In der Geschichte Zentralamerikas nimmt das Jahr 1871 einen besonderen Platz ein. Es gilt gemeinhin als der Beginn einer neuen Ära, die durch den Sieg des (politischen) Liberalismus, die Geburt der „Kaffeerepublik“ und den Triumph der Kaffeekultur gekennzeichnet ist. Erst 1944/5 ging diese unter dem Signum der „Liberalen Republik“ bekannte Epoche zu Ende. Eingeläutet wurde die 75 Jahre währende Herrschaft der Liberalen auf dem Isthmus durch einen tiefgreifenden Transformationsprozeß, der je nach Geschichtsverständnis und politischer Provenienz als „Reform“ oder „Revolution“ bezeichnet wird. Aber dies ist nicht die einzige Schwierigkeit, auf die der geschichtsinteressierte Leser stößt. Bei näherem Hinsehen stellt sich ihm die Frage, inwiefern das im (west)europäischen Kontext relativ eindeutig definierte Adjektiv „liberal“ mit den diktatorischen Herrschaftsverhältnissen vereinbar ist, unter denen die Länder Zentralamerikas in der Zeit zwischen 1871 und 1944/5 zumeist litten. Ein drittes Problem besteht darin, daß der Zeitpunkt der Zäsur nicht für alle Länder gleichermaßen gilt. Nur in Guatemala, wo die aufständischen Liberalen die über dreißigjährige Diktatur der Konservativen mit Waffengewalt stürzten und am 30. Juni 1871 triumphierend in die Hauptstadt einzogen, markiert dieses Datum eine klare und tiefgreifende Zäsur. In Costa Rica und El Salvador finden sich für 1871 zwar gleichfalls bedeutsame Ereignisse, die aber mit der Reforma Liberal in Guatemala kaum vergleichbar sind. Wenn man jedoch den Zeitraum der Zäsur auf das gesamte nachfolgende Jahrzehnt ausdehnt, dann kann man schon in allen fünf Ländern der Region ähnliche Transformationsprozesse ausmachen, die allerdings in Tiefe, Tempo und Dauer stark variieren. Sehen wir uns also zunächst die historischen Fakten an, um die hier aufgeworfenen Fragen abschließend zu beantworten.
Die Trennschärfe der Zäsur von 1871, die in Guatemala geradezu ins Auge sticht, ergibt sich dort aus der Gleichzeitigkeit dreier Prozesse, die in den anderen Ländern zeitlich auseinanderfallen oder wie in Honduras lediglich partiell bzw. gar nicht zum Tragen kommen: Nur in Guatemala bündeln sich 1871 die Machtergreifung der aufsteigenden Klasse der Kaffeepflanzer (cafetaleros), die Dominanz der Kaffeeexportökonomie und die Umgestaltung der Agrarstruktur zum einheitlichen Transformationsprozeß der „Liberalen Reform“. Die guatemaltekischen Liberalen, zumeist entweder schon vor oder wenigstens nach der Machteroberung Kaffeepflanzer, setzen die Staatsmacht ein, um dem Kaffee, auf den 1871 bereits mehr als 50% der Exporte entfielen, vollends zum Durchbruch zu verhelfen und die gesamte Gesellschaft nach den Erfordernissen der Exportwirtschaft auszurichten. Noch 1871 werden die Jesuiten vertrieben, die Trennung von Staat und Kirche vollzogen und wichtige Grundlagen für eine moderne Armee gelegt. Der eigentliche Umgestaltungsprozeß begann 1873 mit der Wahl des liberalen Caudillo und Cafetalero Justo Rufino Barrios (1835-1885) zum Präsidenten, der mit einem seiner ersten Dekrete den Grundbesitz der Kirche enteignete, die in Guatemala mächtiger als in allen anderen Ländern der Region war. Im gleichen Jahr erklärte die Regierung das Gebiet der Costa Cuca an der pazifischen Abdachung, eines der lukrativsten Kaffeeanbaugebiete, ungeachtet der bestehenden Besitzverhältnisse zu baldíos (Staatsland) und gab es umgehend zur Privatisierung frei. Begünstigt wurden jene Ländereien, auf denen Exportprodukte – meist Kaffee – angebaut wurden oder werden sollten. Diese konnten von ihren gegenwärtigen oder zukünftigen Nutzern zu einem wesentlich niedrigeren Preis erworben werden, als jene, die der Produktion von Lebensmitteln und anderen Basisgütern der einheimischen Bevölkerung dienten. Die Verkaufs- und Vergabepolitik des Staates war darauf gerichtet, den cafetaleros möglichst viel Grund und Boden zuzuschanzen. Die comunidades, die in der Costa Cuca ihre Ländereien hatten, gingen meist leer aus. Ganze Dörfer wurden als Arbeitskräftereservoir den großen Kaffeefincas zugeschlagen. Noch drastischer fiel die Privatisierungspolitik in der Alta Verapaz aus, wo sich einige comunidades bereits dem Kaffeeanbau zugewandt hatten. Alles Land, was von einheimischen ladinos oder eingewanderten Ausländern (meist Deutsche) für die eigene, oft riesige Kaffeeplantage beansprucht wurde, fiel per Regierungsentscheid samt seiner indianischen Bewohner an die neuen Eigentümer. 1877 folgte die zweite Privatisierungswelle. Landesweit wurden alle Ländereien, die über die Institution des censo enfitéutico von den comunidades langfristig an Privatpersonen verpachtet worden waren, per Dekret Nr. 170 letzteren übereignet.
Im selben Jahr setzte die Regierung das mandamiento, das in der Kolonialzeit der Zwangsrekrutierung von indianischen Arbeitskräften diente, wieder in Kraft. Im Reglamento de Jornaleros vom 3. April 1877 erhielten die auf den Kaffeefincas praktizierten Formen der Arbeitskräfterekrutierung einen legalen Status. Dies betraf neben dem mandamiento vor allem das colonato und die peonaje. Die erforderlichen Saisonarbeitskräfte, deren Zahl in der Zeit der Kaffee-Ernte (Oktober bis Februar) vier- bis fünfmal so groß war wie die der permanent Beschäftigten, wurden in der Regel über zwei Mechanismen rekrutiert. Einmal sorgte die staatliche Administration per mandamiento dafür, daß die comunidades – außer für den Bau öffentlicher Einrichtungen – auch regelmäßig Arbeitskräfte für die großen Kaffeefincas zur Verfügung stellten. Im Laufe der Zeit gewann das System der habilitaciones an Bedeutung, mit dem Privatpersonen – meist ladinos und in einigen Fällen auch Führer von comunidades – auf eigene Rechnung oder im direkten Auftrag der finqueros Arbeitskräfte anwarben. Dies geschah über sogenannten Vorschüsse, die meist nichts anderes als eine mehr oder weniger verdeckte Form der Schuldknechtschaft (peonaje por deuda) darstellten. Die Schuldknechtschaft wurde zum Teil auch bei den permanent Beschäftigten praktiziert. Die Mehrzahl dieser Kategorie von Arbeitskräften setzte sich aus colonos (auch als mozos oder mozos colonos bezeichnet) zusammen, die durch die Nutzung einer kleinen Parzelle für die eigene Subsistenz an die finca gebunden wurden. Als Gegenleistung hatten sie bestimmte Arbeitsdienste auf der Kaffeeplantage zu verrichten. Einige cafetaleros besaßen sogar fincas de mozos im indianischen Hochland (über 1.500 Meter), deren einziger Zweck darin bestand, die Kaffeefinca, die meist weit entfernt lag, bei Bedarf mit Arbeitskräften zu versorgen. Das herausragende Merkmal der guatemaltekischen Kaffeeökonomie bestand darin, daß dem Staat bei der Zwangsrekrutierung eine größere Bedeutung zukam als anderswo auf dem Isthmus.
Im Falle El Salvadors wird der Sturz des konservativen Präsidenten Francisco Dueñas (1863-71) verschiedentlich zum Anlaß genommen, um mit den Jahr 1871 „eine neue Periode in der politischen Geschichte“ des Landes beginnen zu lassen. Dem wird jedoch zu Recht mit dem Argument widersprochen, daß dort die „Liberale Revolution von 1871“ weniger als Bruch, sondern eher schrittweise verlief. Abgesehen davon, daß sich die wenigen salvadorianischen Konservativen gar nicht so sehr von den Liberalen unterschieden, kommt dem Jahr 1880 eine größere Bedeutung in der Geschichte des Landes zu. Dies gilt gleichermaßen für den Siegeszug des Kaffees, die Konstituierung der salvadorianischen Elite, die Schwächung der bäuerlichen Autonomie und die Bildung des Nationalstaates. Der Kaffee, obwohl nur auf einer Fläche von 10.000 Hektar angebaut, überflügelte 1879 für immer den Indigo als führendes Exportprodukt und überschritt beim Anteil am Gesamtexportwert ein Jahr später die 50%-Marke. Im Jahr 1880 entschloß sich die Regierung unter Rafael Zaldívar (1876-85), der bereits in Guatemala reiche Erfahrungen als cafetalero hatte sammeln können, zu einer tiefgreifenden Transformation der Agrarstruktur. Anders als in Guatemala war der liberale Staat entschlossen, das Gemeineigentum im ganzen Land zu verbieten. Die Dimension dieses Schrittes wird daran deutlich, daß die ejidos und die Ländereien der comunidades, die in der Praxis nicht klar voneinander getrennt waren, etwa ein Drittel der Landmasse El Salvadors ausmachten, gefolgt von den baldíos (Staatsland) und Land in Privateigentum mit je einem Viertel. Zwischen 1878 und 1882 wurden die entsprechen Dekrete erlassen. Die Transformation der Agrarverhältnisse war jedoch kein einmaliger oder einseitiger Akt, sondern ein langwieriger, konfliktreicher und regional differenzierter Prozeß, dessen Ausgang von den örtlichen Strukturen und Kräfteverhältnissen abhing.
In Costa Rica begann 1871 die Regierungszeit von Tomás Guardia, die bis 1882 währte. Guardia gelang es, die innere Stabilität des Landes wiederherzustellen und zu sichern, indem er einerseits den Staatsapparat weiter ausbaute und zentralisierte, andererseits die mit immensen Friktionen verbundenen Dominanz der großen „Kaffee-Clans“ zurückdrängte und die Trennung von Staat und Fraktionsinteressen durchsetzte. Die Verfassung von 1871 zählt zu jenen Reformen Guardias, die die Zukunft des Landes am nachhaltigsten geprägt haben. Sie markiert den vorläufigen Abschluß der inneren und äußeren Konsolidierung des Staates. Die Verbesserung der Infrastruktur und der Ausbau des Staatsapparates schufen ein Gegengewicht zur Dominanz der Partikularinteressen der Kaffeeoligarchie. Hauptanliegen der Modernisierungs- und Öffnungspolitik war der weitere Ausbau des Transportwesens, wobei der Schwerpunkt auf einer Eisenbahnverbindung zwischen dem Valle Central, das immer noch das Hauptanbaugebiet des Kaffees war, und der Atlantikküste lag, um endlich eine Alternative zur Pazifikroute um Kap Horn und zur Monopolstellung der Panama-Eisenbahn zu schaffen. Parallel dazu setzte ein starke Bürokratisierung ein, wofür die Verdreifachung der Zahl der im öffentlichen Dienst Beschäftigten von 750 (1864) auf 2.310 (1882) mehr als ein Indiz ist. Der Aufbau einer professionellen Armee mit Hilfe preußischer Militärberater, auf die sich Guardia in den innenpolitischen Auseinandersetzung verlassen konnte, verschaffte ihm den notwendigen Handlungsspielraum gegenüber der Kaffeeoligarchie. Die Regierungszeit von Guardia zeichnete sich dadurch aus, daß bei wachsender ökonomischer Macht der „Kaffeebarone“ auf der Grundlage einer Stärkung des zentralistischen Staates dessen funktionale „Abnabelung“ von der Kaffee-Elite erfolgte. Was die „Liberale Reform“ anbetrifft, ist Nicaragua der latecomer unter den zentralamerikanischen Republiken. Erst 1893 eroberten sich die Liberalen unter Präsident José Santos Zelaya, der 1909 auf Druck der USA zurücktreten mußte, die Staatsmacht von den seit 1858 regierenden Konservativen zurück. Diese „Verspätung“ machte sich mehrfach negativ bemerkbar: erstens im zögerlichen und widersprüchlichen Verlauf der Agrartransformation (1870er Jahre bis 1909), zweitens in der verspäteten Errichtung des „Kaffeestaates“ (1893 bis 1909) sowie drittens in der verzögerten und unbeständigen Durchsetzung der Kaffeedominanz im Export (ab 1911). Bereits die zeitliche Streckung der einzelnen Zäsuren, die vom Beginn der Kaffeeökonomie in den 1850er Jahren bis zum ersten Dezennium des 20. Jahrhunderts reicht, ist deutlich länger und die zentralen Einschnitte erfolgen später als in den drei anderen Kaffeeländern. Die ersten Kaffee-Exporte verließen zwar schon 1871 das Land und 1877 verkündete die Regierung von Pedro Joaquín Chamorro (1875-79) eine Ley agraria, das auf die Förderung der Kaffeeökonomie gerichtet war und analogen Gesetzen der salvadorianischen und guatemaltekischen Liberalen jener Jahre glich. Aber immer wieder mußten entsprechende Vorstöße zurückgenommen werden, weil der Staat zu schwach und der Widerstand der comunidades (noch) zu stark war. Das Hin und Her dauerte bis weit in die 1920er Jahre. Nachdem Zelaya, der selbst Kaffeepflanzer war, die Durchsetzung der Kaffeeökonomie kurzzeitig beschleunigt hatte, verloren die cafetaleros infolge seines erzwungenen Rücktritts „ihren“ Staat wieder. Unter dem anschließenden Protektorat der USA (1912-1933) geriet die Kaffeeökonomie zur Episode und ein starker Nationalstaat blieb Illusion.
In Honduras gilt das Jahr 1876 als Beginn der Reforma Liberal. Die Liberalen unter Präsident Marco Aurelio Soto (1876-83) und seinem „Superminister“ Ramón Rosa, die beide unter Barrios Spitzenämter in der guatemaltekischen Regierung bekleidet hatten, setzten alle Hoffnung in den Kaffee. Die „Kaffeerevolution“, in allen anderen Ländern Zentralamerikas Zielpunkt der Reforma Liberal, fand in Honduras jedoch nicht statt. Das Programm von Soto und Rosa, in großen Teilen eine Imitation der liberalen Reformen in Guatemala, griff unter honduranischen Bedingungen nicht. Ungünstige geographische Verhältnisse verbanden sich mit der Schwäche des Staates, dem Eindringen des Auslandskapitals und einer falschen Politik der Liberalen, die zumeist selbst keine Kaffeepflanzer waren, zu einem gordischen Knoten. Nach dem Fehlschlagen der „Liberalen Reform“ degenerierte Honduras zum Prototyp der Bananenrepublik.
Ausgehend vom „klassischen“ Fall Guatemala läßt sich folgende Bild der „Liberalen Reform“ in Zentralamerika zeichnen: Ihre maßgeblichen Träger waren die Kaffeepflanzer, die mit der „Liberalen Reform“ zwei miteinander verbundene Ziele verfolgten: die Errichtung eines starken Staates, mit dessen Hilfe die Expansion der Kaffeeökonomie durchgesetzt werden sollte. Während dies in Costa Rica schon vor 1871 weitgehend gelungen war, folgte El Salvador dem guatemaltekischen Beispiel mit geringer zeitlicher Verzögerung. Alle drei Länder erreichten auf diese Weise eine Integration in den kapitalistischen Weltmarkt und legten ihre weitere Entwicklung auf den „Kaffeepfad“ fest, der in El Salvador und Guatemala zur Diktatur, in Costa Rica hingegen zur Demokratie führte. In Nicaragua bedingte die Verspätung der Reforma Liberal ein Scheitern der „Kaffeerevolution“ und einen Rückschlag in der Nationalstaatsbildung. In Honduras fehlten ihr die sozialen und ökonomischen Grundlagen, so daß sie ihren Importcharakter nicht überwinden konnte und in der Bananenrepublik endete. In ihren nationalstaatlichen Defiziten ähneln sich Nicaragua und Honduras, was seine Ursache im Scheitern bzw. Ausbleiben der „Kaffeerevolution“ hat. Dort, wo die „Liberale Reform“ eine solche bewirkt hat (Costa Rica, Guatemala, El Salvador), besitzt sie transformatorische Tiefenwirkung, die aber bestenfalls zur Charakterisierung als „Revolution von oben“ reicht. Da sich die cafetaleros nach der Machtergreifung zur Oligarchie entwickelten und zumeist mit diktatorischen Mitteln regierten (spätere Ausnahme Costa Rica), ist der Begriff des Liberalismus konkret-historisch zu interpretieren und nicht mit dem (west)europäischen Verständnis gleichzusetzen.