„Übriggeblieben sind nur einige wenige elende Reste dieses ausgerotteten Volkes, und die Sieger haben sie für immer zu einem völligen Nichts gemacht.“ (Mariano Otero, 1841)
Am Neujahrstag 1994 wurde dieses harsche Urteil Lügen gestraft, wurde Mexiko von seiner Vergangenheit eingeholt, jenem „tiefen“ Mexiko, das vor allem den städtischen Mittel- und Oberschichten als begeisterten Anhängern westlicher Modernisierungsprojekte ein Dorn im Auge ist. Zu eben dem Zeitpunkt, in dem das Symbol des „modernen“ Mexiko, das Freihandelsabkommen mit Kanada und den USA in Kraft trat, erhoben sich die Maya-Bauern im mexikanischen Bundesstaat Chiapas im Süden der Republik in Waffen, um gegen den, wie es in ihren programmatischen Aufrufen heißt, an ihnen begangenen Völkermord zu protestieren und Arbeit, Land und ein besseres Gesundheits- und Bildungswesen, kurz Überlebensbedingungen, zu fordern. Das Vorgehen der Aufständischen zeigt, dass es sich nicht um die üblichen, spontanen Unmutsbezeugungen handelt, die ebenso schnell wieder zu Ende sind, wie sie begonnen haben, sondern um einen sorgfältig geplanten und durchgeführten Guerillakampf. In einigen mexikanischen Zeitungen wurde denn auch ohne Zögern von einer kriegerischen Auseinandersetzung gesprochen. Mehr als tausend militante Guerilleros soll die Bewegung zählen, von ihren Sympathisanten einmal abgesehen. (1) Seit der mexikanischen Revolution von 1910/17 habe es eine Volksbewegung derartigen Ausmaßes nicht mehr gegeben, ist die Ansicht vieler Beobachter. Die Indios von Chiapas jedenfalls knüpfen ganz bewusst an die revolutionäre Tradition Mexikos an, wenn sie ihre Bewegung „Zapatistische Nationale Befreiungsarmee“ (EZLN) nennen. Der legendäre Bauern- und Indianerführer Emiliano Zapata hat während der Revolution unter dem Motto „Land und Freiheit“ für seine Landsleute gekämpft. Zwar sieht sich bisher noch jede Regierung des Landes in direkter Nachfolge der Revolution (die herrschende politische Klasse bezeichnet sich selbst als „revolutionäre Familie“), von deren Errungenschaften ist aber für breite Bevölkerungsschichten kaum etwas in der Praxis durchgesetzt worden.
Die Regierung von Carlos Salinas de Gortari, mehr um die im August bevorstehenden Präsidentschaftswahlen als um die sozialen Probleme der indianischen Bevölkerung besorgt, reagierte zunächst überrascht, obwohl es in den vorangegangenen Monaten genug warnende Stimmen gegeben hatte. Um das Image des Landes als eines gleichwertigen Partners der nördlichen Nachbarn nicht zu beeinträchtigen oder Investoren zu verschrecken, hatten lautstarke offizielle Diskurse vom „sozialen Frieden“ und der „Solidarität“ aller Mexikaner diese Stimmen zu übertönen versucht. Angesichts des entschlossenen Vorgehens der Indianer, die den Regierenden und ihrer seit fast siebzig Jahren dominierenden Einheitspartei „der Institutionalisierten Revolution“ (PR1) bisher eher als relativ leicht zu manipulierendes Stimmvieh vertraut waren, wurde wie üblich nach den verborgenen Drahtziehern gesucht. Man machte einige in der Region tätige katholische Geistliche als Anhänger der Befreiungstheologie verantwortlich; auch Anschuldigungen fehlten nicht, die Erhebung sei von fremden Kräften aus dem benachbarten Zentralamerika gesteuert worden. Statt die bürgerkriegsähnlichen Zustände in Chiapas zum Anlass einer tiefergehenden Reflexion über das offizielle mexikanische Entwicklungsprojekt zu nehmen, das von nicht wenigen in und außerhalb des Landes als „neoliberal“ und untauglich zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Mehrheit der Bevölkerung kritisiert wird, setzte die Regierung 14 000 Soldaten gegen 1000 Rebellen ein und ließ den Aufstand auf dem Lande und aus der Luft blutig niederschlagen. Spätestens nach diesen Ereignissen dürfte der Ruf Mexikos als ruhender Pol innerhalb des konfliktgeschüttelten Subkontinents dahin sein. Ohnehin entsprach dieser Ruf nicht der Wirklichkeit der indigenen Völker.
Bleiben wir zunächst beim Beispiel Chiapas: Hier lebt eine Million Indios in dreizehn Ethnien. Nach Auskunft des Erzbischofs von San Cristóbal de las Casas, Samuel Ruiz, einem ihrer wenigen offiziellen Fürsprecher, starben 1993 15 000 an Hunger, (vermeidbaren) Krankheiten und Gewalttaten. Der Staat ist reich an Rohstoffen wie Holz und Erdöl; 35% der nationalen Kaffeeproduktion kommen aus diesem Landesteil (2); 55% der gesamten aus Wasserkraft gewonnenen Energie werden hier produziert und 20% der nationalen Stromversorgung. Dennoch gehört Chiapas zu den ärmsten mexikanischen Bundesstaaten. Nur ein Drittel der Haushalte verfügt über einen eigenen Stromanschluss, die Hälfte aller Bewohner hat kein Trinkwasser und zwei Drittel haben kein Abwassersystem. In einigen der von der Zapatistischen Nationalen Befreiungsarmee besetzten Ortschaften leben über 80% der Einwohner in völliger Armut, d.h. sie verfügen über keine oder nur minimalste Geldeinkommen.
Dieses Panorama wiederholt sich mit gewissen Variationen in anderen mexikanischen Regionen.(3) Seit den 60er bzw. 70er Jahren kämpfen die Otomís und Huastecos im Bundesstaat Hidalgo nördlich der Hauptstadt vergebens um ihr Land. Ahnlich ist die Situation für die Triquis in Oaxaca im zentralen Hochland. In dem Gebiet zwischen Oaxaca und Chiapas versuchen Mixes, Zoques und Zapotecos, sich gegen illegale Holzfäller zur Wehr zu setzen. Die elenden Lebensumstände der Tarahumaras im Norden des Landes sind nicht nur Menschenrechtsspezialisten bekannt.
Die Revolutionsverfassung von 1917, eines der fortschrittlichsten Dokumente seiner Zeit, hatte im Art. 27 die noch auf vorspanische Traditionen zurückgehenden Rechte der Bauern auf Kommunaleigentum („ejido“) anerkannt. Viele indianische Gemeinden hoffen allerdings auch nach mehr als siebzig Jahren Agrarreform immer noch vergeblich auf ihre Landzuteilung. Die Zahl der wegen Landkonflikten in mexikanischen Gefängnissen einsitzenden Indios ist überproportional hoch. Viele dieser Gefangenen warten seit Jahren auf ihren Prozess – ein nach offiziellem mexikanischen Recht völlig illegaler Zustand. Wie viele Tote es bei Zusammenstößen zwischen den Indios und den paramilitärischen Privatarmeen der Großgrundbesitzer schon gegeben hat, zählt keine offizielle Statistik.
Das rituelle Heraufbeschwören der Einheit aller Mexikaner und das explizite Versprechen einer besonderen Berücksichtigung indianischer Belange in Verbindung mit einer fast mythischen Rückbesinnung auf die vorspanischen Wurzeln der mexikanischen Gesellschaft gehören zu den rhetorischen Versatzstücken der alle sechs Jahre zum Amtsantritt gehaltenen Rede eines neuen Präsidenten. Dennoch bleibt es bei verbalen Kompromissen.
Nicht nur für die augenblickliche Regierung, sondern auch für die meisten ihrer Vorgängerinnen sind offenbar die indianischen Völker Mexikos bisher keine gesellschaftlichen Größen gewesen, die es im regierungsstrategischen Kalkül ernsthaft zu berücksichtigen galt. Die Vorgänge in Chiapas, deren mögliche Signalwirkung für viele andere Regionen des Landes man jetzt fürchtet, könnten diese Einschätzung vielleicht ändern, wobei der als Reaktion einsetzende verstärkte Zufluss von Regierungsgeldern für Prestigeobjekte langfristig kaum eine erfolgreiche Vermeidungsstrategie sein dürfte. In den politischen Machtkämpfen zwischen Konservativen und Liberalen nach der formalen Unabhängigkeit des Landes setzte sich mit dem Sieg der letzteren die juristische Fiktion von der Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz durch, unabhängig von Abstammung und ethnischer Herkunft. Gerade in dieser an sich fortschrittlichen Vorstellung, der das Bestreben nach Überwindung der auf der Rassenzugehörigkeit beruhenden Kastenordnung der kolonialen Gesellschaft zugrunde lag, wurde jedoch die Existenz der indigenen Bevölkerung und damit die multikulturelle und multilinguale Struktur des Landes verneint. Erst in einer kürzlich durchgeführten Verfassungsreform wird diese Existenz zum ersten Mal ausdrücklich und offiziell anerkannt und damit ein erster Schritt zur Überwindung eines historischen Irrtums getan.(4)
Im mexikanischen Alltag sind die indigenen Völker ohnehin immer gegenwärtig gewesen. Allerdings ist ihre Wahrnehmung durch andere häufig partiell und verzerrt. Je nach sozialer Stellung des Beobachters werden sie zum Hindernis für eine Modernisierung, zum tourismusfördernden Element, zum Gegenstand von Mitleid oder Häme, zum sozialen Störfaktor oder zum anachronistischen Überbleibsel – immer jedoch zu „anderen“. So reduziert sich indianische Existenz in den Augen vieler mexikanischer Stadtbewohner auf die Straßenverkäuferinnen, die „Marías“, die im dichten Autoverkehr, umgeben von mehreren kleinen Kindern, ein tristes und gefährliches Dasein fristen, auf ganze Familien, die, als „aztekische“ Tanzgruppen verkleidet, die Aufmerksamkeit der Vorübergehenden zu erregen versuchen, oder auf die sich selbst in traditioneller Tracht in den Touristenzentren zur Schau stellenden Indios. Kontakte besonderer Art können sich aus der Beziehung zu einem indigenen Dienstmädchen, der „sirvienta“ oder „criada“, ergeben. Direkt vom Land „importierte“ junge Mädchen gelten bei den señoras der städtischen Mittelschichten zum einen als billig und anstellig, zum anderen aber auch als hinterwäldlerisch und arbeitsintensiv, vor allem was die Einführungsphase in städtische „zivilisatorische“ Standards anbelangt. Die hier geschilderten Sichtweisen unterscheiden sich nicht wesentlich von denen ausländischer Durchschnittstouristen, so dass man zu Recht sagen kann, dass die Indios Fremde im eigenen Land (geworden) sind.
In einer mexikanischen Tageszeitung bezeichnet Marco Rascón Chiapas als das „neue Gesicht Mexikos“ geschaffen von all denen, die ein Projekt um jeden Preis, auch den sozialer Ungerechtigkeit, durchzusetzen versuchen. Vielleicht sollten wir lieber von einer der Gegenwart angepasste Form eines sehr alten Gesichts sprechen, eines Gesichts, dessen Grundzüge vor 500 Jahren entworfen wurden. So jedenfalls sehen es die Indios und diejenigen, die sich mit ihnen solidarisieren. An der Frage, wer denn die Indios heutzutage eigentlich sind, ob „Ethnie“, „Zugehörigkeitsgefühl“, „Sprache“, „soziale Klasse“, „Nation“, „nationale Minderheit“, „marginaler Sektor“, „Kaste“, „vorkapitalistische Formation“ oder andere Aspekte Bestimmungselemente sein sollen, scheiden sich heutzutage die Geister. In diesem kurzen Beitrag können wir uns nicht auf diese Diskussion einlassen. Entscheidend ist jedoch, dass es den „Indio“ erst seit der Errichtung der europäischen Kolonialherrschaft in Amerika gibt. Vorher gab es keine „Indios“, sondern Völker mit unterschiedlichen Identitäten. Den „Indio“, in dem die konkrete Vielfalt der Ethnien aufgelöst wird, schafft der Kolonisator, weil jede koloniale Situation die globale Definierung des Kolonisierten als anders und unterlegen erfordert.
Deutlich wurden diese Zusammenhänge auch für eine internationale Öffentlichkeit an der Debatte um die Fünfhundertjahrfeier der „Entdeckung“ Amerikas 1992, hierzulande bezeichnenderweise auch „Kolumbus-Jahr“ genannt! Nicht nur die indigenen Völker Mexikos, sondern des gesamten lateinamerikanischen Kontinents kritisierten die euphemistische und eurozentrische Terminologie von „Entdeckung“, „kultureller Begegnung“, „Austausch zwischen zwei Welten“ u.a. und zogen es vor, sie durch „Invasion“, „Kolonisierung“, „Genozid“ zu ersetzen. Von Genozid zu sprechen, erscheint gerechtfertigt angesichts des Todes von 80% bis 95% der indigenen Bevölkerung im Neu-Spanien des 16. Jahrhunderts als Folge der Eroberung durch die Spanier. Wer nicht ausgerottet wurde, sollte nach dem Willen der Eindringlinge assimiliert werden. Diese Doppelstrategie war nur teilweise erfolgreich. Es gelang den Indios, sich trotz des demografischen Einbruchs vom 16. Jahrhundert wieder zu erholen und – häufig unter dem Deckmantel der aufgezwungenen sozialen und kulturellen Muster – neue indigene Lebensformen zu schaffen. Ihre weißen und mestizischen Mitbürger haben in ihrer Haltung gegenüber den Ureinwohnern sehr oft keine vergleichbare historische Lernfähigkeit bewiesen: Der Bogen geschichtlicher Kontinuität spannt sich von der Verachtung gegenüber dem rechtlosem einheimischen Zwangsarbeiter der Kolonialzeit, der noch unter dem afrikanischen Sklaven stand, über die Diffamierung des Liberalen Benito Juárez als „wilder Indianer“ (5) durch seine konservativen politischen Gegenspieler und über den Rassenhass auf Mayas, Yaquis und andere rebellische Völker im 19.Jahrhundert, bis hin zu der Behauptung in einem Bulletin der Landesregierung vom Januar 1994, die aufständischen Chiapaneken seien in ihrer Mehrheit „einsprachig“, eine Sprachregelung, die in Mexiko Primitivität und Rückständigkeit suggeriert.
Was die Kolonialherrschaft begonnen hatte – die Stigmatisierung der Indios, ihre Vertreibung aus den ursprünglichen Siedlungsgebieten und die Zerstörung ihrer sozialen und kulturellen Identität – setzte sich in der Zeit nach der Unabhängigkeit von Spanien fort, häufig sogar in verschärfter Form. Ausbeutung, Landraub und aggressive Akkulturationskampagnen nahmen zu. Ausgerechnet der gerade erwähnte Präsident Benito Juárez formulierte und setzte die so genannten „Reformgesetze“ von 1857 um. Diese Gesetze verfügten die Auflösung der Indiogemeinschaften und die Privatisierung des Gemeindelandes. Die gleichzeitige Enteignung der Ländereien der Kirche ermöglichte die Anhäufung von Grundbesitz in wenigen Händen und die Stärkung des Hacienda-Systems.(6) Die Indios wurden in diesem Prozess jedoch keineswegs zu Privateigentümern und „nützlichen Bürgern“ wie es einigen der Reformer vorgeschwebt hatte, sondern mussten ihr ehemaliges Land, das jetzt zu einer Hacienda gehörte, als miserabel bezahlte, immer von Schuldknechtschaft bedrohte Tagelöhner bearbeiten.
Während die führenden Politiker des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts die Grundlagen für eine industrielle Entwicklung ihres Landes nach westlichem Vorbild schaffen wollten, über ihrem sozialdarwinistisch geprägten Fortschrittsoptimismus jedoch die Verbesserung der Lebensbedingungen für die sozial Schwächeren vergaßen oder auf später verschoben, war eine der zentralen Forderungen der Revolution von 1910/17 die nach sozialer Gerechtigkeit. Nach ihrem Sieg nahmen sich die Revolutionäre die „Rettung des Indios“ zum Ziel. Die frühere rassistische Diskriminierung machte der Einschätzung der indigenen Bevölkerung als Erbin einer ruhmreichen Vergangenheit Platz, die jedoch durch jahrhundertelange Unterdrückung und Ausbeutung erniedrigt und verroht worden war. Als geeignete Instrumente zur Überwindung dieses Zustands wurden die Erziehung und die Hispanisierung der Landbevölkerung angesehen. Mit „kulturellen Missionen“ für die Dörfer brach diesmal die Mestizengesellschaft zum Kreuzzug auf, nicht, um die Indios durch Hinführung zum wahren Glauben von allen Übeln zu erlösen, sondern durch Anpassung an die Errungenschaften des modernen Mexiko.
Trotz unterschiedlicher Beweggründe war den Bemühungen um die indigene Bevölkerung von der Kolonialzeit bis weit in unser Jahrhundert hinein gemeinsam, dass die Indios als „die anderen“ auf den Status von Objekten reduziert blieben und von der Mestizengesellschaft als der „Wir-Gruppe“ am eigenen, explizit oder implizit als überlegen verstandenen Gesellschaftsmodell gemessen wurden. Jedesmal, wenn die Indios die Rolle historischer Subjekte übernahmen und dieses Gesellschaftsmodell grundsätzlich in Frage stellten, wurden sie brutal zurückgedrängt. Erst seit Mitte der 70er Jahre beginnt sich auf Regierungsebene ein Wandel in der Haltung gegenüber der indigenen Bevölkerung Mexikos abzuzeichnen. Er wurde 1976 aus Anlass des Ersten Nationalen Kongresses der Indianischen Völker eingeleitet. Erstmals bekamen die Indios eine gewisse Mitsprache bei der Ausarbeitung von Hilfsprogrammen. Diese Mitsprache wurde später zur Möglichkeit einer Politik der eigenständigen Entwicklung („etnodesarrollo“) für die indigenen Organisationen erweitert.
Jede Öffnung von neuen Aktionsräumen für die indigenen Bevölkerung ist – obwohl die tatsächlichen Auswirkungen angesichts der anfangs geschilderten strukturellen Probleme begrenzt bleiben – grundsätzlich positiv zu beurteilen. Dennoch ist die verstärkte Einbeziehung der indigenen Organisationen in die offizielle Politik nicht unproblematisch. Nicht nur die inzwischen etablierten, einst so rebellischen Studentenführer von 1968 haben die Integrationskraft des mexikanischen Staates am eigenen Leib erfahren. Für viele Indios, z.B. unter den vom Erziehungsministerium beschäftigten mehr als 28 000 zweisprachigen Lehrern, ist die Zusammenarbeit mit der Regierung vor allem eine Möglichkeit, ihre als unterlegen empfundene indigene Herkunft so schnell wie möglich hinter sich zu lassen und den sozialen Aufstieg in die spanisch sprechende, westlich geprägte Gesellschaft zu schaffen. Hier wird das Auseinanderklaffen eines formalen politischen Anspruchs und der täglichen Lebenspraxis deutlich.
Der Anthropologe Guillermo Bonfil Batalla erklärt die Haltung gegenüber den Indios mit der Situation Mexikos als eines kolonisierten Landes. Für ihn trafen im Augenblick der Eroberung des Aztekenreiches durch die Spanier zwei antagonistische Zivilisationen aufeinander: die abendländische und die mesoamerikanische. Die Kolonisatoren konnten ihre überlegene Machtposition nutzen, um das abendländische Modell durchzusetzen, während dem kolonisierten Träger der mesoamerikanischen Zivilisation nur der Rückzug oder der mehr oder minder offene Widerstand blieben. Die nicht zufällige Verbindung von Macht und abendländischer Zivilisation und Unterwerfung und mesoamerikanischer Zivilisation ist ein auch im heutigen Mexiko noch weiterwirkendes Erbe der kolonialen Vergangenheit. In diesem Sinne ist die Dekolonisierung des Landes, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts begonnen hat, ein bis heute nicht abgeschlossener Vorgang.(7) Die aktuellen Missstände im Lande, unter denen nicht nur die indigene Bevölkerung zu leiden hat, können nach Ansicht Bonfils nur dann überwunden werden, wenn das einseitig westlich orientierte Entwicklungsmodell aufgegeben wird und die mesoamerikanischen Wurzeln der Mehrheit der Bevölkerung berücksichtigt werden. Obwohl die dominierende Zivilisation jahrhundertelang versucht hat, diese Wurzeln zu vernichten, haben sie zumindest teilweise widerstanden und sich kreativ verwandelt. Es geht Bonfil also nicht um eine museale Restauration traditioneller Lebensweisen, sondern um die Einbeziehung der „verneinten Zivilisation“ mit ihrem reichen kulturellen Potential in einen für alle Mexikaner fruchtbaren gemeinsamen gesellschaftlichen Transformationsprozess. In einer solchen gemeinsamen Transformation würde auch die Kategorie „Indio“ selbst, durch die die indigene Bevölkerung sich abgrenzt und abgegrenzt wird, in dem Maße überflüssig werden, in dem die jetzt noch bestehende innere Kolonisierung aufgehoben würde.
So fern uns Mexiko mit seinem kolonialen Erbe auch sein mag, so nah sind uns heute die Probleme des Zusammenlebens mit anderen, die Dialektik von Abgrenzung und Öffnung im Umgang mit sozialen und kulturellen Alternativen. Insofern können die Konflikte der mexikanischen Gesellschaft mit ihren Indios und die möglichen Lösungsstrategien auch ein Lehrstück für uns sein.
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[1] Zu Recht weist ein Kenner der Guerrilla in Mexiko, der Schriftsteller Carlos Montemayor, daraufhin, dass die militärische Organisation nur die „Spitze des Eisbergs“ ist. Sie kann sich auf die komplexe indianische Familien- und Sozialstruktur mit ihrem weit verzweigten Netz von Kommunikation und sozialer und wirtschaftlicher Organisation stützen. Vgl. Carlos Montemayor, La aparición del EZLN, punta del ice-berg del descontento, in: La Jornada, 4.1.1994, S.14.
[2] Interessant für deutsche Leser dürfte die Tatsache sein, dass ein großer Teil der Kaffeplantagen deutschstämmige Besitzer hat, die sich seit der mexikanischen Unabhängigkeit von 1821 nach und nach in der chiapanekischen Region Soconusco angesiedelt haben.
[3] Rund 10% der 86 Millionen Einwohner Mexikos, also etwa 8 Millionen, sind Indios, wobei diese Zahl nur eine Annäherung ist, weil exakte Angaben nicht existieren. Die Linguisten unterscheiden 56 offiziell anerkannte indigene Sprachen.
[4] Art. 40 wurde durch folgenden Absatz ergänzt: „Die mexikanische Grundlage dieser Multikulturalität bilden die indigenen Völker. Das Gesetz schützt und fördert die Entwicklung ihrer Sprachen, Kulturen, Gebräuche, Sitten, Ressourcen und spezifischen sozialen Organisationsformen und garantiert ihren Mitgliedern den wirksamen Zugang zur staatlichen Rechtsprechung. Bei Prozessen und Verfahren um Agrarfragen, an denen sie beteiligt sind, werden ihre juristischen Praktiken und Gewohnheiten in einem Umfang berücksichtigt, den das Gesetz festlegt.“
[5] Juárez, ein Zapoteke aus dem Bundesstaat Oaxaca, ist einer der wenigen Indios, die es zu höchsten Ehren bringen konnten. Er war, mit Unterbrechung durch das Mexiko von Napoleon III. aufgezwungene Kaiserreich unter dem Habsburger Maximilian, von 1861-1872 Präsident des Landes.
[6] Unter der dreißigjährigen Diktatur von Porfirio Díaz erreichte diese System seinen Höhepunkt und trug mit zum Ausbruch der mexikanischen Revolution von 1910 bei. In modernisierter Form prägen ähnliche Strukturen aber auch noch das nachrevolutionäre Mexiko.
[7] Bonfil Batalla, op.cit., S. 11 spricht in diesem Zusammenhang von der fortbestehenden „inneren Kolonisierung“ Mexikos.