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Interview mit Pablo Tarantino – Teil I

Gonzalo Compañy | | Artikel drucken
Lesedauer: 23 Minuten

Anlässlich der kürzlich erfolgten Veröffentlichung des Debütalbums des Pablo Tarantino Quartetts, Charnia (PK Records 2024), traf sich unser Quetzalmitarbeiter Gonzalo Compañy mit dessen Leiter, dem argentinischen Schlagzeuger, Komponisten und Dozenten Pablo Tarantino. In dem Gespräch, beschreibt der in Leipzig ansässige Musiker einige Mäander seines Lebens – von seiner frühen Kindheit, in der er seine Faszination für die Musik entdeckte, über seine ersten Schritte als Schlagzeuger und seine Ausbildungszeit bis hin zu seiner Etablierung als professioneller Musiker – und reflektiert über den Prozess des Komponierens und die Wechselfälle eines unabhängigen Musikers in der heutigen Welt. Das Folgende ist der erste Teil eines ausführlichen Gesprächs, das Anfang des Jahres vor dem Lindenauer Markt in der Sächsischen Metropole stattfand.

 

Der Anstoß zu diesem Interview kam durch die Veröffentlichung des Albums Charnia. Man weiß, dass es sich bei Charnia um ein malerisches Wesen handelte, das seit seiner Entdeckung in den 1950er Jahren durch ein Team von Paläontologen nach wie vor Aufmerksamkeit erregt. Wie kam es zur Idee von Charnia? Welche Bedeutung hat Charnia in deinem Leben?

Es ist eigentlich ganz einfach: Ich hatte eine BBC-Dokumentation, David Attenborough’s First Life, gesehen, in der die Entstehung des Lebens auf unserem Planeten erklärt wird – angefangen bei den grundlegendsten Dingen, den ersten Mikroorganismen, Bakterien und Zellen, die sich bildeten, bis andere komplexere Organismen erschienen. Die Entdeckung der Charnia-Fossilien war ein großes Ereignis, denn es handelte sich um einen Organismus, der – obwohl er wie eine Pflanze aussieht, kann aus wissenschaftlichen Gründen nicht angegeben werden, ob es sich um ein Tier oder eine Pflanze handelte – auf dem Meeresgrund lebte und sich durch die Aufnahme von Nährstoffen ernährte. Obwohl dieses Wesen kein Verdauungssystem hatte, gilt es als einer der ersten komplexen Organismen. Für mich war dies eine sehr eindrucksvolle Darstellung des Lebens. Der Dokumentarfilm machte mir klar, dass der Ursprung des Lebens etwas extrem Komplexes war. Dieser Organismus, den die Paläontologen «Charnia» nannten, stellt für mich stellvertretend das ganze Leben dar, das Wunder des Lebens. Das gefiel mir, und ich mochte auch die ästhetische Seite der Fossilien und dass es auch sehr mit der Struktur der Pflanzen, die wir heute kennen, eng verbunden ist. Für mich war die Natur schon immer etwas sehr Faszinierendes… All das hat mich dazu inspiriert, allen „Kapiteln“ des Albums einen Sinn zu geben. In Charnia stellt jedes Stück einen Aspekt des Lebens dar. Es könnte sogar gesagt werden, dass Charnia eine allgemeine Sache ist, ein Begriff. Gerade das gleichnamige Stück, das das Album eröffnet, hat diesen Charakter. Dabei habe ich versucht, klanglich zu erfassen, wie der Ursprung des Lebens entstanden sein könnte: Am Anfang tauchen ein paar Farben auf, ein paar lose Noten, ohne Puls, ein Schlag in den meisten… der Schlag wie der Schlag des Herzens. In der Tat heißt es oft in der Musik, dass man den gleichen Schlag wie das Herz fühlt. Dieser erste Titel hat zunächst einen recht langsamen Puls, der sich aber im Laufe des Stücks steigert. Am Anfang ist das Tempo sehr rubato und viele Noten tauchen auf, als ob es etwas wäre, das gerade erst entsteht. Wenn dann der A-Teil kommt, wo sich eine Melodie erkennen lässt, ist zwar immer noch alles sehr rubato, aber es gibt schon eine Form, es gibt eine deutlich erkennbare Melodie und eine Art Kraft: Die Geburt fand statt. B-Teil ist ein wenig komplexer, so wie ich mir das Leben vorstelle. Man muss bedenken, dass selbst das Leben in einem dieser Organismen, die wir als relativ „einfach“ bezeichnen könnten, sehr komplexe Formen beschreibt. Und schließlich gibt es in dem Abschnitt, in dem das gesamte Quartett improvisiert, dann einen sehr klaren Beat. Da spüre ich ein Schwanken, das vielleicht dem ähnelt, was wir erleben, wenn unser Herz schlägt… Da werde ich ein bisschen emotional. Das war Charnia: Eine ziemlich starke Darstellung dessen, was die Platte sein sollte.

Hast du dort gleich mit dem Anfang begonnen, oder ist die Vorstellung von Charnia eher erst als Versuch entstanden, den Sinn der zusammengestellten Stücke zu begreifen? War vom Anfang klar, dass es darum ging, oder wurde dir erst beim Anblick des Repertoires deutlich, dass du über das Leben geschrieben hattest?

Ja, eher Letzteres. Ich denke, dass es sehr schwierig ist, mit einer sehr konkreten Idee zu beginnen und sie so zu vollenden, wie sie einem gekommen ist. Als ich komponierte, wollte ich versuchen, herauszufinden, wer ich bin. Es kommt oft vor, dass man beim Komponieren, in eher akademischen Phasen oder am Anfang, versucht, Stücke zu schreiben, die vertrauten Stücken ähneln. Das ist gut, das sind sehr notwendige Übungen, aber dann stellt sich für mich die Frage, dass man eine Menge Einflüsse aus mehreren Genres hat, die man mag – aber man soll nicht unbedingt in eines davon passen. Wenn wir dem Jazz ein Etikett verpassen (was ich nicht sehr mag), dann ist das, was den Geist des Jazz ausmacht: Die Struktur der Improvisation. Aber was ich suchte, war zu wissen, wer ich bin. Als ich anfing zu komponieren, kamen mir verschiedene Ideen, die ich dann wieder verwarf, und andere, die sich immer wieder änderten, bis sie Gestalt annahmen. Als diese Ideen Gestalt annahmen, wusste ich noch nicht, worum es sich handelte. Ich wurde sozusagen von Kapiteln meines Lebens beeinflusst. Eines der ersten Werke, das aus diesem Album hervorging, war Train by the sea. Dieses Stück wurde beispielsweise von den wöchentlichen Fahrten inspiriert, die ich von Valencia nach Barcelona unternahm, um dort Musik zu studieren. Auf einem Teil der Strecke fährt der Zug ganz nah am Mittelmeer vorbei… Wie ich bereits erwähnte, fand ich die Natur immer sehr beeindruckend. Zu einer bestimmten Jahreszeit waren die Sonnenaufgänge dort faszinierend. Das war ein beeindruckender Anblick, den ich Woche für Woche sehen durfte. Das ist viele Jahre her, wenn man bedenkt, dass ich 2007 mit dem Studium begonnen habe. Einige Jahre später kam mir dieses Bild in Form einer Melodie in den Sinn. Das ist die erste Melodie, die im Stück erscheint – und das war nämlich auch der erste Song, den ich für Charnia schrieb. Anschließend kam das Stück Alma canta, das auf einer Melodie basiert, die meine kleine Tochter gesungen hat. Es war ein sich wiederholendes Motiv, das am Anfang des Liedes auftaucht… sie hatte damals die Melodie variiert und moduliert…

Dann bist du schnell zum Klavier gegangen!

Nein, denn wir waren unterwegs! Ich habe das Motiv und die Intervalle beibehalten. All das war sehr kindlich, sehr frisch und primitiv. Da wir damals mit dem Kinderwagen unterwegs waren und man in solchen Fällen eher sehr vergesslich ist, nahm ich die Melodie mit meinem Handy direkt auf. Als ich nach Hause kam, transkribierte ich sie und wählte einen Teil dessen aus, was später zur Einleitung des Stückes wurde. Die Basslinie ist sehr stark davon geprägt. Sie ist immer noch da und stellt tatsächlich etwas Grundlegendes in dem Song dar. Als ich bereits diese Basslinie hatte, kam mir anschließend die Melodie in den Sinn. Wenn man zu singen oder zu summen beginnt, taucht oft die pentatonische Tonleiter intuitiv auf. Das erschien mir sehr sinnvoll, denn die pentatonische Tonleiter ist etwas „Primitives“, sehr charakteristisches für die Menschheit – das ist eine der Dinge, die in den meisten Kulturen und Völkern vorkommen. Was liegt also näher, als so etwas mitzubringen, um die ersten Phasen des Lebens zu repräsentieren… die Kindheit und wenn man Eltern wird. In dem Stück Alma canta steckt dieses Element. Zumindest im A-Teil des Stücks ist diese Idee sehr fließend entstanden. Doch dann fängt man an, sich im Kreis zu drehen und zu überlegen, ob man es mag oder nicht, ob man etwas ändern will… Aber am Ende kam ich immer wieder auf die ursprüngliche Idee zurück. Das ist der ewige Zweifel für jeden Komponisten, man stellt sich die Frage: was kommt jetzt? Die Fortsetzung ist immer sehr kompliziert, finde ich. Es gibt so viele Möglichkeiten, und dann fängt man an, viele Dinge auszuprobieren. Normalerweise geht man nicht von der romantischen Vorstellung aus, dass man eine erste Idee hat, dann eine zweite, sie werden zusammengefügt und das war’s. Es hat bestimmt ein paar Wochen gedauert, bis der B-Teil herauskam. Wie auch immer, gehört Alma canta nicht zu den Stücken, die „steckengeblieben“ sind und die ich später aufgriff. Im Gegenteil, die Sache wurde innerhalb weniger Wochen gelöst und zu Ende geschrieben, weil ich einfach das Gefühl hatte, dass es nichts mehr zu sagen gab. Jedenfalls war mir klar, dass das, was noch zusätzlich zu sagen war, der Improvisation gehört. Es macht tatsächlich sehr viel Spaß, das Stück zu spielen – der Rhythmus, die Harmonien und die Melodie sind sehr vergnüglich.

Kehren wir zurück zum Thema der Komposition, zum Beispiel bei der Gestaltung des so genannten B-Teils. Es gibt einige Musiker, die sich bei dieser Suche sozusagen verirren und in die Abstraktion zurückfallen. Es kann passieren, dass das B-Thema zwar anders ist, aber letztlich verliert es die Natürlichkeit, die der A-Teil hatte, eben wegen seines spontanen Ursprungs. Wie wird das gelöst? Ist es in deinem Fall eine Frage der Zeit, wie du sagst, damit es sich „auflöst“? Wie überprüft man, ob es sich um etwas „Natürliches“ oder, um es einmal so auszudrücken, „Künstliches“ handelt?

Ich glaube, wenn man nach einer Fortsetzung sucht, probiert man zwangsläufig Dinge aus. Es scheint mir das „Natürlichste“ zu sein, Dinge auszuprobieren und zu versuchen, zu spüren, was einem am besten gefällt, um zu wissen, ob es das ist, was es sein soll. Danach, denke ich, ist es wichtig, die Idee „ruhen“ zu lassen. Wenn ich irgendwann das Gefühl habe, dass ich eine Fortsetzung für etwas habe, was ich gerade schreibe, und ich habe tagelang herumprobiert, um eine Fortsetzung zu finden, dann lasse ich die Idee normalerweise ein paar Tage ruhen. Oft merke ich gerade beim ersten Anhören, ob sie mir wirklich gefällt oder nicht, ob sie funktioniert oder nicht. Denn es gibt einen Moment, in dem man sich irgendwie verliert. Nach so vielen Überlegungen kann es passieren, dass man, wenn eine Idee auftaucht, die möglicherweise funktioniert, aufgeregt wird und denkt: Ich hab’s! Das ist es! Es kann aber auch sein, dass man sich von dem Wunsch leiten lässt, weiterzumachen, um die Arbeit zu beenden. In jedem Fall scheint mir die „Gärungszeit“ sehr wichtig zu sein. Es können zwar viele Tage vergehen und währenddessen kann man sich anderen Themen widmen, aber wenn man wieder hört, was man schrieb, ist der erste Eindruck, den man bekommt, derjenige, der wirklich zählt: Da merkt man, ob es darum ging oder nicht. Deshalb finde ich es wichtig, nicht nur Dinge auszuprobieren, sondern auch alles abzuspeichern. Denn manchmal kann das, was abgespeichert wurde, weil man dachte, dass es nicht funktioniert, später doch eine Idee für einen anderen Teil desselben Stückes auslösen. Die Dinge entwickeln sich nie in der richtigen Reihenfolge… und auch die Platte Charnia ist nicht in der Reihenfolge entstanden, in der sie schließlich herauskam. Für mich besteht die Arbeit darin, Kohärenz und Zusammenhalt in den verschiedenen Kompositionen zu finden und dafür zu sorgen, dass die Übergänge auch richtig sind; und dass sie sinnvoll und interessant sind. Kurz gesagt, dass die Geschichte, die man erzählen möchte, gut verknüpft ist. Denn manchmal werden die Abschnitte präsentiert und man weiß nicht so recht, wie man sie miteinander verbinden soll. Daher es ist gut, zu „forschen“, d. h. zu versuchen, herauszufinden, wohin die verschiedene Stücke führen, und immer wieder Dinge auszuprobieren. Das hat selbstverständlich viel mit den Ressourcen zu tun, über die man verfügt: Die Kenntnisse und die Einflüsse, die man hat, sowie die Theorie selbst können einen dazu bringen, etwas auf der rationalen Ebene zu versuchen, beispielsweise durch Modulationen, Veränderungen in der Melodie und der Rhythmik oder einfach auf der intuitiven Ebene – wenn man spürt, dass das Stück mehr in eine bestimmte Richtung gehen muss, dass diese oder jene „Farbe“ präsent sein muss, eine spezifische Empfindung etc. Man spielt also mit rationalen und theoretischen und anderen eher emotionalen Aspekten. Um auf die Theorie zurückzukommen. Es kann auch passieren, dass etwas „funktioniert“, d.h. dass die Fortsetzung gut ist, aber dass man gleichzeitig das Gefühl hat, dass eher etwas „Dunkles“, „Fröhliches“, „Helles“ folgen sollte, oder andere Nuancen in den Harmonien, in den Tonleitern, in den Texturen. Daraus ergeben sich einige Antworten, aber ich denke, dass es wie in jedem Kunstzweig sehr schwierig ist, zum endgültigen Ergebnis zu gelangen.

Während des gesamten Albums gibt es mehrere Stimmungswechsel. Es kann vorkommen, dass melancholische Teile zu Situationen von gewisser Kraft führen und dann kehrt die Ruhe zurück.

Wenn das gelingt, ist das gut, aber es muss nicht immer so sein. Letztendlich gibt es in der Musik zwei Begriffe, die Spannung und Entspannung genannt wurden. Die gibt es immer, und es gibt sogar Musiker und Komponisten, die erforschen, was passiert, wenn sich diese beiden Elemente nicht auslösen. Es gibt beispielsweise Stücke, in denen die Spannung aufrechterhalten und ein Gefühl der Entspannung erzeugt wird. Es kann alles vorkommen, aber im Allgemeinen wurde in der Musikgeschichte mehr auf der Grundlage von Spannung und Entspannung gemacht, als dass ein konkreter Zustand während des gesamten Werks aufrechterhalten wurde. Es gibt viele Werkzeuge, um das zu erzeugen, und man versucht, mit diesen Elementen zu experimentieren, um eine Geschichte zu erzählen. Man sieht dann, in welchem Teil des Stücks der Konflikt platziert werden sollte, wie es auch in der Literatur geschieht. Mir gefällt die Idee, Emotionen beim Zuhörer zu wecken, und ebenfalls bei sich selbst. Letztendlich schreibt und erzählt man Geschichten – Dinge, die man fühlt und mit anderen teilen möchte.

Ich möchte gerne über die Ursprünge sprechen. Einerseits, wie die Musik – der Moment, in dem man eine bestimmte Platte hört und zum ersten Mal etwas auf der Haut spürt, und das Instrument – der Moment, in dem klar wird, dass man ein Instrument spielen will, dass man weiß, was das für ein Instrument ist und dass man sein Bestes tut, um es zu bekommen, in deinem Leben erscheinen. Auf der anderen Seite möchte ich dich bitten, über die Entstehung des „Bedürfnisses“ zu komponieren zu erzählen.

Ich habe eigentlich einige Erinnerungen, die ziemlich stark sind, aber lass uns sagen, dass die Musik vom Anfang an präsent in meinem Leben war. Denn es ist schwer für mich, einen Moment zu definieren. Das Instrument hatte doch einen Moment. Zu Hause, zumindest zu der Zeit, als ich ein Kind war, hörte man viel Musik, hauptsächlich wegen meines Bruders – er ist 14 Jahre älter als ich und Saxophonist. Zu verschiedenen Zeiten teilten wir uns ein Zimmer und er hatte viele verschiedene Platten. Es gab eine Menge argentinischen Rock… alles Mögliche. Natürlich alles von Charly García, Serú Girán, Luis Alberto Spinetta… Es gab auch John Coltrane, Miles Davis, alle Jazz-Klassiker und nicht so sehr Jazz-Klassiker. Und es gab auch eine Menge englischen Progressive-Rock: Bands wie Genesis, King Krimson usw. All diese Musik erregte meine Aufmerksamkeit und hatte einen großen Einfluss auf mich. Genesis war eine der Bands, die mich schon in jungen Jahren sehr beeindruckt haben. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wann ich angefangen habe, sie zu hören, aber es war eine Band, die mich immer sehr angezogen hat – ich würde sogar sagen, Genesis war eine der ersten Bands in dieser Hinsicht.… King Krimson auch, aber Genesis war etwas Besonderes. Dann gibt es einen spezifischen Moment, nämlich als mein Bruder das Album Blood, Sugar, Sex, Magic von den Red Hot Chili Peppers mit nach Hause brachte. An diesen Moment erinnere ich mich wie an eine Art „Atombombe“ in meinem Leben. Mein Bruder legte es auf, ohne irgendetwas zu sagenund mein Kopf explodierte förmlich. Anders kann man es nicht ausdrücken. Ich war so beeindruckt! Er hatte damals eine fabelhafte Musikanlage, mit einem Platten- und einem Doppelkassettenspieler. Also sagte ich ihm, er solle mir das Album auf Kassette überspielen, denn ich hatte einen Walkman. Bis dahin hatte ich nicht die Initiative ergriffen und ihn gebeten, Alben für mich aufzunehmen. Obwohl ich schon einige Genesis-Songs bei mir hatte, würde ich sagen, dass dieser Moment den Auftakt für das tägliche bedingungslose Musikhören gab. Damals war ich erst 8 Jahre alt.

Wie gelangt dieser Walkman in deine Hände?

Der Walkman kam auf, weil mein Vater einen kleinen Laden hatte, in dem es alle Arten von Elektro- und Audiogeräten sowie einige Instrumente gab. Das war in Argentinien, in der Stadt José C. Paz, in der Metropolregion von Buenos Aires. Da ich dort oft war, vermute ich, dass mir bei einer dieser Gelegenheiten der Walkman in die Hände fiel. Es war einer dieser ganz einfachen Walkmans. Man hatte immer einen Bic-Kuli dabei, zum Zurückspulen ohne Batterieverschwendung, wir sind aus diesen Zeiten, nicht wahr? [Lacht] Ich habe also buchstäblich die RHCP-Kassette aufgebraucht. Aber die Entscheidung für das Schlagzeug hatte ich schon vorher getroffen. Offenbar war ich bereits musikbegeistert, aber zufällig bekam ein Freund, der gegenüber von mir wohnte, ein Spielzeug-Schlagzeug geschenkt. Ich erinnere mich an diesen Moment als einen echten Schock. Ich sah es und dachte, „wow! wie wunderbar!“ Ich war fasziniert von diesen kleinen Becken und Trommeln.

Es hatte nicht den besten Sound, nehme ich an.

Das spielte keine Rolle! Ich war 5 oder 6 Jahre alt, als das passierte. Das hat mich verrückt gemacht. Damals habe ich zu Hause ganz zaghaft gesagt, dass auch ich ein Schlagzeug haben möchte. Und dann begann die Besessenheit von der Musik. Ich erinnere mich, dass ich mit meinem Bruder zu einigen Konzerten ging. Damals schenkte ich dem Schlagzeug viel Aufmerksamkeit, mehr als jedem anderen Instrument. Schließlich begann ich, meinen Eltern zu sagen: Ich will ein Schlagzeug, ich will ein Schlagzeug. Aber es war sehr schwierig für mich, dies zu tun, denn ich war mir der finanziellen Probleme meiner Familie immer sehr bewusst. Ich war zu schüchtern, um nach solch teuren Dingen zu verlangen. Im Laufe der Zeit zog mein Bruder mit einem Freund in eine kleine Wohnung in der Bundeshauptstadt, im Stadtteil Villa Devoto, wo sie einen Proberaum einrichteten, den sie stundenweise anmieteten. Sie kauften dann ein Schlagzeug. Dort durfte ich meinen ersten Kontakt mit einem richtigen Schlagzeug haben. Ich war damals etwa 12 Jahre alt und begann regelmäßig meinen Bruder zu besuchen. Ich erinnere mich, dass ich am Instrument saß und nicht wusste, was ich tun sollte. Ich war fasziniert, aber hatte keine Ahnung, wie man spielen konnte. Einige Zeit später, als ich 14 Jahre alt war, wurde der Proberaum geschlossen, und anstatt das Instrument zu verkaufen, brachten sie es ihn zu mir nach Hause, damit ich es benutzen konnte. Wie es das Schicksal wollte, machten sich meine Eltern bald große Sorgen über die wirtschaftliche Situation Argentiniens, den Mangel an Arbeit. Also unternahmen wir den ersten Versuch, nach Spanien zu ziehen. Wir gingen ziemlich planlos nach Valencia, so dass ich das Schlagzeug natürlich nicht mitnehmen konnte. Wir blieben dort nur einen Monat, weil meine Eltern bald merkten, dass sie noch nicht bereit waren, sich in Spanien niederzulassen. Als wir nach Argentinien zurückkehrten, gab es natürlich immer noch finanzielle Probleme, und so zogen wir in die  Stadt Mar del Plata, an der Atlantikküste, in ein Haus, das meine Eltern in der Nähe des Leuchtturms im Badeort Punta Mogotes besaßen. Da es sich um eine sehr abgelegene Wohngegend handelte, konnte ich mein Schlagzeug so aufstellen, dass ich in meinem Schlafzimmer üben konnte – ich war damals 15 Jahre alt. Selbst wenn mir die technischen Mittel fehlten, begann ich trotzdem mit Begeisterung zu spielen. Ich erinnere mich, dass ich die Songs auf eine Stereoanlage legte und versuchte, herauszufinden, was da vor sich ging – man muss bedenken, dass es damals keine YouTube gab. Also habe ich zu mir gesagt: Da klingt die Basstrommel, es wird dies und das gemacht, diese beiden gehören zusammen. Also lauschte ich alles heraus und fing  so an, Songs zu trommeln.

Welche Musik erklang in diesem Kinderzimmer?

Dort gab es eine Menge Rock. Ich hörte immer noch RHCP, aber zu diesem Zeitpunkt war es mir wirklich schwer zu begreifen, was der Schlagzeuger, Chad Smith, trommelte. Dafür habe ich mir viel Nirvana angehört. In gewisser Weise hat mir Nirvana die Türen des Instruments geöffnet, denn obwohl ich nicht gut spielen konnte, war es doch ziemlich klar, was Dave Grohl machte, um es nachzuspielen. Es gab auch Metallica. Damals konnte ich mehrere Songs von dieser Band, zum Beispiel von ihrem Black Album, welches sehr deutliche und relativ einfache Rhythmen hat, so dass ich damals in der Lage war, herauszufinden, woraus die Songs bestanden. Ich fing an, Songs zu lernen und merkte bald, dass ich doch bestimmte Rhythmen spielen konnte, was mir wiederum Selbstvertrauen gab. Als ich dieses Gefühl hatte, passierten zwei Dinge: Einerseits beschloss ich, dass ich Musik ernsthaft lernen wollte. Ich fand heraus, dass es ein Musikinstitut gab. Obwohl es sich am anderen Ende der Stadt befand, schrieb ich mich ein. Schon die erste Unterrichtsstunde mit dem Lehrer faszinierte mich. Selbst wenn das Institut sehr chaotisch war, wollte ich weitermachen. Andererseits lernte ich ein paar Jungs kennen, die Gitarre spielten und sangen. Sie standen auf Bands wie Oasis und Nirvana. In der Band, die wir gründeten, begann ich, viele Songs zu lernen. Bald merkte ich, dass ich mehr Songs und schneller als ich dachte lernen konnte. Offensichtlich habe ich damals mein Bestes gegeben, denn ich verfügte über keine technischen Kenntnisse – trotzdem klangen die Songs ziemlich gut! Nachdem wir zwei Jahre lang in Mar del Plata gelebt hatten, beschlossen meine Eltern, wieder einmal wegen der wirtschaftlichen Krise, dass wir wieder nach Valencia ziehen sollten, um unser Glück dort zu versuchen. Doch konnte ich diesmal mein Schlagzeug in einem Container per Schiff verschicken. Obwohl wir dort eine Wohnung gemietet hatten, durfte ich das Schlagzeug in meinem Schlafzimmer aufbauen. Um so wenig Lärm wie möglich zu machen, legte ich beispielsweise Lappen zwischen die Trommelfelle. Dazu baute mein Vater ein zusätzliches Fenster ein, um die Stelle, aus der am der größte Lärm kam, so gut wie möglich abzudecken. Zum Glück haben sich die Nachbarn damals nicht allzu sehr beschwert, und ich habe auch nicht stundenlang gespielt. Das war der Anfang einer Geschichte, in der das Schlagzeug und die Musik sozusagen eine Tatsache in meinem Leben waren. In Valencia machte ich mich sofort auf die Suche nach Leuten, mit denen ich Musik machen konnte. Anschließend fand ich ein paar Jungs, die Heavy Metal spielten – es war die Zeit des so genannten Nü Metal, wir sprechen ungefähr vom Jahr 2000. Das gab mir die Möglichkeit, wieder mit anderen Menschen zu musizieren, und führte dazu, dass ich immer mehr Musik und Musikstile hörte, und dass ich weiter lernen wollte. So schrieb ich mich in einer kleinen Musikschule ein, in der hauptsächlich klassische Musik unterrichtet wurde. Dort begann ich, klassische Musik zu lernen, mit dem Ziel, die Aufnahmeprüfungen für das Konservatorium zu bestehen. In der Musikschule lernte man Marimba, Vibraphon, Orchesterpauken. Es war großartig, aber ich merkte, dass ich das Instrument nicht genug üben konnte. Ich erinnere mich, dass ich zum Üben in die Akademie gehen musste, und wenn ich ein Zimmer im Voraus buchte, gab man mir höchstens eine Stunde pro Tag. Ich wusste also, dass ich so nicht in der Lage sein würde, richtige Fortschritte zu machen. Außerdem mochte ich auch andere Musikstile, die man dort nicht lernen konnte. Obwohl es sehr schwierig war, voranzukommen, verbrachte ich drei Jahre in dieser Musikschule, wo ich dafür eine Menge Technik, Notenlesen und so weiter lernte. Dort habe ich beispielsweise angefangen, ernsthaft Musiktheorie zu lernen: Harmonielehre, Gehörbildung etc. Vom ersten Moment an wusste ich, dass ich Harmonie wirklich mochte, obwohl ich im Laufe der Zeit merkte, dass die Art und Weise, wie sie dort gelehrt wurde, nicht optimal war. Nach dieser Erfahrung war ich in der Lage, die Aufnahmeprüfungen am Konservatorium zu bestehen. Obwohl ich in einigen Teilen der Prüfung gut war, wurde ich nicht angenommen. Dann erfuhr ich, dass das Konservatorium in Barcelona, welches zum Liceu gehört, ein Programm des Berklee College of Music in Boston anbietet. Dort konnte man sich auf moderne Musik und Jazz spezialisieren. Wie gesagt, ich hatte zwar schon viel Jazz gehört, aber ich kannte mich damit nicht so gut aus. Dafür gab es im Konservatorium, wie gesagt, auch moderne Musik, wofür ich mich am meistens interessierte. Ich muss zugeben, dass mir Berklee sehr am Herzen lag, weil ein Freund, ein Bassist mit dem ich zusammen spielte, bereits dort war und mir vom Programm berichtet hatte. So beschloss ich, mein Glück in Barcelona zu versuchen. In diesen Jahren hatte ich bereits einige Bands, in denen ich zaghaft damit anfing, Songs mitzuschreiben. Aber zurück zu Barcelona: Obwohl die Aufnahmeprüfungen bald stattfinden sollten, meldete ich mich an, bereitete mich vor und fuhr dorthin. Als ich dann erfuhr, dass ich angenommen worden war, explodierte mein Kopf! Das war es, was ich genau wollte, das war moderne Musik! Für das Probestück hatte ich einen Song von Jeff Buckley vorbereitet, den ich nach wie vor liebe – ich war von ihm fasziniert. Das Stück hieß Grace und fängt ziemlich kraftvoll an. Wenn ich mich richtig erinnere, ist es nicht der Eröffnungstrack des gleichnamigen Albums, sondern der zweite. Dieses Album fand ich sehr schön. Das regelmäßige Pendeln zwischen Valencia und Barcelona war sehr aufwendig, doch mit der Zeit gewöhnte ich mich daran, nicht zuletzt deshalb, weil mir wirklich gefiel, was ich dort lernte. Dort fing ich beispielsweise damit an, Harmonie auf eine andere Art und Weise zu verstehen, und es kamen viel interessantere Dinge zum Vorschein. Der Unterricht war aufgrund des Berklee-Programms viel interessanter als ich bislang woanders erlebt hatte. Die Arbeitshefte, die sie erstellten, waren ziemlich gut strukturiert und ermöglichten es einem, recht schnell Fortschritte zu machen – vorausgesetzt, man war motiviert. Das faszinierte mich, und auch die Combos und die Ensembles! Schließlich gelang es mir, nach Barcelona umzuziehen und mein Studium abzuschließen. Das war sozusagen meine akademische Zeit.

Nach dem Erwerb der technischen Mittel fängt die Zeit an, in der die Komposition einsetzt, oder?

Das war tatsächlich der Zeitpunkt, an dem die Komposition wirklich begann. Als ich vorher mit anderen Menschen Songs schreiben wollte, teilte ich damals meine Ideen eher auf intuitive Weise. Insbesondere mochte ich es, nach der Fortsetzung eines A-Teils zu suchen. Dabei schlug ich Dinge vor und fand es cool, Songs zu gestalten. Also dachte ich, dass ich das irgendwann selbst machen wollte, um zu wissen, wie man so ein Projekt aufbaut. Da ich weder ein harmonisches noch ein melodisches Instrument spielte, fing ich an, auch Gitarre zu spielen. Ich lernte die Akkorde und Tonleitern, und das reichte mir damals aus, um zurechtzukommen. Aber dann kam der Tag, an dem man – zumindest auf theoretischer Ebene – vor Augen hat, wie die sogenannte funktionale Harmonie arbeitet. Es gibt zwar noch viel zu lernen, aber die Fundamente sind da. Anschließend soll man mit der „Forschung“ beginnen. Also begann ich zu komponieren, wenn auch auf eine Art, als wäre es eine Art Therapie, eine Übung, um nur Spaß dabei zu haben-  wie ein Spiel. Doch es war ein Spiel, um herauszufinden, was ich mit dem, was mir an der Musikhochschule beigebracht worden war, anfangen konnte. Ich hatte bislang eine Menge ziemlich komplexer Elemente gelernt, die für mich in der Praxis nicht viel Sinn machten…

 


 

Bildquellen: [1] CoverScan; [2] Quetzal-Redaktion, gc

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