Microcuentos – der Name verrät es – sind kleinste Geschichten, eine in Lateinamerika beliebte literarische Form. Man denke nur an den Guatemalteken Augusto Monterroso. Im Jahr 2009 brachte die Zeitschrift „Caballo de proa“ eine Sammlung von Microcuentos aus der Feder südchilenischer Autoren heraus. Quetzal wird diese kleinen Geschichten „aus dem tiefen Süden“ in loser Folge vorstellen, als deutsche Erstveröffentlichung.
Wir danken den Autoren, insbesondere Herausgeber Pedro Guillermo Jara, für die Genehmigung zur Veröffentlichung. Und wir danken Gabriele Eschweiler, die die Geschichten ins Deutsche übertragen hat.
Ramón Quichiyao (Futrono)
Blaue Augen
Was an Flaco Obando sein Lebtag am meisten auffiel, war ganz eindeutig seine seltsame Art zu schauen: Die Augen – kaum mehr als nur ein schmaler Spalt zwischen beiden Lidern – waren fast ständig geschlossen.
Als ihn der Tod ereilte und ihm in seiner letzten Stunde die Augen öffnete, rief die schwarze Julia, seine langjährige Lebensgefährtin, voller Verblüffung aus: Der verflixte Kerl hatte ja blaue Augen! Noch lange wiederholte sie schluchzend wieder und wieder: Was für schöne Augen der Verblichene hatte! Was für wunderschöne Augen! Sie waren blau, seine Augen!
Astrid Fugellie (Punta Arenas)
Angelina Quilleleo
– Es hat mir die Sprache verschlagen, murmelte Angelina Quilleleo. Die Stirn am Beichtstuhl wie angenagelt fügte sie dann hinzu:
– Als junges Mädchen konnte ich von den Baumaugen erzählen, von den beklagenswerten Mondhölzern und den Gesichtern der auf dem Herd garenden Tortillas. Da sprachen die Bauern und das Rauschen der Temubäume zu mir:
– Wie schön du reden kannst, Angelina Quilleleo.
An einem Tag im April, an dem bereits Juliwetter war, erzählte mir ein Händler von der Hauptstadt. „Es ist wie ein Zauber“, sagte er, „die Gebäude sind verwunschene Spiegel. In ihnen kannst du dich ganz sehen oder umgekehrt mit dem Kopf auf dem Bürgersteig und den Füßen himmelwärts. Auch mangelt es nicht an Mehl, Zucker oder Geld.“
– Also begab ich mich dorthin, Hochwürden, flüsterte Angelina Quilleleo, da der Norden das Land der Auserwählten ist. Aber dort gab es weder Zucker, noch Mehl, noch Geld und die Gebäude jagten mir die gleiche Furcht ein wie dereinst die bösen Geister aus den Geschichten meiner alten, armen und weisen Großmutter Fresia. Und so raubte es mir die Sprache und vor lauter Elend musste ich Armeleuteessen stehlen. Ich bekenne, dass ich gesündigt habe, schluchzte Angelina Quilleleo.
Das Gitterfensterchen des Beichtstuhls tat sich auf. Der Priester und die Frau blickten sich an. Der Geistliche, dem Blut von der Stirn rann, sagte:
– Gehe hin, Weib, dafür gibt es keine Buße.
Luis Bocaz (Valdivia)
Kuh
„Brahmaputra!“, brüllte der Brahmane zur Begrüßung des Brahminen. „Die Heilige Kuh ist aus Madras!“
„Aus Kalkutta!“, raunzte der Radscha und zerriss sein Kamasutra. Der dermaßen erregte Radscha war aus Rajasthan.
Ramón Quichiyao (Futrono)
Eine Frage der Chemie
Vom Kopfende des Tisches aus hielt Chico Silva mit einer Flasche Pisco 40 ° in der rechten Hand seinen Freunden einen Vortrag über die berauschende Wirkung dieses Getränks:
„Alle mal herhören! Dies ist eine Flasche Pisco 40 °! Wenn ich mir davon 10 Gläschen genehmige, würde ich meinem Blutkreislauf nicht mehr und nicht weniger als 400 ° Alkohol zuführen, wovon ich sofort geheilt wäre.“
„Deshalb“, führte er weiter aus, „sollten wir diesen Pisco in großen Gläsern trinken! Wenn nämlich ein jeder von uns zwei Bierkrüge Pisco leert, hat er sein Blut mit 80 ° Alkohol abgefüllt, so dass es uns noch gut geht. Denn bekanntlich kocht das Wasser bei 100 ° und das Blut auch und man wird gesund. So hat selbst der Suff eine eigene Wissenschaft“, schloss er.
Übersetzung aus dem Spanischen: Gabriele Eschweiler
Bildquelle: Quetzal-Redaktion, nic.