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Wie Kolumbien mehrfach leidet – Tod und Repression vermehren sich in Zeiten der COVID-Pandemie in Kolumbien

Luis Ortíz | | Artikel drucken
Lesedauer: 11 Minuten

Im März 2020 begannen die Fälle von Coronavirus-Infektionen in Kolumbien zu steigen. Die Regierung hat deshalb am 17. März beschlossen, den nationalen Notstand auszurufen. Diese Notstandsmaßnahme wird nach mehreren Verlängerungen voraussichtlich noch bis zum 30. November in Kraft bleiben, könnte dann aber weiter verlängert werden.1 Darüber hinaus wurde vom 20. März an ein genereller Lockdown eingeführt, der mit unterschiedlichen Maßnahmen bis zum 31. August fortgesetzt wurde.2

Obwohl der Lockdown recht lang war, erwies sich seine Durchführung in Wirklichkeit als wenig effektiv. So war zum Beispiel in den privilegierten Nachbarschaften im Norden von Bogotá die Eindämmung wirksamer, während in den eher marginalisierten Nachbarschaften im Süden, in denen die Bewohner nicht aufhören konnten zu arbeiten, da dies für sie bedeuten würde, in Bedingungen extremer Armut in Hungersnot zu geraten, die Maßnahmen weitgehend wirkungslos blieben. Auf nationaler Ebene ist durch den bereits langen Ausnahmezustand gegen das Coronavirus sehr wenig erreicht worden. Die Fälle haben weiter zugenommen, so dass Kolumbien in den letzten Monaten zu den Ländern mit den meisten neuen Fällen gehörte.3 Kolumbien hatte bis zum 01.10.2020 25.998 Todesfälle durch das Coronavirus.4 Hinzu kommt die durch den Lockdown verursachte Gewalt in den Familien, wobei Frauen und Kinder am stärksten betroffen sind. Bis zum 22. Juni hatte es in Kolumbien 99 Feminizide während des Lockdowns gegeben.5

Mit dem Argument, diese Notfallmaßnahmen aufrechtzuerhalten, hat die Regierung die Militär- und Polizeipräsenz in vielen Gebieten verstärkt, was zu einer spürbaren Verschärfung ihrer Durchsetzungskraft geführt hat. Ein großer Teil der Bevölkerung begegnet diesem Prozess mit Sorge, denn er wird weitgehend als ein Schritt hin zu weniger Demokratie und mehr staatlicher Unterdrückung gesehen. Dieser Text soll über einige wichtige Ereignisse berichten, die diese Zeit der COVID-Pandemie gekennzeichnet und zu einem Wiederaufflammen der bereits besorgniserregenden Situation von Gewalt und Repression im Land geführt haben.

Kolumbien hatte bereits Ende letzten Jahres eine beträchtliche Welle sozialer Proteste erlebt, die die weitverbreitete Unzufriedenheit mit der Regierung des rechten Präsidenten Duque zeigte. Unter seiner Regierung wurden die Maßnahmen, zu denen sich der kolumbianische Staat in dem 2016 mit den FARC unterzeichneten Friedensvertrag verpflichtet hatte, systematisch ignoriert und die Bemühungen um Frieden und Versöhnung ernsthaft untergraben. Die Regierung Duque und seine Partei „Centro Democrático” haben seit ihrer Machtübernahme im Jahr 2018 die Friedenspolitik missachtet, wichtige Teile des Abkommens definanziert und eine Agenda gefördert, die einer korrupten politischen Elite mit Beziehungen zum Narco-Paramilitarismus zugutekommt. Das Ergebnis ist eine Bogotá_Bildquelle_MA.S.A_2020Situation, in der die Gewalt in mehreren ländlichen Gebieten eskalierte, da ein Machtvakuum nach dem Rückzug der Mehrheit der FARC-Strukturen entstand. Es entwickelte sich ein neuer Krieg um territoriale Kontrolle und das Geschäft mit dem Drogenhandel zwischen FARC-Dissidentengruppen, anderen Guerillas wie der ELN, Paramilitärs und Drogenhändlern, die beiden Letztgenannten meist in Komplizenschaft mit den korrupten lokalen politischen Klassen. In diesem Zusammenhang hat die Ermordung von gesellschaftlichen Aktivisten im Land dramatisch zugenommen, so dass man bereits von einem Genozid sprechen kann. Nach Angaben der NGO Indepaz wurden zwischen der Unterzeichnung des Friedensvertrags 2016 und dem 15. Juli 2020 971 politisch und gesellschaftlich aktive Menschen ermordet, davon allein 152 bis dato im Jahr 2020.6

Während der Zeit der COVID-Pandemie hat die Regierung Duque den nationalen Notstand ausgenutzt, um faktisch per Dekret zu regieren.7 Darüber hinaus haben die Regierung Duque und der „Centro Democrático“ diese Zeit genutzt, um im Kongress – rasch und von der Öffentlichkeit möglichst unbemerkt – umstrittene Gesetze zu verabschieden. Dazu gehörte etwa der Versuch, ein Gesetz, das vorsah, die landesweite Genehmigung der Fracking-Technik zur Gewinnung von Erdöl in schnellen Verfahren zu erteilen.8 Oder auch der Versuch der Zuckerindustrie, ein exklusives Patent für die Herstellung der Panela zu erhalten, ein traditionell von Landwirten handwerklich produziertes Nahrungsmittel in Kolumbien.9 Darüber hinaus gab es eine zweifelhafte Politik bei der Wahl öffentlicher Amtsträger. Beispielsweise wurde im August dieses Jahres die Ernennung einer neuen Generalinspekteurin des Staates genehmigt, die dem politischen Flügel des Präsidenten sehr nahesteht, wodurch die Besetzung der Mehrheit der Kontrollinstanzen des Staates mit zur Duque-Regierung politisch nahestehende Personen erreicht wurde.10

Während diese undemokratischen Maßnahmen auf administrativer Ebene ergriffen wurden, kam es auf dem Land zu einem Anstieg der Gewalt, der zum Teil auf die Militarisierung in einigen Gebieten zurückzuführen war. So kamen am 1. Juni 2020 48 US-Militärangehörige ins Land, um, nach Angaben des Verteidigungsministeriums, die kolumbianische Armee bei der Geheimdienstarbeit gegen den Drogenhandel zu unterstützen. Obwohl die kolumbianische Justiz, nachdem oppositionelle Kongressabgeordnete eine Beschwerde gegen ihre Anwesenheit eingereicht hatten, die Aussetzung ihren Aktivitäten anordnete, besteht die Regierung weiter auf der Anwesenheit dieser ausländischen Truppe.11

Gleichzeitig ist eine Zunahme der Zerstörungen von Cocaplantagen durch die Armee im Land zu verzeichnen. Diese Praxis ist höchst fragwürdig, da die Regierung den Cocabäuer*innen keine alternativen Anbaupflanzen oder andere Entwicklungsprojekte zur Verfügung stellt und sie damit ihres Lebensunterhalts vollkommen beraubt. Gleichzeitig treibt die Zerstörung der Felder die Bäuer*innen weiter in den Dschungel, wo die Abholzung in großem Stil seit dem Abschluss des Friedensvertrags zunimmt. Außerdem macht die Ausmerzung der Cocaplantagen die Cocabäuer*innen noch abhängiger von den bewaffneten Gruppen, die die Cocaanbaugebiete kontrollieren, da sie oft gezwungen sind, Kredite aufzunehmen, um den Anbau wieder zu starten. In der Region Guayabero beispielsweise kam es im Mai zu einem Streik der Cocabäuer*innen gegen diese Maßnahmen. Die einzige Reaktion der Regierung war ein bewaffneter Angriff der Armee am 4. Juni, bei dem ein Reporter des ländlichen Radiosenders „Voces del Guayabero“ und ein Landwirt verletzt wurden.12

Ein weiterer erwähnenswerter Fall von Militarisierung geschah in der Region Cauca, wo die indigene Initiative „Befreiung der Mutter Erde“ seit mehr als fünf Jahren Zuckerrohr-Monokulturplantagen besetzt hält. Das befreite Land war ursprünglich indigen und wurde im Laufe der Jahrhunderte von den kolonialen und neokolonialen kolumbianischen Eliten wegen ihrer hohen Produktivität in Besitz genommen. Die Indigenen vom Volk der Nasa haben nun in den von ihnen in den letzten Jahren befreiten Haciendas den Zuckerrohranbau durch den Anbau von Subsistenzpflanzen ersetzt und auch Wälder wachsen lassen, so dass die Vielfalt der Flora und Fauna an diese Orte zurückkehrt. Seit Beginn dieses Prozesses agieren die öffentlichen Streitkräfte gegen die indigene Bevölkerung mit Gewalt und versuchen, die dort angebauten Feldfrüchte zu vernichten, was bereits zu unzähligen Konfrontationen geführt hat. Nun haben sich diese bewaffneten Übergriffe seitens des Militärs während der Zeit der Pandemie verstärkt. Am 1. Mai kam es zu Noticias_Kolumbien_Bild_Quetzal-Redaktion_gceinem Einmarsch der Armee in die Haciendas. Die Nasa duldeten die Präsenz der Armee in ihr Territorium nicht und verteidigten ihre Souveränität, indem sie friedlich etwa 30 Soldaten für eine Nacht an dem Ort festhielten und versuchten, deren Waffen zu beschlagnahmen. Die Situation verschlechterte sich jedoch, und am 13. August kam es zu einem weiteren Einmarsch in die befreiten Haciendas, bei dem eine Hütte zerstört wurde. Als die Armee den Protest der indigenen Bevölkerung sah, eröffnete sie das Feuer auf die Demonstranten und tötete zwei von ihnen, darunter einen örtlichen Journalisten der Initiative.13

Diese Fälle sind nicht die einzigen. Es kam auch in anderen Randregionen wie Catatumbo und Arauca wiederholt zu Massakern, die von bewaffneten Gruppen im Verlauf der territorialen Kontrollstreitigkeiten verübt wurden. Hinzu kam noch der Tod mehrerer junger Menschen in den Departements Nariño und Valle del Cauca, die von bewaffneten Kräften massakriert wurden, die mitten in der Pandemie die Kontrolle über die Bevölkerung ausüben und eigene Einsperrungsmaßnahmen durchsetzen. In Samaniego, Nariño, wurden am 15. August acht junge Menschen zwischen 19 und 25 Jahren bei einer Party massakriert, bei der bewaffnete Männer erschienen und das Feuer auf die Partygäste eröffneten.14

In Bogotá ereignete sich ein weiterer Fall, bei dem es zum Tod junger Menschen kam, dieses Mal durch einen Einsatz der staatlichen Streitkräfte. Alles begann mit dem Tod von Javier Ordoñez am 8. September, einem 42-jährigen Bürger, der von der Polizei festgenommen wurde, als er bei einem Treffen mit Freunden versuchte, Likör zu kaufen. Die Polizei misshandelte ihn auf der Straße mit Elektroschocks, was in einem Video aufgezeichnet wurde. Danach wurde er in einem Polizeiwagen zu einer Polizeistation gebracht, wo er von Polizeibeamten zu Tode geprügelt wurde. Als das Video von den Misshandlungen auf der Straße am nächsten Tag viral ging, kam es zu einem großen Aufruhr in der Stadt, bei dem Demonstranten einige örtliche Polizeistationen besetzten. Die Polizei reagierte kurzerhand mit Schüssen mit scharfer Munition, was den Tod von neun Menschen, die meisten davon recht jung, und 55 Verletzte zur Folge hatte.15 An einer der Polizeistationen, die von den Demonstrationen im Stadtteil Suba eingenommen wurde, veranstalteten Kulturinitiativen am nächsten Tag eine kulturelle Demonstration, um an Julieth Ramírez zu erinnern, ein 18-jähriges Mädchen, das bei den Unruhen vom 9. September von der Polizei getötet worden war. Die Kollektive bemalten eine Wand der Station mit einem Porträt von ihr, außerdem wurde ein spontanes Konzert veranstaltet. Die Initiativen stellten Bücher aus und versuchten, in den Ruinen der Station eine öffentliche Bibliothek für das Viertel zu eröffnen. Diese kleine Utopie dauerte aber nur einen Tag, denn am nächsten Tag wurde der Ort wieder von der Polizei besetzt, wodurch die Spuren dieser künstlerischen Manifestation verwischt wurden.

Abgesehen davon gab es eine gute Nachricht von den Gerichten, als am 4. August dem ehemaligen Präsidenten Uribe, gegen den mehreren Ermittlungen wegen seiner Verbindungen zum Paramilitarismus laufen, Hausarrest auferlegt wurde. Es ist jedoch ziemlich zweifelhaft, ob diese Maßnahme eine dauerhafte Wirkung haben wird. Seine Verteidigung hat es nun mit juristischen Tricks geschafft, dass die Zuständigkeit der Untersuchung seines Falles vom Obersten Gerichtshof an die vom Centro Democrático kontrollierte Staatsanwaltschaft wechseln wird.16

So hat die Zeit der Pandemie die bereits aufgetretenen sozialen Probleme sowie die Unterdrückung des sozialen Protests verschärft, und es sind vor allem die Jugendlichen, die die denkwürdigsten Todesopfer dieser neuen Welle der Gewalt geworden sind. Die Morde geschehen durch mehrere Akteure. Sie werden nicht nur von einem weitgehend narcoparamilitärischen Staat ausgeübt, sondern die Gewalt ist in praktisch allen Ebenen der Gesellschaft präsent. Die Gewalt und der Tod finden sich innerhalb der Familien, in den kleinen, sehr problemreichen Landgemeinden und auch in den Verhandlungen von landesweiten Konflikten, so dass sich bereits von einer ausgedehnten „Nekropolitik“ sprechen lässt. Es lohnt sich zu fragen, inwieweit eine solche Gesellschaft zukunftsfähig ist und ob die schon angeschlagenen friedlichen und demokratischen Kräfte im Land noch weiter erodieren werden.

 

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1 Ministerio de Salud y Protección Social: Mediante resolución se extiende emergencia sanitaria en Colombia. 26.08.2020. https://www.minsalud.gov.co/Paginas/Mediante-resolucion-se-extiende-emergencia-sanitaria-en-Colombia.aspx

2 France 24: Colombia pondrá fin a su cuarentena general, una de las más largas del mundo. 25.08.2020. https://www.france24.com/es/20200825-colombia-relaja-la-cuarentena-y-har%C3%A1-parte-de-vacuna-de-johnson-johnson

3 RTVE: Colombia pasa de los 400.000 casos de coronavirus con récord de 12.830 contagios en 24 horas. 12.08.2020. https://www.rtve.es/noticias/20200812/colombia-pasa-400000-casos-coronavirus-record-12830-contagios-24-horas/2040081.shtml

4 El Coronavirus en Colombia. 01.01.2020. https://coronaviruscolombia.gov.co/Covid19/index.html

5 El Tiempo: Pandemia del feminicidio: 99 mujeres asesinadas en lo corrido del 2020. 22.06.2020. https://www.eltiempo.com/bogota/pandemia-del-feminicidio-99-mujeres-asesinadas-en-lo-corrido-del-2020-509910

6 Revista Semana: Van 152 asesinatos en 2020 de líderes, defensores de DD.HH. y exmiembros de Farc. 16.07.2020. https://www.semana.com/nacion/articulo/asesinato-de-lideres-sociales-en-colombia-cifras-durante-cuarentena-covid-19/686859. Hay que reconocer no obstante que estas cifras varían considerablemente según la fuente.

7 Uprimny, Rogrigo: Un Duque que quiere reinar. 07.09.2020. https://www.dejusticia.org/column/un-duque-que-quiere-reinar/

8 El Tiempo: Se cae artículo que daba incentivos al ‚fracking‘ en Colombia. 07.09.2020. https://www.eltiempo.com/politica/congreso/fracking-se-cae-articulo-que-daba-incentivos-al-fracking-en-colombia-536563

9 El Espectador: Lo que dice y no dice la “patente de la panela”. 19.09.2020. https://www.elespectador.com/noticias/medio-ambiente/lo-que-dice-y-no-dice-la-patente-de-la-panela/

10 El Espectador: Margarita Cabello, procuradora: una elección sin sorpresas y conimplicaciones. 27.08.2020. https//www.elespectador.com/noticias/judicial/margarita-cabello-procuradora-una-eleccion-sin-sorpresas-y-con-implicaciones/

11 DW: Justicia de Colombia ordena suspender actividades militares estadounidenses. 03.07.2020. https://www.dw.com/es/justicia-de-colombia-ordena-suspender-actividades-militares-estadounidenses/a-54034670

12 La Liga Control el Silencio: El descontrol militar en Guayabero deja civiles heridos y el Estado calla. 30.07.2020. https://ligacontraelsilencio.com/2020/07/30/el-descontrol-militar-en-guayabero-deja-civiles-heridos-y-el-estado-calla/

14 El Tiempo: Estas son las tres hipótesis de la masacre que conmueve a Samaniego. 21.08.2020. https://www.eltiempo.com/colombia/otras-ciudades/masacre-en-samaniego-hipotesis-de-asesinato-de-ocho-jovenes-en-narino-530188

15 CNN en Español: Así era Javier Ordóñez, el abogado y padre que murió tras ser golpeado por policías en Bogotá. 10.09.2020. https://cnnespanol.cnn.com/2020/09/10/asi-era-javier-ordonez-el-abogado-y-padre-que-murio-tras-ser-golpeado-por-policias-en-bogota/

16 El Espectador: Caso Uribe: Corte Suprema envía caso a fiscalía por supuesta manipulación de Testigos. 31.08.2020. https://www.elespectador.com/noticias/judicial/caso-uribe-corte-suprema-envia-a-la-fiscalia-proceso-por-supuesta-manipulacion-de-testigos/

 

Bildquellen: [1] MA.S.A. (Manifestación Social Audiovisual) / Laboratorio de Experimentación Audiovisual/Trasmedia Little Brother & Sister Are Watching You Bogotá – Kolumbien (2020). Trotz der Restriktionen wegen der COVID-Pandemie, finden die Demonstrationen, die 2019 in Kolumbien angefangen haben, weiter auf der Straße statt wie diese künstlerische Demo am 21.09.2020 in Bogotá bezeugt. [2] Quetzal-Redaktion_gc.

 

 

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