Quetzal Vogel
News Icon
Quetzal

Politik und Kultur in Lateinamerika

Template: single_normal
Artikel

Interview mit Patricio Segura Ortiz

Christine Schnichels | | Artikel drucken
Lesedauer: 17 Minuten

Der chilenische Journalist über das Staudamm-Projekt HidroAysén

Am 10. Juni 2014 lehnte der chilenische Ministerrat nach einem mehrjährigen Genehmigungsverfahren das Mega-Staudammprojekt HidroAysén ab. Seit 2005 planten der spanische Energieriese Endesa und das chilenische Unternehmen Colbún den Bau von fünf Kraftwerken mit einer Gesamtleistung von 2750 Megawatt, welche die Flüsse Baker und Pascua in der südchilenischen Region Aysén aufstauen sollten. Nach jahrelangen Massenprotesten im ganzen Land können die Umweltschützer und Bürgerbewegungen, welche sich im „Rat zur Verteidigung Patagoniens“ zusammengeschlossen haben, mit dem Regierungsentscheid einen großen Erfolg verbuchen. Um mehr über die Hintergründe des Projekts und den Widerstand zu erfahren, hat Quetzal mit dem Journalisten Patricio Segura Ortiz gesprochen. Er ist der amtierende Präsident der “Korporation zur Entwicklung Ayséns“ und bei der “Bürgerkoalition für Aysén Quelle des Lebens“ und dem „Rat zur Verteidigung Patagoniens“ im Bereich Öffentlichkeitsarbeit tätig.

Chile: Patricio Segura Ortiz - Foto: Patricio Segura OrtizNachdem sich die Vorgängerregierung und der Oberste Gerichtshof Chiles in den letzten Jahren für das Projekt HidroAysén ausgesprochen hatten, wurde es nun von der aktuellen Regierung gekippt. Wie kam es dazu?

Die letzte Bachelet-Regierung [2006-2010, Anm. d. Red.] war vor ein paar Jahren auch noch für das Projekt. Das politische Establishment sowie die wirtschaftlichen Eliten waren allesamt mit dem Projekt einverstanden. Wir als Bürgerbewegung haben es dann erreicht, den öffentlichen Diskurs zu ändern, was schließlich im Juni dazu führte, dass das Projekt abgelehnt wurde.

Welche Bedeutung hat die jetzige Ablehnung HidroAyséns durch den Ministerrat?

Wir haben vor der Entscheidung – die wir erwartet hatten – lange überlegt, wie wir darauf reagieren sollen. Sicherlich war sie ein großer Triumph der Bürger, ein Triumph unserer Sichtweise. Dennoch ist sie nur ein Schritt auf unserem langen Weg hin zu einem nachhaltigen Chile bzw. einer nachhaltigen Welt. Zum einen wird das Konsortium zum Bau von HidroAysén jetzt nicht aufgeben und die Entscheidung der Regierung akzeptieren – das hat es bereits mehrfach angekündigt. Es wird alles in ihrer Macht stehende tun, um diese Entscheidung anzufechten. Zweitens, selbst wenn das Projekt endgültig auf der institutionellen Ebene abgelehnt wird, werden Endesa und Colbún weiterhin die Wasserrechte der Flüsse Baker und Pascua und andere Unternehmen jene der anderen Flüsse der Region haben. Zudem gibt es auch noch andere Pläne für Wasserkraftwerke, wie zum Beispiel das Projekt am Fluss Cuervo [ebenfalls in der Region Aysén, Anm. d. Red.]. Selbst wenn keine Staudämme in Patagonien gebaut werden, ist unser Kampf noch nicht beendet. Selbst wenn sie uns [den Bürgern, Anmerkung der Red.] die Wasserrechte zurückgeben, müssen wir weiterkämpfen. Solange die Flüsse Ayséns und anderer Regionen in der Welt Wasser führen, solange wird es das Bestreben geben, sie zu stauen. Wir müssen verstehen, dass es bei dem Streit des Rates zur Verteidigung Patagoniens darum geht, das Paradigma zu ändern, das heißt unsere Sichtweise auf den Fortschritt und unsere Beziehung zu den anderen Spezies und zur Natur. Die Staudämme Patagoniens sind nur ein Symbol dafür. Und wenn wir das verstehen, sehen wir, dass unser Streit bzw. unsere Arbeit nie aufhören wird. So ist diese Entscheidung mit Sicherheit ein großer Triumpf auf unserem Weg zu unserem Ziel, der vollkommenen globalen Nachhaltigkeit. Diese werden wir aber sicher nie erreichen. Es ermöglicht uns aber eine Verschnaufpause, um neue Energie zu tanken, um weiter unserem Weg zu folgen. So sehe ich das zumindest. Ich möchte diesen Triumpf nicht kleinreden. Einige sagen, dass die Regierung uns nur etwas vormacht und sie die Staudämme dann eben auf eine andere Weise bauen werden. Und natürlich haben wir mit HidroAysén noch nicht das Paradigma geändert, aber die Leute benötigen zwischendrin auch mal einen Triumpf, um weiterzumachen. Meine Frau sagt dazu, dass wir cantentos sind, was so viel heißt wie contentos [= zufrieden, Anm. der Red.] und atentos [= achtsam, Anm. der Red.] zur selben Zeit.

Wieso hat die aktuelle Regierung so schnell ihre Meinung geändert?

Zunächst einmal muss klar sein, dass die Regierung jetzt nicht gegen das Projekt HidroAysén ist. Sie haben lediglich die Umweltverträglichkeitsprüfung des Projektes abgelehnt. Sie sind jetzt nicht grundsätzlich gegen Staudämme in Patagonien oder gegen Endesa. Diese Entscheidung lässt sich hauptsächlich auf den Druck zurückführen, den wir Bürger auf die Regierung ausgeübt haben. Wir waren Hunderttausende Leute auf der Straße. Wir haben erreicht, dass HidroAysén das Symbol dafür ist, was wir als Land nicht haben wollen: Wir wollen das Projekt nicht, weil es die Natur Patagoniens geschädigt und die Energieerzeugung in den Händen von zwei Unternehmen konzentriert hätte. Wir sind gegen die Qualität und die Unregelmäßigkeiten beim Genehmigungsverfahren sowie den starken Druck der Lobby. Da die erste Regierung Bachelet dieses Projekt unterstützt und es nicht von vornherein abgelehnt hatte, befand sich nun die zweite Regierung Bachelet [seit 2014, Anmerkung der Red.] in einer Falle. Denn zwischenzeitlich hatte die Regierung unter Piñera [2010-2014, Anm. d. Red.] einen großen Widerstand und eine starke Mobilisierung gegen den Neoliberalismus, gegen die rechts-konservative Politik und deren Vorstellung von Nachhaltigkeit heraufgerufen. Das heißt, jetzt ist die zweite Regierung Bachelet nicht wirklich gegen das Projekt. Sie gewinnt aber durch die Ablehnung der Umweltverträglichkeitsprüfung an politischem Kapital. Es ist daher möglich, dass dieselbe Regierung das Staudammprojekt Río Cuervo noch genehmigt. Diese Ablehnung gibt der Regierung nun den Spielraum, den sie benötigt, um andere Initiativen durchzusetzen, die sie als wichtiger für den Fortschritt des Landes erachtet. Ein besseres Land bedeutet für sie ein besseres Land für die großen ökonomischen Gruppen, die den Großteil der politischen Entscheidungen in Chile kontrollieren.

Welche Chancen hat Endesa-Colbún, das Projekt doch noch durchzusetzen?

Chile: Mobilisierung gegen das Projekt HidroAysén - Foto: Consejo de Defensa de la Patagonia ChilenaDas ist noch total offen. Es ist offen, ob sich die Umweltgerichte gegen die Entscheidung der Regierung aussprechen. Dieser Streit endet so oder so vor dem Obersten Gerichtshof. Entweder legen wir bzw. die Regierung oder Endesa-Colbún Widerspruch ein, solange bis der Fall vor dem Obersten Gerichtshof ankommt. Nun ist es für uns vorteilhaft, dass die Regierung bezüglich des Umweltberichts jetzt auf unserer Seite ist und nicht wie zuvor auf Seiten des Projekts. Es geht hier nicht um eine technische, sondern um eine politische Diskussion. Ich könnte zu Leuten gehen und dort eine Powerpoint-Präsentation über die Effizienz und vergleichbare Umsetzungen in anderen Ländern halten, das heißt ihnen nur Zahlen und technische Daten zeigen. Aber bei diesem Projekt geht es um Sozialpolitik, darum, wie wir ein besseres Land gestalten wollen, darum, was für die Gesellschaft Sinn ergibt. Es geht darum, ob wir konventionelle oder nachhaltige Vorstellungen haben oder ob wir den Reichtum des Landes und das Elektrizitätssystem in den Händen einiger weniger konzentrieren möchten. Es geht also um politische Symbole, und nicht um ein Megawatt mehr oder Megawatt weniger. Wir müssen daher den aktuellen Unmut über HidroAysén für Kampagnen gegen ähnliche Projekte nutzen.

Wieso ist der Fall HidroAýsen so emblematisch, bzw. warum war der Protest gegen genau dieses Projekt so stark?

Das ist eine gute Frage. Da kann ich nur spekulieren und von meinen eigenen Erfahrungen berichten. Zunächst einmal zweifele ich stark daran, dass eine solch starke Mobilisierung unter einer sozialistischen Regierung [also z.B. während der ersten Regierung unter Bachelet, Anm. d. Red.] möglich gewesen wäre. Weiterhin hat die Region Patagonien in Bezug auf solche Projekte einen klaren Vorteil. Denn es hört sich per se schon negativ an, dass ein Staudamm in dieser schönen Landschaft errichtet werden soll. Würde dir jemand sagen, dass ein Staudamm in der Wüste oder auf irgendeinem Felsen errichtet wird, würdest du nur mit den Schultern zucken. Zudem haben wir es geschafft, sehr viele Leute zu mobilisieren, weil das Thema die Seele der Menschen traf. Die Leute überdachten ihre Konzepte von Reichtum und Nachhaltigkeit. Sie waren lange davon überzeugt, dass das Künstliche und die Megabauten das Wichtige seien. Dann jedoch stellten sie fest, dass sie das gar nicht wollen und setzten sich dafür ein, die verbleibenden Naturräume zu erhalten. Wenn man gegen ein so großes Unternehmen wie Endesa und die wirtschaftliche Elite des Landes, ja sogar gegen den Staat selbst, kämpft, benötigt man viele Menschen und Ressourcen. Unsere Mobilisierung geht weit über den Rat zur Verteidigung Patagoniens hinaus. Irgendwann sahen wir Leute im Fernsehen oder bei Aktionen vor dem Präsidentenpalast mit Plakaten, auf denen „Patagonien ohne Staudämme“ stand. Da wir vom Rat diese Leute nicht kannten, stellten wir fest, dass sich unsere Kampagne verselbstständigt hatte – im positiven Sinne. Wenn du „Patagonien ohne Staudämme“ bei Facebook eingibst, erscheinen 100-200 Gruppen. Und wir haben keine einzige davon gegründet! Heute kontrollieren wir zwei Seiten, die aber zuvor von anderen erstellt worden sind. Schließlich war es auch wichtig, dass wir unsere Strategie geändert haben. Wir wollten dem Projekt einen einzigen gewaltigen Todesstoß versetzen, aber wir wussten nicht wie. Mein Kollege Patricio Rodrigo meinte dann, dass wir nicht wie David gegen Goliath, sondern wie die Liliputaner gegen Gulliver kämpfen müssen: mit vielen kleinen Hieben wie eine Guerilla. Wir sind sehr flexibel und dezentral organisiert, so dass nicht jede Aktion von allen autorisiert werden muss. Letztlich hing der Erfolg von unserer Kampagne von vielen Faktoren ab. Wir hatten nicht nur mediale Erfolge, sondern konnten auch durch unsere Kompetenzen in technischer, legaler und politischer Hinsicht sowie durch die soziale Mobilisierung Fortschritte erreichen. Bei uns sind alle Mitwirkenden wichtig. Das ist der Reiz unserer Kampagne: sie ist sehr vielseitig.

Die Politik in Chile schloss die Zivilgesellschaft gänzlich aus der Planung des Projekts HidroAysén und den Überlegungen zur Energieversorgung in der Region aus. War das auch ein Grund für das Aufkommen der Proteste?

Na ja, die Leute waren generell unzufrieden damit, wie die Dinge in der Politik angegangen werden, und wie Entscheidungen zustande kommen. Der Protest war natürlich spontan und konkret bezogen auf das Projekt. Aber viele Leute beteiligten sich auch, weil die Institutionen es generell nicht zulassen, dass die Leute sich an den Entscheidungen beteiligen, die sie betreffen. Einige von uns sind zu der Einsicht gekommen, dass es bei dem großen Streit in unserem Land darum geht, die Verfassung zu ändern. Und viele von uns glauben, dass dies mittels einer Verfassungsgebenden Versammlung geschehen muss. Hier sieht man auch, dass dies keine technische Diskussion ist. Es geht nicht nur darum, ob die Staudämme in Patagonien gebaut werden sollen oder nicht. Für viele ist es eine essentiell politische Diskussion.

Zurück zum konkreten Projekt – was war die Hauptkritik an HidroAysén?

Chile: Stromleitung durch Patagonien - Foto: Consejo de Defensa de la Patagonia ChilenaEs ist das Paradigma dahinter. Dass die Natur eine Ressource ist, die nur dem Wohle des Menschen dienen soll. Aber nicht einmal das geschieht in den meisten Fällen. Es gibt viele Gemeinden, denen es nach Eingriffen in die Natur schlechter geht. Es ist die Annahme, dass das Künstliche schön ist, die Arroganz des Menschen zu glauben, dass er gegen die Natur kämpfen kann. Es wird behauptet, dass alle Probleme mit Hilfe der Marktwirtschaft bzw. des Geldes gelöst werden können. Bis wir verstanden haben, dass wir Geld nicht essen können, ist es fünf vor Zwölf. Diese anthropozentrische Arroganz, dass wir die Natur als Freischein nutzen für unsere Interessen – überdies individualistische Interessen von einigen wenigen, die alles kontrollieren. Und dies ist die Grundlage des akkumulierenden, neo-extraktivistischen Entwicklungsmodells in Chile. Es ist die Grundlage für die ökonomischen Kompensationen von Umweltschäden. Es ist die Grundlage für die Entscheidungen hinter verschlossenen Türen, die nicht kollektiv getroffen werden. Für den Autoritarismus. Aber gut, es gab auch Leute, die hauptsächlich gegen das Projekt waren, weil die Stromleitungen direkt vor ihrem Haus verlaufen sollten. Die traditionelle Linke ihrerseits war dagegen, weil das Projekt von einem privaten Unternehmen und nicht von einem Staatsbetrieb durchgeführt werden sollte. Andere waren dagegen, weil das Projekt viele Leute von außerhalb angezogen und kaum den Leuten von hier etwas gebracht hätte. Damit die Leute verstehen, was dieses Megaprojekt bedeutet, sage ich ihnen, dass es selbst auf die Demokratie in der Region Aysén negative Einflüsse gehabt hätte. Wenn ich dann gefragt werde, was ein Staudamm mit der Demokratie zu tun hat, sage ich: Capitán Prat [Provinz im Süden der Region Aysén, Anm. d. Red.] besteht aus drei Kommunen. In den beiden Kommunen Tortel und Villa O’Higgins wurden die Bürgermeister mit jeweils ein paar hundert Stimmen gewählt. Der Bürgermeister von Cochrane wurde mit circa drei tausend Stimmen gewählt. Die Planer von HidroAysén hatten vor, in der Provinz Capitán Prat innerhalb von fünf Jahren fünf bis sieben tausend Arbeiter anzusiedeln. Wenn man so viele Arbeiter von außerhalb in den Kommen ansiedelt, die für einen arbeiten, kann man alle Bürgermeister, Kommunalräte, Beiräte der Regionalregierung, selbst alle Abgeordneten und den Senator der Region auswählen. Dann könnten wir als Bürger von Aysén keine autonomen Entscheidungen mehr fällen, die unsere Interessen widerspiegeln. Dann würde die Politik in der Region von den Interessen eines bestimmten Unternehmens und dessen Angestellten durchdrungen. Dieses Projekt wäre eine dermaßen unkontrollierbare Angelegenheit, dass sie alle Bereiche des Lebens in der Region und teils sogar des ganzen Landes beeinflussen würde. Daher bin ich generell gegen jede Art von Machtkonzentration, sei sie wirtschaftlich, politisch, religiös oder kulturell.

Wie sieht denn eure Alternative für die Energiepolitik Chiles aus?

Zunächst einmal müssen wir über das Entwicklungsmodell des Landes reden, das sehr auf Konsum setzt. Ich denke, dass jenes Megawatt besser ist, das wir nicht verbrauchen bzw. das wir nicht benötigen. Ein weiterer Punkt ist die Energieeffizienz. Wir sollten Energie nicht verschwenden für überflüssige oder unwichtige Dinge. Und erst danach sollten wir darüber nachdenken, wie wir die Energie erzeugen, die uns dann noch fehlt. Hierbei glauben wir an die erneuerbaren Energien. Aber wir sollten keine Megaprojekte fördern, sondern vielmehr kleinere Projekte. Wir könnten eine Kampagne machen für Photovoltaikanlagen auf den Dächern der Leute, damit diese nicht nur Energie aus dem Stromnetz konsumieren, sondern auch selbst einspeisen. Damit wird nicht nur die Energieerzeugung, sondern auch der Besitz des Stroms auf mehr Menschen verteilt. Wenn wir in Chile solche Megaprojekte wie HidroAysén haben, die uns mit Energie versorgen, dann muss nur einer der Energieversorger ausfallen, und das gesamte Netz fällt zusammen. Wenn wir das Netz aber dezentralisieren, ist es viel stabiler und ausgeglichener. Wir können den Wind und das Wasser im Süden nutzen und zum Beispiel die Sonne im Norden des Landes. Gleichzeitig würde der enorme Energiereichtum Chiles auf mehr Bürger verteilt, womit die Energie selbst demokratisiert würde. Zudem sollten wir eine weitreichende Selbstversorgung bei der Energie erreichen. Alle Importe von Konsumgütern und Energie haben ökologische Folgen und verhindern, dass die Gemeinden autonom bei der Energieversorgung sein können.

Du sprichst von der Selbstversorgung von Gemeinden oder Städten. Das Projekt HidroAysén sollte aber ja hauptsächlich Energie für die großen industriellen Zentren und die Bergbauunternehmen liefern. Chile ist zurzeit wirtschaftlich abhängig von den Minen und den Industrieunternehmen. Und die haben einen enormen Bedarf an Energie.

Chile: Staudamm in Patagonien - Foto: Consejo de Defensa de la Patagonia ChilenaWir sollten erst einmal darüber diskutieren, wie viel Energie diese Unternehmen fordern. Wir müssen darüber diskutieren, welche Art von Land wir haben wollen – auch bezogen auf die Energie. Das ist es, was ich eben gesagt habe: Wir müssen das Entwicklungsmodell des Landes überdenken. Wollen wir damit einverstanden sein, dass sich die Gemeinden opfern, nur damit die großen Bergbau- und Stromunternehmen genügend Energie zur Verfügung haben? Sie sagen, das Kupfer – die größte Ressource des Landes – ist für alle Chilenen, aber das größte Kupferunternehmen CODELCO gehört den Chilenen nur zu einem Drittel. Der Rest gehört einem privaten transnationalen Unternehmen. Also sagen wir, warum sollen sich Regionen wie Aysén opfern? Oder warum sollen sich Coronel [Kommune im Zentrum des Landes in der Region Bío-Bío, Anm. d. Red.] und Tocopilla [Stadt im Norden des Landes in der Region Antofagasta, Anm. d. Red.] wegen der Wärmekraftwerke opfern? Warum wird dort nicht in andere – sicherlich teurere – Energie investiert, damit die Kommunen nicht geopfert werden müssen? Wir müssen also nicht darüber reden, wie wir den Megaunternehmen die Energie geben, die sie verlangen, sondern vielmehr darüber, ob es überhaupt richtig ist, ihnen diese Energie zu geben. Und wenn ja, wieso bezahlen sie diese Energie dann nicht selbst? Diejenigen, die diese Projekte initiieren, haben nicht das Wohl des Landes im Blick. Diese Leute profitieren vom Bau und teils auch vom Betreiben dieser Megaprojekte. Es geht gar nicht so sehr um die neu gewonnene Energie für das Land. Es ist also eine ökonomische Notwendigkeit für einige Unternehmer. Genauso wie es bei vielen Konflikten oft darum geht, Geld mit einem Krieg zu verdienen. Das, was für die Wirtschaft gut ist, ist nicht unbedingt notwendig für die Gesellschaft.

Wie könnte denn ein alternatives Wirtschaftsmodell eurer Meinung nach aussehen?

Die Alternativen zum Neo-Extraktivismus in Chile sind der Tourismus sowie die Technologien und das Wissen zur Erzeugung von erneuerbaren Energien. Wir könnten eben auch Technologien in diesem Bereich exportieren. Wir könnten die ökologische Landwirtschaft ausbauen. Wir leben von unseren Rohstoffen, das heißt, wir exportieren Lachs, Metalle und Mineralien etc. Wir sollten weiterhin Rohstoffe exportieren, die wir aber zuvor bei uns weiterverarbeiten, um mit ihnen einen höheren Wert zu erreichen. Die Politiker und Unternehmer sagen immer, dass wir im Bergbau die besten Technologien haben und dort am meisten entwickeln. Aber dieser Sektor ist nicht produktiv, sondern extraktivistisch und damit endlich. Wir bereiten Chile nicht auf die Phase nach dem Bergbau vor.

Wie sieht die Zukunft des Rates zur Verteidigung Patagoniens aus?

Neben dem Projekt HidroAysén kämpfen wir auch stark gegen das geplante Staudammprojekt Río Cuervo. Aber unser Einsatz für die Nachhaltigkeit geht über die Region Aysén und auch über den Kampf gegen einzelne Projekte hinaus. Wir kämpfen im ganzen Land für das umweltverantwortliche Handeln und eine Demokratisierung der Entscheidungsprozesse im politischen System. All das wird in Chile kaum beachtet. Wir möchten eine neue Politik, die auf dem Nachhaltigkeitsprinzip basiert – also ein neues Entwicklungsmodell für Chile. Wir setzen uns aber auch für eine neue Regionalpolitik in Patagonien, insbesondere in der Region Aysén ein. Deshalb schreiben wir gerade mit Beteiligung der Bürger Patagoniens das sogenannte „Statut Patagoniens“, indem wir die geografischen Besonderheiten der Region und unsere Forderungen zum Schutz der Natur und der natürlichen Ressourcen dort festhalten. Damit schaffen wir eine legale und formelle Grundlage für unsere Kampagnen.

Das „Statut Patagoniens“ ist thematisch und geographisch stark fokussiert. Wie wollt ihr denn vorgehen, um in Chile das gesamte Entwicklungsmodell zu ändern und eine neue Politik zu etablieren?

Chile: Huaso in Patagonien - Foto: Consejo de Defensa de la Patagonia ChilenaDies ist ein kultureller Prozess. Ich war 2011 in einer Versammlung, wo ein Erwachsener zu den Jugendlichen [der Schüler- und Studentenproteste, Anm. d. Red.] sagte: „Ihr habt gar nichts erreicht“. Daraufhin sagte ein Schüler: „Ach ja? Wir sollen nichts erreicht haben? Wir haben es geschafft, dass der Profit im Bildungssektor jetzt etwas Schlechtes ist. Zuvor wurde er als etwas Positives angesehen. Wir haben die grundsätzlichen Denkschemata in der Bildung geändert. Oder was glaubst du, warum sich Michelle Bachelet in ihrem Wahlprogramm [der vergangenen Präsidentschaftswahlen, Anm. d. Red.] für eine kostenfreie und staatliche und qualitativ hochwertige Bildung ausgesprochen hat?“. Das heißt: die Paradigmen ändern sich auf der kulturellen Ebene, wie Antonio Gramsci sagen würde. Unser Streit ist um Sinn, um Bedeutungen und wird lange dauern. Wir sind dabei, den Sinn von Politik, von Natur, von Bürgerbeteiligung zu ändern. Die Bürger hier in der Region sind viel aktiver und mächtiger als früher. Die anderen sozialen Bewegungen der letzten Jahre tragen zu diesem Prozess bei. Wir alle wollen nicht, dass die Bereiche des Gemeinwohls und die sozialen Rechte der Bürger vom Markt einverleibt werden. Aber dieser Streit – der notwendig ist – wird 5, 10, 20 oder 30 Jahre andauern.

Übersetzung aus dem Spanischen: Christine Schnichels

Bildquellen: [1] Patricio Segura Ortiz_; [2], [3], [4], [5] Consejo de Defensa de la Patagonia_.

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert