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Andreas Boueke: Guatemala. Recherchen auf heißem Pflaster

Andrea Lammers | | Artikel drucken
Lesedauer: 7 Minuten

Literatur: Andreas Boueke - Horlemann Verlag. Foto: public domainDas neue Buch von Andreas Boueke „Guatemala.  Recherchen auf heißem Pflaster“ ist ein dicker Schmöker von über 300 Seiten. Trotz des unvermeidlichen Gewichtes ist es ein Muss für alle, die zum ersten Mal nach Guatemala reisen, sei es als Touristen oder zum Spanischlernen in einer der zahlreichen Sprachschulen. Es eignet sich bestens als Einstiegslektüre für die Scharen von Freiwilligen in diversen Projekten sowie für alle, die  aus anderen professionellen Gründen zum ersten Mal mit Guatemala zu tun bekommen. Guatemala-Experten, die das Land schon seit langem kennen (oder zu kennen meinen), bekommen einige Einblicke in Bereiche des Alltagslebens, zu denen sie üblicherweise keinen Zugang haben.  Viele davon fallen allerdings eher albtraumartig aus.

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Als das Rezensionsexemplar vom Horlemann Verlag im Briefkasten liegt, habe ich keine Zeit. Ich will es erst später mit Muße „richtig“ lesen. Einige Geschichten kenne ich ja schon, weil sie in ähnlicher Form in der guatemaltekischen Zeitung „El Periodico“ erschienen sind oder weil ich das eine oder andere Manuskript für deutsche Medien schon gelesen, manches als Radiofeature gehört habe. Neugierig werfe ich trotzdem einen Blick in den Band mit dem schwarzen Cover, um zu sehen, welche Themen auf meine Lektüre warten: Ein Gesamtüberblick über Andreas Bouekes Recherchen zu Erdölverschmutzungen im Urwald, die internationale Firmen zum Handeln zwangen, aber auch einen Informanten das Leben kosteten, Reportagen über die Arbeitsbedingungen auf den Kaffeeplantagen, über die Folgen der gewalttätigen Vergangenheit Guatemalas für die nicht minder mörderische Gegenwart, über Jugendbanden  und über das Leben „ganz unten“, auf dem Boden einer Schlucht. Auch die Reportage „Patti und ihre 13 Geschwister“ ist mit dabei. Für sie hat  Andreas Boueke den diesjährigen „Ulrich Wickert Preis für Kinderrechte“ erhalten.

Auf meinen kurzen Blick ins Buch folgen ein Nachmittag wie in Trance und eine schlaflose Nacht. Ich vergesse, dass ich „keine Zeit“ habe, blättere kreuz und quer, bin wieder mittendrin in Guatemala.  Ich lese mich fest in einer Welt, von der mir manches schon lange vertraut ist, und  betrete neue, mir völlig unbekannte Räume: Megafrater zum Beispiel, das riesige Zentrum einer neopfingstlerischen Kirche in Guatemala-Stadt, ein 29-Millionen-DollarBauwerk mit bis zu 20.000 sonntäglichen Gottesdienstbesuchern und einem gewissen Hang zur Gläubigenabzocke: Wer seinen Zehnten nicht zahlt, der kann das Himmelreich schon mal abschreiben.

Andreas Boueke kenne ich als Journalistenkollegen und Film-Stringer, blonden Zweimetermann und ostwestfälischen Dickschädel, auf dessen zeitweise Einsilbigkeit genauso Verlass ist wie auf seine Integrität und Zuverlässigkeit in brenzligen Situationen. Vor  zwanzig Jahren hat er aus der Makroperspektive eines jungen Globetrotters das schmale Bändchen „Betr. Amerika“ herausgebracht. Inzwischen hat sich sein Blick über mehrere Stufen („Kampf der Kleinsten“, „Kaleidoskop Mittelamerika“, „Guatemala – Journalistische Streifzüge“) in Richtung der Mikroperspektive des überwiegend in Guatemala sesshaften Familienvaters gewandelt. Er recherchiert immer mal wieder brisante Themen wie den oben genannten Erdölskandal, was riskant  genug ist, erst recht, wenn man Verantwortung für zwei Kinder trägt und einem das Schicksal seiner Informanten nicht egal ist. Vor allem aber nimmt er wahr und beschreibt, was sich in seiner allernächsten Umgebung, einem Arbeitervorort nahe der Hauptstadt, abspielt – fernab der abgeschotteten Quartiere der deutschen Kolonie. Die Entführung der 15jährigen Tochter seines Freundes Diego zum Beispiel. „Die Täter suchen sich ihre Opfer unter ihresgleichen. Das ist einfacher und weniger gefährlich als Reiche zu entführen“, konstatiert das Buch lapidar. Diegos Familie versucht verzweifelt das Lösegeld für die Tochter zusammenzubekommen. Der Autor spricht mit einer Juristin, die davon abrät, sich an die Polizei zu wenden: „Die Hintermänner der Entführer sind nicht selten hohe Mitarbeiter innerhalb des Polizeiapparates und der Armee.“ Andreas und Diego informieren zwar die Polizei, der geht es jedoch nur ums Zuschlagen, nicht um die Sicherheit des Opfers. Das Lösegeld wird ohne Polizeipräsenz bezahlt, das Mädchen kommt frei. Es wurde gefoltert, vergewaltigt. Nun wird die ganze Familie erpresst, muss für die Verbrecher arbeiten. Die Tochter wird gezwungen, Drogen in ein Gefängnis schmuggeln. Schließlich gelingt es, sie ins Ausland zu schicken. Ihre Mutter Isabell sagt zu Andreas: „Ich fühle mich so, als wäre meine Familie zerstört worden. Dasselbe habe ich schon damals im Krieg erlebt, während der achtziger Jahre, an der Seite meines Vaters und meiner Geschwister. Manchmal sagt mir mein Herz: >Es geht nicht mehr. Du schaffst es nicht.< Es gibt Zeiten, da kann ich nicht mehr. Dann wünsche ich mir, tot zu sein.“

Als ich nach vielen Wochen den Band für ein neuerliches distanziertes Lesen bei Tag zur Hand nehme und ganz ordentlich mit dem Anfang, dem Drama der Familie Méndez beginne, deren Sohn Pepe ermordet wurde, weil er sich der Mafia auf dem Flughafen von Guatemala-Stadt widersetzte (siehe Quetzal vom Juli 2010 „Parallelmächte und Kolumbianisierung“) , muss ich es schon nach drei Seiten wieder zuklappen. Die eigenen Erinnerungen aus der Zeit der Begleitung des „Rates der indigenen Gemeinschaften >Wir sind alle gleich<“ (CERJ) überfallen mich wie aus einem Hinterhalt: Haben die Familie Méndez und viele Tausend andere sich für eine Veränderung der Gewaltverhältnisse und ein Ende des (Para)Militarismus in Guatemala eingesetzt, Attentate und Exil überlebt, damit sie nun erneut Opfer der Straflosigkeit werden?

Was mag außer dem Schrecken über eine zerrüttete, tief traumatisierte Welt in diesem Buch für Leser stecken, die weniger persönlich gebeutelt sind von vielen „dejá vues“ und die Textsammlung, wie eingangs empfohlen, als ersten Einstieg in die guatemaltekische Realität nutzen?

Da wäre zum Beispiel eine brauchbare neunseitige Zusammenfassung über die jüngste Geschichte des Landes unter dem treffenden Titel „Eine Demokratisierung war nie das Ziel“, die freilich eine weitergehende Lektüre nicht ersetzen kann. Nicht recht einleuchten will mir in diesem Zusammenhang übrigens, warum bei einer kurzen Erwähnung des Gerichtsverfahrens gegen Ex-Diktator Rios Montt im Kapitel „Erbe der Gewalt“ nur von „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, nicht aber von Völkermord die Rede ist. Besonders spannend finde ich einen kurzen Text über die heutigen Konzepte derer, die den Genozid überlebt haben. Die Ixil versuchen mit einer eigenen Universität ein alternatives Modell zum Lernen in einem neokolonialen System aufzubauen. Sie finden, auch die gutgemeinten zahlreichen Stipendienprogramme ausländischer Hilfsorganisationen für bedürftige Schulkinder hätten ihre Kultur geschwächt und gehen nun autonome Wege, um verschüttetes traditionelles Wissen wiederzugewinnen und mit ihrer heutigen Lebenswirklichkeit zu verbinden.

Viele Reportagen in Andreas Bouekes Buch drehen sich um Kirchenkritik, Kinder und Kinderreichtum, manchem mögen es vielleicht sogar ein wenig zu viele sein. Zumindest war ich ein wenig verblüfft, warum eine Reportage aus dem Polochic-Tal, einem der Brennpunkte des Agrosprit-Business in Guatemala, die anfangs durch ihre sympathische Ehrlichkeit über die Militanz der Betroffenen auf der Finca Bella Flor einnimmt, am Ende ausgerechnet bei diesem Thema herauskommt. Statt darüber, ob Eímas Mutter mehr Kinder will oder nicht, hätte man gerne – durchaus auch mittels Zahlen und Fakten – etwas darüber erfahren, was der Landraub dort mit unserem Rohstoff-Hunger hier zu tun hat. In den gelungensten Geschichten des Buches wie „Gold, Glanz und Gier“ verbindet sich die Qualität der lebendigen Nähe zu den Menschen vor Ort und ihren Alltagsproblemen genau mit diesen Fakten, gut aufbereiteten Zahlen und größeren Zusammenhängen. Wir erfahren z.B. etwas über die ökonomisch gar nicht nötigen Kredite der Weltbankgruppe IFC für die kanadische Firma Glamis Gold und ihre politische Begründung. Boueke zitiert aus einem Protokoll der Vorstandssitzung der IFC: „Das vorrangige Interesse des Unternehmens war der Aufbau einer Partnerschaft mit der IFC, um politische Risiken abzuschwächen und um eine Soziallizenz für ihre Operationen zu bekommen.“

Im Falle der guatemaltekischen Mine Marlin ist das gründlich misslungen, den Schaden haben die Menschen vor Ort aber trotzdem. Die Maschinerie des neokolonialen Extraktivismus läuft über große Teile Zentralamerikas und ganz Lateinamerikas weiter und weiter. Wie eine Dampfwalze rollt sie über soziale Bewegungen, politische Alternativen, Lebensentwürfe indigener Völker hinweg. Auch in der über viele Jahre von Andreas Boueke und dem Welthaus Bielefeld unterstützten Gemeinde Wachalal ist nun ein Wasserkraftwerk unter Beteiligung der italienischen ENEL in Bau, wie wir ganz am Ende des Buches erfahren. Begleitet wird die Offensive der so genannten „Green Economy“ von einem militärischen und „Sicherheitsprojekt“, das in seinen länderübergreifenden Zusammenhängen näher zu durchleuchten, bestimmt eine lohnende Aufgabe wäre. Vielleicht wird es, im nächsten Buch, wieder Zeit für eine – nun ganz anders geartete – Makroperspektive?

Andreas Boueke
Guatemala – Recherchen auf heißem Pflaster
Horlemann Verlag. Berlin, 2013

Bildquelle: [1] Buchcover

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