Der Typ des gebrochenen Charakters hat spätestens seit Raymond Chandlers Philip Marlowe einen festen Platz im Inventar literarischer Privatdetektive. Oft verlässt er seinen irgendwann mal mit mehr oder weniger Begeisterung eingeschlagenen Weg (Marlowe war Ermittler für den Distriktanwalt, wurde wegen Befehlsverweigerung jedoch entlassen), denn er erweist sich als inkompatibel mit einem System, das moralische Werte ständig verrät. Außerhalb des Krimi-Genres könnte der Schulverweigerer Holden Caulfield aus Jerome David Salingers „Der Fänger im Roggen“ (1951) angeführt werden. Auch er ist jemand, der die Widersprüche offen benennt. Diese beiden US-amerikanischen Autoren zählen zu den literarischen Favoriten von Mario Conde, Protagonist in Leonardo Paduras „Die Durchlässigkeit der Zeit“. Fünfundzwanzig Jahre ist es nun schon her, dass der ehemalige Teniente, „der gegen Waffen, Gewalt und Regeln aller Art allergisch war, der zu viel las, zu schreiben vorgab und behauptete, sich von Eingebungen, Voreingenommenheit und Vorahnungen leiten zu lassen“, den Polizeidienst quittierte und für sich eine neue Existenz (er)finden musste. Die Elemente, aus denen sein Nischendasein seitdem zusammengesetzt war – der Handel mit antiquarischen Büchern und Aufträge als Privatermittler, in einem Land, in dem der Beruf des Privatdetektivs nicht vorgesehen war –, erweisen sich allerdings beide in geraumer Zeit als immer weniger gewinnbringend. Seine letzte größere Ermittlung liegt schon einige Jahre zurück. „Conde hatte damals für seine Nachforschungen eine Menge Dollars erhalten. Doch seitdem steckte er in einem schwarzen Tunnel, denn der An- und Verkauf von Büchern brachte immer weniger ein.“
Angesichts seines bevorstehenden sechzigsten Geburtstags macht er eine ebenso melancholische wie einfache Rechnung auf: „Alt sein war ein schauriger Zustand […] Nicht nur wegen der Begleitumstände, sondern vor allem, weil die letzten Jahre unter der unerbittlichen Drohung des nahenden Todes standen. Dieser Gleichung kann niemand entrinnen: Zwei und zwei sind vier. Oder besser gesagt: Vier minus drei ist eins. Nur eins ist geblieben, Mario Conde, das eine Viertel deines Lebens!“ Die deprimierende persönliche Diagnose scheint sich im äußeren Verfall der Stadt Havanna zu spiegeln, die mit ihren alten Häusern aus besseren Zeiten den Hauptschauplatz des Romans abgibt sowie in den erodierenden gesellschaftlichen Zuständen Kubas. Sein neuester Fall führt ihn in eine Kunsthändlerszene, deren skrupelloses Geschäftsgebaren er mehr als nur kritisch sieht. „Dieses kulturelle Ausbluten … zerriss ihm das Herz.“
Ob Conde nun Täter entlarvt oder seltene Bücher entdeckt – bei beidem packt ihn das Jagdfieber. „Er schwitzte, und sein Herz raste. Jetzt hatte er sich bewiesen, dass er immer noch auf der Höhe war. Er hatte agiert wie der Polizist, der er früher gewesen war. […] Jetzt hieß es nur noch abwarten. Wie Jäger auf dem Anstand.“. Das Waidwerk erfordert die Konzentration auf das Hier und Jetzt. Zugleich ist ein Artefakt, diesmal eine mittelalterliche Madonnenstatue, der Auslöser des Falls. Als kulturelles, für einige kultisches Objekt lenkt es den Blick notwendigerweise auf die Vergangenheit – auf die Geschichte und die Geschichten, die es aufzuschreiben gilt.
Im weiten Feld der Krimis gibt es den einen oder anderen Verbrecherjäger – private wie staatliche – mit literarischen Ambitionen. Phyllis Dorothy James‘ Adam Dalgliesh reüssiert sowohl als Lyriker wie auch als Commander bei Scotland Yard. Francis Durbridges Privatermittler Paul Temple ist ein erfolgreicher Kriminalschriftsteller, was Ramiro Pinillas Amateurdetektiv, der unter dem Pseudonym Samuel Esparta (Dashiell Hammett lässt grüßen!) auftritt, verwehrt bleibt. Von seinen 16 selbstverfassten Krimis hat kein einziger das Interesse eines Verlegers geweckt. Mario Conde, der über Jahre hinweg davon träumt, „untergründige und berührende Geschichten wie die von Salinger zu schreiben und seine Wörter messerscharf zu setzen wie Hemingway“, verbietet sich schon viel zu lange „das ewige Verlangen, endlich selbst mit dem Schreiben zu beginnen“. Erst nachdem er – der Jäger – aufgrund einer Schussverletzung eine Zwangspause einlegen musste, stellt er sich „der Herausforderung des Schreibens. Er folgte diesem unergründlichen Lockruf, dem nicht mehr zu unterdrückenden Drang. Ihm stand eine gut ausgestattete Bibliothek zur Verfügung, die er selbst in seiner Zeit als Händler alter Bücher mit dem einen oder anderen Juwel bereichert hatte. Und so begann er, eine – nätürlich untergründige und berührende – Erzählung zu schreiben, die von den Abenteuern eines historischen Menschen ohne Historie handelte, der innerhalb der Weltgeschichte verschiedene fiktive, weil romanhafte, wenn auch in vielerlei Hinsicht seinem eigenen Leben ähnliche Leben lebte.“
Eingewoben in die linear erzählte, vom 4. September bis zu seinem Geburtstag am 9. Oktober 2014 genau datierte Krimihandlung, entsteht so die Geschichte der Schwarzen Madonna. Im Stile eines historischen Romans ist sie zusammengesetzt aus Episoden, die rückwärts erzählt werden und in den fernen Tagen der Kreuzzüge enden. Was anfänglich nach zwei verschiedenen Erzählungen auf unterschiedlichsten Zeitebenen aussieht, erweist sich am Ende als zu ein und derselben Gegenwart gehörend.
Je näher Conde der Auflösung seines Kriminalrätsels kommt, desto mehr Namen hochrangiger Autoren der Weltliteratur finden sich in den Text eingestreut. Neben den bereits genannten Salinger und Chandler sind dies u. a. Ernest Hemingway, John Updike, Wilkie Collins, Juan Rulfo, Alejo Carpentier, Gabriel García Márquez und José María Heredia. Das Ganze erreicht schließlich seinen Höhepunkt in der als kürzester Roman der Weltliteratur bekannten Mikrofiktion von Augusto Monterroso „Der Dinosaurier“, die den Schlüssel zur Lösung des Falls liefert.
„Als er aufwachte, war der Dinosaurier immer noch da.“
Leonardo Padura
Die Durchlässigkeit der Zeit
Unionsverlag Zürich: 2019