Die Abschlussveranstaltung von Fokus Guatemala, zu der am 1. Dezember der Film Las Cruces … poblado próximo gezeigt wurde, bot dem Leipziger Publikum Gelegenheit, über eine Frage zu diskutieren, in der sich die Quintessenz der siebentägigen Film- und Diskussionsreihe zusammenfassen lässt: Umsonst gekämpft? Die im Film dargestellten Konflikte verweisen immer wieder auf diese Sinnfrage eines Jahrzehnte langen Kampfes: Wofür die vielen Opfer? Was ist von den anfänglichen Hoffnungen auf eine bessere Zukunft geblieben? Warum kann das Land den Teufelskreis des Scheiterns nicht durchbrechen? Las Cruces… legt den Finger auf eine besonders schmerzhafte Wunde: das Verhältnis zwischen Guerilla und Maya-Bevölkerung während des Bürgerkrieges. Die Handlung spielt im Jahr 1986, in der kleinen, abgelegenen Siedlung Las Cruces.
Die Hauptakteure sind die Dorfgemeinschaft und eine siebenköpfige Guerilla-Einheit. Zwischen beiden bestehen enge, vertrauensvolle Beziehungen. Die durch den einzigen Überlebenden übermittelte Nachricht, dass die Armee im drei Tage entfernten Nachbardorf ein Massaker verübt hat und nun Gleiches mit Las Cruces vorhat, fordert Grundsatzentscheidungen. Entscheidungen, bei denen es um Leben und Tod geht und die die Motive und das Selbstverständnis der Handelnden offen legen. Schnell wird klar, dass es sowohl innerhalb der Dorfgemeinschaft als auch innerhalb der Guerilla unterschiedliche, ja gegensätzliche Positionen darüber gibt, was in dieser Extremsituation zu unternehmen sei. Die Pole in den sich rasch zuspitzenden Auseinandersetzungen bilden der Kommandant der Guerilleros, Camilo, einerseits und Don Simón, der außer seiner Tochter María seine gesamte Familie im Krieg verloren hat, andererseits. Camilo will – um jeden Preis – ein Fanal des Widerstandes gegen die Völkermordpolitik der Armee setzen, während Don Simón, ein geachtetes Mitglied der Dorfgemeinschaft, für Flucht plädiert und dies dann auch für sich in die Tat umsetzt. Mit fatalen Folgen für ihn und seine Tochter, aber auch für die Zurückgebliebenen, die sich nach gemeinsamer Beratung zum bewaffneten Widerstand entschlossen hatten. Die Stärke des Films liegt darin, die handelnden Akteure, ihre Motive, Charaktere und Konflikte auch Außenstehenden glaubwürdig nahe zu bringen. Allerdings fällt es schwer, all dies ohne genauere Kenntnis der historischen Fakten und Hintergründe bewerten oder einordnen zu wollen. Aus diesem Grund hatten sich die Veranstalter entschlossen, dem Film eine Diskussionsrunde folgen zu lassen, die dem Publikum die Möglichkeit bot, Fragen zu stellen und mehr über die Geschichte des 36 Jahre währenden bewaffneten Konfliktes in Guatemala zu erfahren.
Ausgangspunkt der offenen, gleichermaßen intensiven wie informativen Debatte war die Einordnung des Jahres 1986 in den Kontext der historischen Entwicklung seit Mitte des 20. Jahrhunderts. Diese Retrospektive verweist auf die zentrale Bedeutung eines Ereignisses, das das Schicksal des Landes auf dramatische Weise geprägt hat: 1954 wurden in einer konzertierten Aktion von CIA, guatemaltekischer Armee und Söldnertruppen, die von Honduras aus eingefallen waren, die Reformregierung von Jacobo Arbenz gestürzt und die Volksbewegung blutig unterdrückt. Damit fand ein zehnjähriger demokratischer Umgestaltungsprozess ein Ende, der nicht nur in Guatemala immense Hoffnungen geweckt und das Tor zu einer menschenwürdigen Entwicklung aufgestoßen hatte. Weder zuvor noch danach bestand für die Guatemalteken eine größere Chance, dieses Ziel zu erreichen. Das Trauma von 1954 bildet seitdem den entscheidenden Bezugspunkt aller folgenden Kämpfe, Erwartungen, Erfahrungen und Erinnerungen. Aus dem Widerstand gegen 1954 erwuchsen die links-nationalistische Militärrevolte von 1960, die Massenproteste von 1962 und die im gleichen Jahr gegründete Guerillaorganisation Fuerzas Armadas Rebeldes ( FAR -Rebellenstreitkräfte), welche 1975 in einer zweiten Generation ihre Fortsetzung fand. Auch die Gewerkschafts- und Bauernbewegungen in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre bezogen ihre Legitimation aus dem Erbe der revolutionär wirkenden Reformära unter Arbenz. Zugleich besiegelte die Konterrevolution von 1954 nach zehn Jahren Reformintermezzo erneut die Allianz zwischen der Institution Armee und der Oligarchie – diesmal allerdings auf einer anderen Basis als zuvor: Die Armee agierte nunmehr im Wissen um ihre Unverzichtbarkeit eigenständiger und selbstbewusster, während die Oligarchie unter dem Eindruck der gerade noch abgewendeten Gefahr einer Agrarreform, die 1952 begonnen hatte, auf die direkte Regierungsmacht verzichtete. Dieses Übereinkommen bildete die Grundlage der Ära der repressiven Militärdiktaturen, die von 1954 bis 1985 währte. Als Armee- und Polizeieinheiten im Januar 1980 unter den friedlichen Besetzern der spanischen Botschaft in Guatemala-Stadt ein Massaker verübten, das nur der Botschafter selbst überlebte, war allen klar, dass die Zeit legalen Protestes endgültig vorbei war. Soziale Bewegungen und Guerilla schlossen ein Bündnis, um das blindwütig um sich schlagende Militärregime zu stürzen – damals auch ein Akt der blanken Notwehr.
An dieser Stelle kommt man ohne die Einbeziehung des Zentralamerika-Konflikts nicht mehr weiter. 1979 hatten in Nicaragua die Sandinisten mit breiter Unterstützung innerhalb wie außerhalb des eigenen Landes die 45jährige Familiendiktatur der Somozas gestürzt und eine revolutionäre Umgestaltung eingeleitet, die auf ganz Zentralamerika ausstrahlte. Dies rief die USA auf den Plan, die unter Präsident Ronald Reagan die Konterrevolution organisierten. Auf diese Weise wurde die gesamte Region von Guatemala im Norden bis Costa Rica im Süden zum Austragungsort eines transnationalen Konfliktes. Infolgedessen hatten auch die Kämpfe in Guatemala eine regionale Dimension angenommen. Auf der einen Seite schöpften die Revolutionäre Hoffnung aus dem nicaraguanischen Beispiel, auf der anderen Seite konnten die konterrevolutionären Kräfte auf die Unterstützung der USA rechnen. Dies erwies sich jedoch schwieriger als gedacht, da das guatemaltekische Militärregime wegen seiner Völkermordpolitik international am Pranger stand. Um dem abzuhelfen, leitete die Armee 1982 einen Prozess ein, der im Januar 1986 zur Amtsübernahme einer gewählten Zivilregierung unter dem Christdemokraten Vinicio Cerezo führte. Als eine wichtige Voraussetzung ihres „Demokratie¬projektes“ hatten die guatemaltekischen Streitkräfte der Guerilla im Vorfeld eine schwere Niederlage bereitet. Unter diesen Bedingungen fanden 1986 auch erste Sondierungsgespräche zwischen der neuen Regierung und der Guerilla, die sich 1982 zur Unidad Revolucionaria Nacional Guatemalteca (URNG – Guatemaltekische Nationale Revolutionäre Einheit) zusammengeschlossen hatte, statt. Im Ergebnis ihrer Niederlage von 1981/1982 musste letztere die Option der bewaffneten Machteroberung begraben. Das Ziel der URNG bestand bis zum Abschluss des Friedensabkommens im Dezember 1996 darin, durch Verhandlungen möglichst viel von ihren Reformforderungen durchzusetzen. Auf regionaler Ebene hatte das Abkommen von Esquipulas II im August 1987 die Grundlagen für Friedensgespräche gelegt. Bedeutsam an dieser zentralamerikanischen Initiative war der Umstand, dass sie gegen den Widerstand der Reagan-Administration durchgesetzt wurde.
Die im Film Las Cruces… dokumentierte Haltung des Guerillakommandanten Camilo, der der völkermordenden Armee selbst unter ungünstigen Bedingungen Paroli bieten will, erklärt sich aus seiner Überzeugung, damit die Friedensgespräche in Spanien positiv beeinflussen zu können. Dass die Armee (und mit ihr die vergleichsweise machtlose Regierung) mit der fortgesetzten Strategie der „verbrannten Erde“ ein doppeltes Spiel betreiben, geht im Film bedauerlicherweise unter. Er konzentriert sich vielmehr darauf, die berechtigte Frage nach der moralischen Verantwortung der Guerilla gegenüber der Maya-Bevölkerung zu stellen, die im Bürgerkrieg den größten Blutzoll zahlen musste. Von den 200.000 Toten, die ihm von 1960 bis 1996 zum Opfer fielen, gehören schätzungsweise drei Viertel den verschiedenen Maya-Ethnien an. In der Diskussion wurde die Frage nach den Optionen gestellt, die es für die indigene Bevölkerung im Rahmen des Bürgerkrieges überhaupt gab. In der Hochzeit des von der Armee praktizierten Genozids (1980-1984) mit 476 nachgewiesenen Massakern machte diese keinen Unterschied: Alle Maya-Dörfer im Operationsgebiet der „Aufstandsbekämpfung“ galten als „subversiv“ und wurden – wenn möglich – dem Erdboden gleichgemacht. Der Bevölkerung blieb – soweit sie gewarnt war – nur die Flucht über die Grenze nach Mexiko oder in den Dschungel. Beides wurde von der Guerilla unterstützt. Jene Dörfer, die sich aus dem Konflikt heraushalten wollten, fühlten sich oft von zwei gleichermaßen als fremd, feindlich und gefährlich empfundenen Kräften in die Zange genommen – eine Position, die im Film von Don Simón verkörpert wird. Ab 1983 ging die Armee zudem dazu über, in den von ihr kontrollierten Gebieten die indigene Dorfbevölkerung in sogenannte Selbstverteidigungspatrouillen (PAC) zu pressen. Sie dienten sowohl der besseren Kontrolle der Bevölkerung als auch dem Einsatz gegen die Guerilla. Die Höchstzahl der PAC-Mitglieder wurde von der Regierung mit 900.000 angegeben. Ziel der Genozid-Politik der 1980er Jahre war die gewaltsame Trennung der Guerilla von ihrer sozialen Basis. Den Preis hatte in erster Linie die schutzlose Maya-Bevölkerung zu zahlen.
Als zehn Jahre nach den im Film gezeigten Ereignissen in Guatemala-Stadt das Friedensabkommen zwischen URNG und Regierung feierlich unterzeichnet wird, zeigt sich die schmerzliche Ambivalenz der Bilanz aus der Sicht der Guerilla, die ihren Kampf mit dem hehren Ziel der Notwendigkeit einer Revolution begründet und begonnen hatte: Zwar konnte die Komponente der Aufstandsbekämpfung, die 1986 noch als immanenter Bestandteil des Demokratisierungsprozesses fungiert hatte, aus diesem entfernt und die Bedeutung der Armee reduziert werden. Auch die Fixierung der Rechte der indigenen Völker in einem entsprechenden Teilabkommen vom März 1994 gehört zu jener Erfolgsbilanz, die die URNG in Kooperation mit der jungen Maya-Bewegung durchsetzen konnte. Der Preis für diese wichtigen Teilerfolge war jedoch hoch: Der an die Regierung zurückgekehrten Oligarchie war es gelungen, jegliche sozioökonomische Strukturreform von der Friedensagenda zu verbannen. Neben den Folgen der „Schattenglobalisierung“ (transnationale Drogenökonomie, organisiertes Verbrechen, Migration in die USA), der neoliberal ausgerichteten „offiziellen“ Politik der politischen und ökonomischen Elite sowie der Praxis der Straflosigkeit (impunidad) bildet die 1996 festgeschriebene Reformblockade eine Hauptursache für den fortschreitenden Zerfall des guatemaltekischen Staates.
All diese Themen bildeten den Inhalt von weiteren Filmen, die im Rahmen von Fokus Guatemala gezeigt wurden: La Bodega, Sipakapa no se vende, Das kurze Leben des José Antonio Gutiérrez. Wenn man sich vor Augen führt, dass die allgegenwärtige Gewalt inzwischen mehr Opfer fordert als der Bürgerkrieg, dann sind wir wieder bei der Ausgangsfrage: Umsonst gekämpft?
Jeder, der nach einer Antwort darauf sucht, kommt an zwei weiteren Filmen des Wochenprogramms nicht vorbei: La Isla, der an drei Abenden mit großer Resonanz lief, sowie Auf halbem Weg zum Himmel. Während La Isla (s. die Rezension von Florian Quitzsch: La Isla – Archive einer Tragödie) im historischen Rückblick die lange Tradition der Repression von Oligarchie, Armee und Staat gegenüber dem eigenen Volk offenlegt und dabei auch auf die Ereignisse von 1954 und 1980 eingeht, setzt Auf halbem Weg zum Himmel (s. das Dossier: Guatemala – Der Fall Xamán) einen anderen Akzent. Hier wird auf eindringliche, sehr persönliche Art gezeigt, dass Widerstandswillen und Hoffnung auf ein besseres Guatemala gerade dort tiefe Wurzeln geschlagen haben, wo man es kaum erwartet: bei den Opfern von Repression und Gewalt. Indem diese anfangen sich zu wehren, geben sie der Drangsal der Vergangenheit einen Sinn. Dann war der Kampf nicht umsonst. In ihrer Summe vermitteln alle bei Fokus Guatemala gezeigten Filme den Eindruck, dass nun endlich die gesellschaftliche Debatte über die hellen und dunklen Seiten der eigenen Geschichte in Guatemala begonnen hat. Die Zukunft wird zeigen müssen, welchen Verlauf sie nimmt und inwiefern aus ihr Antworten gewonnen werden können, die helfen, den Weg zu einer menschenwürdigen Entwicklung zu öffnen. Die Film- und Diskussionsreihe Fokus Guatemala, die von den beiden Leipziger Vereinen Quetzal e.V. und Deutsch-Spanische Freundschaft gemeinsam organisiert wurde, hat deutlich gemacht: Der Prozess der Wiedergewinnung des „historischen Gedächtnisses“ ist längst im Gange und hat das Potential, das zentralamerikanische Land einer besseren Zukunft näher zu bringen.
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Bildquellen:
[1] Fokus Guatemala, Dez. 2010; [2], [3], [4] Quetzal-Redaktion, gt
Ich fragte den alten Cakchiquel-Maya in Panajachel am Atitlan-See: „Sie sprechen alle in Cakchiquel mit einander, aber euere kleinen Kinder sprechen alle das Spanisch?“ Der alte Cakchiquel laechelte: „Bis die Kinder in die Schule gehen, sprechen wir nur in Spanisch mit ihnen, damit sie das Spanisch in der Schule verstehen. Aber von dann an, sprechen wir mit unseren Kindern nur in Cakchiquel!“. — Vier Cakchiquelfrauen kauerten jeden Abend am Anlegenplatz der Seefaehre mit welcher sie in ihre Doerfer heimsegelten. Waehrend das Tages verkauften sie kunstvolle Gewebe an Turisten. Jedesmal wenn ich an ihnen vorbei ging sagten sie in Spanisch: „Compre algo!“ (Kaufen Sie etwas!) Und ich antwortete immer hoeflich in Cakchiquel: „Matiox txawa!“ (Danke! Morgen!). Sie lachten jedesmal. Doch einmal sagte eine der Frauen eine Bemerkung in Cakchiquel zu den anderen, welche sofort ihre Koepfe nach unten senken liessen und amuesiert kicherten. Ich fragte die Frauen in Spanisch: „Was hat sie gesagt?“ Zoegern, dann mit serioeser Miene antwortete die Aelteste: „Sie hat gesagt: „Na das ist ein Mann!“ Nochmals kichern. Die Frau welche die Bemerkung bemacht hatte, blickte hoch zu mir und fragte: „Hast du eine Frau?“ Ich antwortete :“Ja!“ (Eine Luege). Sie nickte verstaendnisvoll und blickte zu den anderen welche laechelten und auch verstaendnisvoll nickten…