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Der chilenische Dichter Nicanor Parra wird 100

Gabriele Töpferwein | | Artikel drucken
Lesedauer: 7 Minuten

Ein Gedicht zu schreiben ist eine verzeihliche Torheit

Was ist ein Antipoet?
Ein Händler von Urnen und Särgen?
Ein Priester, der an nichts glaubt?
Ein General, der an sich selbst zweifelt?
Ein Vagabund, der über alles lacht, selbst über Alter und Tod?
Ein Gesprächspartner mit schlechtem Charakter?
Ein Tänzer am Rande des Abgrunds?
Ein Narziss, der alle liebt?
Ein bösartiger, bewusst schlechter Spaßvogel?
Ein Poet, der auf einem Stuhl schläft?
Ein Alchimist der Neuzeit?
Ein Westentaschenrevolutionär?
Ein kleiner Bourgeois?
Ein Scharlatan?
       ein Gott?
              ein Unschuldiger?

Ein Bauer aus Santiago de Chile? [1]

Chile: Nicanor Parra (rechts) - Foto: Paulo SlachevskyOder einfach ein Nicanor Parra? Ist der doch der bedeutendste und vermutlich einzig wahre Antipoet. Mit seinem zweiten Gedichtband, dem 1954 erschienen Poemas y antipoemas, hat er diese neue, seinerzeit wohl regelrecht schockierende Poesie in die Welt gebracht. Nein, nicht Poesie – Antipoesie wollte er schreiben, bewusst gegen die etablierten und, wie er meinte, elitären Dichter wie z.B. sein Landsmann Pablo Neruda gerichtet. Ein Dichter, so Parra in einem Gedicht, ist kein Alchimist, sondern „ein Mensch wie alle anderen[1]“, und deshalb sollte er auch so sprechen wie andere. In seinen Antigedichten verwendet Parra deshalb umgangssprachliche Formen, Redewendungen, Slogans, Werbesprüche. Es geht nicht mehr um die lyrische Überhöhung der Wirklichkeit, sondern um die schonungslose Darstellung derselben, „die Aufdeckung der Widersprüche und Schrecken der modernen Welt“[2]. Der Dichter hat die Aufgabe, die verlogenen bürgerlichen Werte, von den Reichen zur Unterdrückung der Armen erfunden, zu entlarven und über den Haufen zu werfen. Der Humor schien Parra ein geeignetes Stilmittel für diese Aufgabe, seine Texte sind häufig ironisch, auch böse, und parodistisch.

Chile: Ausstellungsraum der Ausstellung mit visuellen Arbeiten von Nicanor Parra, Museo de la Moneda 2006 - Foto: Carolina LópezFederico Schopf bescheinigt dem Band Poemas y antipoemas eine ebenso große Bedeutung wie Nerudas Aufenthalt auf Erden. Nicanor Parra gilt als einer der bedeutendsten Dichter Chiles. Ebenso wie sein Landsmann Pablo Neruda schlug man ihn bereits mehrmals für den Nobelpreis für Literatur vor[3], allerdings wurde ihm diese Ehrung bisher nicht zuteil[4]. Mit Preisen bedacht wurde er allerdings reichlich, zuletzt mit dem Premio Miguel de Cervantes (2011), der bedeutendsten Auszeichnung für spanischsprachige Literatur, und dem Premio Iberoamericano de Poesía Pablo Neruda (2012). Letzteres entbehrt nicht einer gewissen Ironie. War Parra doch angetreten, mit seinen Antigedichten insbesondere auch den lyrischen Kosmos eines Pablo Neruda zu zerstören. Neruda hatte übrigens zu Parras erstem Gedichtband (Cancionero sin nombre, 1937), lobende Worte geschrieben, die im Klappentext veröffentlich wurden. In späteren Ausgaben ließ der Antipoet diese Würdigung allerdings streichen, vermutlich erschien ihm die Rebellion gegen die Poesie Nerudas mit dieser Würdigung nicht mehr glaubwürdig. „Jeder Gedichtband, der in Chile erschien, wurde mit einer einzigen Maßeinheit gemessen: Neruda. So wie in der Physik von einem Ohm gesprochen wird oder einem Newton, sprach man in der Poesie von einem Neruda.“[5]

Geboren wurde Nicanor Segundo Parra Sandoval am 5. September 1914 in San Fabián de Alico als Ältester von neun (oder auch elf) Geschwistern. Sein Vater war Volksschullehrer, er unterrichtete Musik. Die Mutter war Bäuerin. Nach dem Tod ihres Mannes arbeitete sie als Schneiderin, um die große Familie durchzubringen. Vielleicht hat ja der Vater die musischen Gene vererbt; neben dem Dichter Nicanor gibt es fünf Musiker unter den Geschwistern, von denen Violeta die berühmteste ist. Ein weiterer Bruder wurde als Zirkusclown bekannt. Man kann durchaus von einer illustren Familie sprechen.

Chile: Nicanor Parra Nicanor und Quijotinverso 2005 - Foto: José Luis Rodríguez Yaiba QuijotinversoNicanor hatte als einziger der Geschwister Zugang zu höherer Bildung, er studierte Physik und Mathematik in Santiago, in den USA und Großbritannien und arbeite dann als Physiker an der Universität. Seinen ersten Gedichtband Cancionero sin nombre, der übrigens den Premio Municipal de Santiago gewann, veröffentlichte er 1937. Mit den Poemas y antipoemas gelang ihm 17 Jahre später der Durchbruch. Die Antipoesie wurde populär und schließlich zur Mode, und wie das in solchen Fällen immer ist, sie verkam zur bloßen Attitüde. Aber zu diesem Zeitpunkt war ihr Schöpfer selbst schon über sie hinausgegangen und veröffentlichte seine Artefactos, kurze Sentenzen, die kaum noch als Gedichte kenntlich waren – sarkastische Kommentare über Gott und die Welt.

Später erfand er dann seinen Christus von Elqui, der, angelehnt an eine historische Figur, als eine Art Narr die Welt kommentierte. Aber das war bereits in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Mit den Sermones y prédicas del Cristo del Elqui übte er verhalten Kritik an der Pinochetdiktatur. Pinochet war und ist wohl nach wie vor ein Stolperstein für Nicanor Parra. Nach dem Putsch nahm der Dichter ein Universitätsamt an. Man erinnere sich: Die chilenischen Universitäten wurden seinerzeit von Militärs geführt. Parra war zweifelsohne kein Anhänger Allendes. Nur was war Pinochet für ihn? Federico Schopf schätzte 1986 ein, Parra hätte nicht begriffen, „was es für ein lateinamerikanisches Land bedeutet, wenn seine Regierung einen tiefgreifenden sozialen Wandel durchführen will“[6].Ich erinnere mich an ein Gedicht, in dem sich der Antipoet darüber mokierte, dass der Präsident Allende mehr als einen Anzug im Schrank hätte. Chile: Installation in der Ausstellung mit visuellen Arbeiten von Nicanor Parra im Museo de la Moneda 2006 - Foto: Cristián LabarcaSchopf attestiert ihm denn auch „einen Moment der Verwirrung und des Schweigens“[7] nach dem Militärputsch. Allerdings kannte er die Äußerungen über Pinochet nicht, die Parra gegenüber dem Filmemacher Víctor Jiménez Atkin für dessen Film „Retrato de un antipoeta“ (2009) machte: „Einerseits ist er ein Retter, hätte es Pinochet nicht getan, wären wir wie Kuba. Das ist eine Tatsache. Aber dann wurden die Gräueltaten begangen. Man möchte einen Retter ohne Gräueltaten.“[8] Der Dichter hat offensichtlich so einiges nicht verstanden. Angesichts dieser „Verwirrung“ möchte man Parras Landsmann Poli Délano zustimmen, der eine seiner Figuren über Nicanor sagen ließ: „Denn wenn der Hurensohn jetzt auch der Diktatur um den Bart geht, er wird davon nicht automatisch ein schlechter Dichter.“[9]

Beständig blieb der Dichter im Wandel seiner poetischen Ausdrucksmöglichkeiten. Besorgt über die Zerstörung der Umwelt schuf Parra bereits Ende des letzten Jahrhunderts seine Ökopoesie. Er hofft auf eine radikale Wende im Umgang des Menschen mit der Natur, dabei erscheinen ihm auch die Mapuche als Vorbild. Als vielseitiger und wandlungsfähiger Künstler ergänzt er seine Poesie durch „visuelle Antipoesie“: Graffiti, Videos, praktische Arbeiten. Nach 14-jähriger Arbeit veröffentlichte er 2006 eine hochgelobte Übersetzung des König Lear von Shakespeare.

Heute wird Nicanor Parra 100 Jahre alt. Herzlichen Glückwunsch!

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  • [1] Manifiesto. http://www.nicanorparra.uchile.cl
  • [2] Schopf, Federico: Nachwort in: Und Chile ist eine Wüste. Fischer 1986.
  • [3] Der erste Vorschlag erfolgte übrigens 1995 durch die Universität von New York.
  • [4] Der 21-jährige Enkel des Dichters, Cristóbal Ugarte, lieferte in dieser Woche eine merkwürdige Erklärung dafür : „Mein Großvater hat den Nobelpreis wegen seiner Probleme mit den Linken nicht bekommen.“ http://www.cnnchile.com
  • [5] N. Parra in einem Gespräch mit Andrés Juan Piña. Zit. nach: Bernstein, Nils: Das Innovationspotenzial der Antipoesie. Hamburg 2009. http://www.fixpoetry.com (eigene Übersetzung
  • [6] Ebenda
  • [7] Ebenda
  • [8] Saleh, Felipe: La opinión de Nicanor Parra sobre Pinochet que irritó a la familia del poeta. http://www.elmostrador.cl (eigene Übersetzung)
  • [9] Délano, Poli: Marionetten. In: Erkundungen. 22 Chilenische Autoren. Berlin 1976, S.117

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Bildquellen: [1] Paulo Slachevsky, [2] Carolina López, [3] José Luis Rodríguez Yaiba Quijotinverso, [4] Cristián Labarca

2 Kommentare

  1. uta heyder sagt:

    ich habe ihn gekannt, den grossen dichter. 2002 besuchte ich ihn in seinem haus am meer, ort?, ein paar autostunden von valparaiso entfernt. er empfing im bett. der grosse mann, weisses haar, englisch sprechend, eine legende. mein freund,der deutsche schriftsteller thomas brons, hat mich zu ihm mitgenommen. brons hatte in den 90iger jahren eine arbeit ueber parra geschrieben…sie sind befreundet. ich war tief von parra beeindruckt, er war fuer mich shakespeare und goethe und all die anderen in einem, lebendige literatur.
    ich moechte gern wissen, wie es n.parra heute geht. er wird 100? ist er noch bei koerprlich und geistigen kraeften?
    mit herzlichen gruessen
    zu seinem geburtstag
    uta heyder

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