten Gruppe, eine besondere Bedeutung zugeschrieben. Und auch die Vorstellung von Gesundheit und Krankheit weicht von dem gängigen westlichen Verständnis ab.
Wie andere indigene Völker sind auch die Mapuche besorgt, dass Corona ihr kulturelles und soziales Gedächtnis zerstören könnte, welches durch die alten Gemeindemitglieder verkörpert wird. Die Senioren verfügen noch über ein umfassendes Wissen, das sie an die Jüngeren weitergeben müssen. Insofern gilt die besondere Aufmerksamkeit in der Pandemie den Ältesten, denn – so die Vorstellung – wenn die Alten an COVID-19 sterben, dann stirbt schlussendlich auch die Kultur der Mapuche.
Krankheit ist für Mapuche nicht einfach nur eine körperliche Beeinträchtigung, sie ist nicht zuletzt auch ein Zeichen für eine gestörte Harmonie zwischen den Menschen und ihrer Umwelt, der sozialen ebenso wie der natürlichen (und nicht zu vergessen, der übernatürlichen). Und auf COVID-19, das als Wigka-Kuxan, als eine Krankheit der Weißen, angesehen wird, trifft das in besonderem Maße zu. Kolonialisierung, Diskriminierung und Marginalisierung durch den chilenischen Staat sowie veränderte Lebensgewohnheiten haben das Leben der Mapuche grundlegend verändert, es ist also in erster Linie auch wichtig, das verlorene Gleichgewicht wieder herzustellen.
„Das Wort vñfitun als Verb bedeutet schaden, infizieren. (…) Vñfitun oder ünfitun … wird verwendet, wenn es eine Handlung gibt, die dem anderen schadet, sei es seiner Gesundheit, seiner Umwelt, seinen Ernten oder den Tieren (…) (Wir sind) uns einig, dass die Koranavñfi-Krise nicht nur biologisch, sondern auch systemisch ist. Um ihr zu begegnen, müssen wir nicht nur COVID-19 bekämpfen, wir brauchen auch mehr Gemeinschaft und Paradigmen, die den Wert des Menschen vor den der Wirtschaft stellen, mehr Wertschätzung der Natur in ihrer Wechselbeziehung mit dem Menschen, mehr Rechte für die Menschen, vor allen Dingen das Recht auf Wasser, auf öffentliche Gesundheit …“xiv
Dass die Mapuche in stärkerem Maße von Corona betroffen sind, hat also in ihrem Verständnis nicht einfach mit dem grassierenden Virus zu tun, sondern mit ihren Lebensbedingungen, die von Deprivation, gesellschaftlicher Marginalisierung, Diskriminierung und Umweltzerstörung geprägt sind. In den Gesundheitswissenschaften kennt man das Konzept der Salutogenese, das dem der Mapuche nahe kommt. Ein Kampf gegen die Pandemie heißt also auch immer Kampf für ein besseres Leben, Anerkennung und Souveränität. „Dies sind Moment, in denen wir unser Recht auf Gesundheit, indigene Medizin und Ernährungssouveränität vereidigen.“xv
Die Mapuche fordern die Anerkennung ihres traditionellen medizinischen Wissens ein, doch die Umsetzung eines interkulturellen Gesundheitsmodells bleibt die Ausnahme und ist auf das Interkulturelle Krankenhaus Makewe beschränkt, in dem unter der Verwaltung einer lokalen indigenen Organisation Mediziner, Machis und Gütamchefe zusammenarbeiten.
Die Forderung nach einem Recht auf Wasser und Ernährungssouveränität verweist auf die prekäre Umweltsituation in ihren Siedlungsgebieten. Der Kampf der Mapuche um ihr angestammtes Territorium ist zunehmend ein Kampf gegen die fortschreitende Zerstörung der Umwelt. Die Nutzungsrechte für Wasser sind in Chile weitgehend privatisiert. Dies und die Verschmutzung des Wassers und der Böden haben viele Gemeinden von einem Zugang zu sauberem Wasser abgeschnitten und lassen in einigen Gemeinden auch keine Landwirtschaft mehr zu.
Und es scheint, dass die Pandemie genutzt wird, diese Entwicklung weiter voranzutreiben. Während das gesellschaftliche Leben in Chile lahm liegt und insbesondere die Indigenen ihrer Erwerbstätigkeit nicht mehr nachgehen dürfen, gelten Quarantäne und Arbeitsverbote interessanterweise nicht für die Bergbauunternehmen. Im Gegenteil, Rohstoffunternehmen reichten im letzten Jahr verstärkt Anträge zur Prüfung beim Umweltprüfdienst (SEA) ein, der im Übrigen bereits im März mit Verweis auf die Quarantäne die Umweltverträglichkeitsprüfungen und damit die Bürgerbeteiligung ausgesetzt hatte. Die Mapuche befürchten eine Ausweitung der extraktivistischen Tätigkeiten.
Es ist an der Zeit, selbst auf uns aufzupassen – Maßnahmen gegen die Pandemie
Der Rückgang der alarmistischen Meldungen in den Medien im letzten Jahr könnte auch darauf zurückzuführen sein, dass, so verheerend das Virus auch wütet, die befürchtete Katastrophe nicht wie vorhergesagt eingetreten ist. Ein Grund dafür dürfte sein, dass die indigenen Völker auf dem ganzen Kontinent ihrerseits auf ihre je spezifische Weise auf die Bedrohung reagiert haben. Sehr schnell nach Ausbruch der Pandemie ergriffen sie eigene Maßnahmen, um sich zu schützen. Dabei konnten sie auch auf jahrhundertalte Erfahrungen im Umgang mit von den Konquistadoren eingeschleppten Krankheiten zurückgreifen.
Zu den ersten Maßnahmen, die auch in Wallmapu ergriffen wurden, gehörte die Einrichtung eigener Quarantäne-Gebiete. Verschiedene Gemeinden errichteten barreras sanitarias (Gesundheitsbarrieren), die den Zugang Ortsfremder, vor allem von Touristen, und damit die Verbreitung des Virus verhindern sollten. Das entsprach nicht immer den Vorstellungen der Behörden und in einigen Fällen, so in Lonquimay, kam es zur Verhaftung von Aktivisten. Infolge der offiziellen Quarantänebestimmunen und des Bestrebens der Mapuche, bei der Bewältigung der Krise selbstbestimmt zu agieren, wurde die Militarisierung im Wallmapu eher noch verstärkt. Die Regierung will nicht zuletzt die wirtschaftlichen Aktivitäten in der Region schützen. Während der Pandemie hat auf dem gesamten Kontinent die Gewalt gegen indigene Gemeinschaften zugenommen. Die Indigenen werden als Hindernis für legale und illegale wirtschaftliche Aktivitäten angesehen; und während die verschiedenen wirtschaftlichen Akteure unter dem Schutz der Quarantäne weitgehend ungehindert agieren können, haben die Indígenas aus den gleichen Gründen keine Möglichkeit zum Protest. Eine Kriminalisierung dieses Protestes ist auch gegenüber den Mapuche festzustellen.
Neben den barreras sanitarias wurden auch Gemeinschaftsquarantänen, trawün, ausgerufen. Die Gemeinschaften verteilten Lebensmittelspenden und richteten „soziale Tische“ ein, um sich über die Folgen von
Corona zu informieren und Hilfen zu abzustimmen. Unter Einhaltung der Hygienebestimmungen organisierte man „gemeinsame Töpfe“ zur Essensversorgung Bedürftiger, zudem organisierten die Gemeinden untereinander den Verkauf von Waren. Ein Schwerpunkt der Gemeindearbeit lag in der Organisation des gemeinschaftlichen Lebens unter Pandemiebedingungen.
Weiterhin spielen die Öffentlichkeitsarbeit und die Information der Bevölkerung über Maßnahmen und Entwicklungen im Mapuchegebiet eine große Rolle. Auf das Defizit aufgrund der unzureichenden Information über das Virus durch die Behörden reagierten die Mapuche bereits im März 2020 und erarbeiteten einen eigenen Aufruf zur Information über die wichtigsten Verhaltensregeln in Spanisch und Mapuche, der auch im Radio ausgestrahlt wurde.xvi Darüber hinaus wurden die Kommunikationsmöglichkeiten über die sozialen Netzwerke ausgebaut, auf Facebook gibt es inzwischen Online-Konzerte, poetische und Radioprogramme auf Mapudungun, die helfen können, die Isolation durch die Quarantäne zu durchbrechen. Wobei an dieser Stelle darauf hingewiesen sei, dass diese Angebote vor allem Jüngere erreichen dürften, da meist nur sie über die technischen Mittel und Fähigkeiten verfügen.
Eine nicht unwesentliche Rolle in der Informationpolitik spielt das Kommunikationskollektivs Mapuexpress, das seit 20 Jahren über Mapucheangelegenheiten berichtet und somit auch Informationen aus verschieenen Quellen bündelt. Auf der Website von Mapuexpress spielt Corona mittlerweile eine wichtige Rolle.
Unter dem Namen Mapeando el Coronavirus en Wallmapu (Das Coronavirus im Mapucheland kartieren) starteten die Mapuche zudem ein Informationssystem, das den Umgang mit der Coronakrise unterstützen soll. Damit entwickelten sie ein eigenes regionales System neben dem auf dem ganzen Kontinent arbeitenden System Impacto de COVID-19 en territorios y comunidades de Pueblos Indígenas de América. Das Mapeando-Projekt unter der gemeinsamen Federführung von Mapuexpress und Forschern des Programms Cultura del Desastre y Gobernanza del Riesgo des CIGIDEN (Centro de Investigación para la Gestión Integrada del Riesgo de Desastres, Santiago) zielt zum einen auf die Erhebung der statistischen Daten über die Verbreitung und die Auswirkungen von COVID 19 unter den Mapuche, Daten, die wie bereits erwähnt, von offiziellen Stellen nach wie vor nicht zur Verfügung gestellt werden. Gesammelt werden sollen alle positiven und negativen Effekte der Pandemie, darüber hinaus aber auch alle Aktionen und Erfolge der Gemeinschaften in diesem Zusammenhang.xvii Damit geht dieses Projekt über eine bloße Sammlung von epidemiologischen Daten hinaus, denn es erfasst sich nicht nur die biomedizinischen, sondern auch die sozialen und politischen Aspekte der Pandemie und orientiert sich damit über diese hinaus. Die erste Veröffentlichung des Projektes im Dezember vergangenen Jahres benennt dementsprechend deutlich die weitgefassten Ziele. Um die Auswirkungen der Pandemie in ihren verschiedenen Dimensionen zu erfassen, wurden folgende sieben Kategorien gebildet:
- Territoriale Kontrolle
- Spirituelle Verteidigung
- Ernährungssouveränität
- Gesundheitserbe der Ahnen/Vorfahren
- Politische Gewalt
- Territoriale Bedürfnisse und Solidarität
- Fortschritt des Extraktivismusxviii
Die erste Zusammenfassung der erfassten Aktivitäten in der Mapucheregion weist 43 Ereignisse und Aktionen aus, von denen 13 der Kategorie Politische Gewalt, 8 der Territorialen Kontrolle, 6 dem Gesundheitserbe der Ahnen/Vorfahren und 5 dem fortschreitenden Extraktivismus zuzuordnen sind. Das Projekt wird online geführt und ruft alle Gemeinden auf, sich zu beteiligen.
Die Mapuche betonen, dass sie schon andere Wigka-Kuxan überlebt haben und sie auch diese überwinden werden. Doch schlechte Lebensbedingungen, Marginalisierung, Umweltzerstörung und rassistische Diskriminierung, von mapuexpress in guter Klassenkampfrhetorik Kapitalismus-Virus genannt, werden auch nach der Pandemie nicht verschwunden sein und nicht nur die Kultur, sondern auch das Leben der Mapuche bedrohen. Der „Aufruf an das Volk der Mapuche“ schließt vermutlich auch aus diesem Grund mit der Aufforderung, Solidarität zu üben, „insbesondere mit den Ältesten, die allein und ohne Unterstützungsnetzwerke sind, um sie mit Lebensmitteln, Medikamenten und Pflege zu versorgen. (…) Es ist an der Zeit, selbst auf uns aufzupassen, uns Kraft zu geben und uns zu verteidigen, damit wir Mapuche weiterleben können“.xix
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i https://www.spiegel.de/politik/ausland/indigene-in-brasilien-die-viren-der-weissen-a-3a404b1d-d172-4f36-9c40-00289bda0a54
ii Editorial Mapuexpress: Resistencia Mapuche en tiempos de Pandemia. https://www.mapuexpress.org/2020/07/17/editorial-mapuexpress-resistencia-mapuche-en-tiempos-de-pandemia/
i https://www.eltiempo.com/bogota/coronavirus-bogota-tres-lideres-indigenas-han-muerto-por-covid-19-527034
ii https://es.mongabay.com/2020/05/peru-pueblos-indigenas-58-fallecidos-covid-19-shipibo-konibo-ucayali/
iii https://www.amazoniasocioambiental.org/es/radar/los-indigenas-del-amazonas-mueren-por-coronavirus-a-un-ritmo-alarmante/
iv vgl. Comisión Económica para América Latina y el Caribe (CEPAL) y otros, “El impacto del COVID-19 en los pueblos indígenas de América Latina-Abya Yala: entre la invisibilización y la resistencia colectiva”, Documentos de Proyectos (LC/TS.2020/171), Santiago, Comisión Económica para América Latina y el Caribe (CEPAL), 2020. S. 13
v vgl. Millalen, P./Nahuelpan, H. u.a.: COVID-19 and Indigenous peoples in Chile: vulnerability to contagion and mortality. In: AlterNative. An International Journal of indigenous peoples. 2020, Vol. 16(4) S. 401.
vii vgl. N.I. Lone et al., Influence of socioeconomic deprivation on interventions and outcomes for patients admitted with COVID-19 to critical care units in Scotland: A national cohort study, The Lancet Regional Health – Europe (2020), https://doi.org/10.1016/j.lanepe.2020.100005
viii vgl. Ministerio de Salud, Gobierno de Chile: Perfil epidemiológico básico de la población mapuche residente en el área de cobertura del Servicio de Salud Araucanía Norte. Serie análisis de la situación de salud de los pueblos indígenas de Chile. Nº 8. Santiago de Chile 2011.
Comisión Económica para América Latina y el Caribe (CEPAL) y otros, “El impacto del COVID-19 en los pueblos indígenas de América Latina-Abya Yala: entre la invisibilización y la resistencia colectiva”, Documentos de Proyectos (LC/TS.2020/171), Santiago, Comisión Económica para América Latina y el Caribe (CEPAL), 2020.
ix vgl. Campos, L. u.a.: Los efectos socioeconómicos y culturales de la pandemia Covid-19 y del aislamiento social, preventivo y obligatorio en los Pueblos Indígenas y Afrodescendiente en Chile. Primer informe parcial. Centro de Estudios Interculturales e Indígenas, Serie Policy Papers N° 9. 2020
x vgl. Editorial Mapuexpress: Resistencia Mapuche en tiempos de Pandemia. https://www.mapuexpress.org/2020/07/17/editorial-mapuexpress-resistencia-mapuche-en-tiempos-de-pandemia/
xivgl. Impactos socioeconómicos de la Pandemia en los hogares de Chile. Resultados de la Encuesta Social Covid-19.
xii vgl. Campos, L. u.a.
xiv Loncon, E.: ¿Qué es Coronavirus para el Pueblo Mapuche? https://www.mapuexpress.org/2020/04/14/que-es-coronavirus-para-el-pueblo-mapuche/
xv Editorial Mapuexpress
xviUn llamado al pueblo mapuche frente al Corona virus/COVID-19. https://radiojgm.uchile.cl/un-llamado-al-pueblo-mapuche-frente-al-corona-virus-covid-19/
xvii Mapuexpress/CIGIDEN: Descolonizando el pandemía en el territorio mapuche: Mapeando el pandemía en Wallmapu. o.O. 2020
xviii vgl. ebenda, S.