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Chile – Die Hand am Rad der Geschichte

Marek Höhn | | Artikel drucken
Lesedauer: 3 Minuten

Der Oberbefehlshaber der chilenischen Streitkräfte General Augusto Pinochet betonte, es habe keine anormalen militärischen Maßnahmen oder gar eine Mobilmachung des Heeres gegeben, als am 28. Mai 1993 mit schwerem Kriegsgerät ausgerüstete und in Kampfuniformen gekleidete Spezialtruppen vor dem Sitz der Militärführung im Zentrum Santiagos aufmarschierten. Journalistenbeobachteten ungewohnt intensive Bewegungen in allen Militärobjekten. Was ist passiert? Läßt das Militär seine Muskeln spielen, um zu zeigen, wer der Herr im Hause ist?

Seit einiger Zeit war eine gewisse Unruhe in der Militärspitze zu spüren. Wegen subversiver Aktionen gegen das Militärregime inhaftierte politische Gefangene werden vom Präsidenten begnadigt und anstelle vieljähriger Haftstrafen für fünf Jahre aus dem Land verwiesen. Eine Vielzahl hoher Offiziere des Militärs, darunter der „Generalissimo“ Pinochet, müssen sich vor zivilen Gerichten wegen begangener Menschenrechtsverletzungen verantworten. In vielen der in Vorbereitung der Präsidentschaftswahlen stattfindenden Parteikonferenzen, Tele-Gesprächsrunden etc. kommt die Überzeugung der Mehrheit der politischen Kräfte zum Ausdruck, die absolute Autonomie des Militärs sei überholt und die Verfassung (1980 unter dem Militärregime verabschiedet) müsse diesbezüglich überprüft werden.

Ricardo Lagos – Präsidentschaftskandidat der sozialistischen Partei – erklärte auf einer Parteikonferenz: „Das Militär hat das legale Monopol der Gewalt, aber einzig und allein die Regierung entscheidet, wer diese Gewalt ausübt und wann und wie dies geschieht.“ Die rechte Tageszeitung „El Mercurio“ stellte jedoch fest: „Wir können nicht vom Militär verlangen, daß es sich in seine Kasernen zurückzieht und sich ausschließlich seinen professionellen Funktionen widmet, wenn wir es für wünschenswert halten, die Uniformierten als politischen Gesprächs- und Verhandlungspartner in einer permanenten und öffentlichen Debatte begrüßen zu dürfen.“ (El Mercurio 13/06/93)

Gegen eine militärische Daumenschraube für Politiker herrscht absolute Obereinstimmung in der Regierungskoalition. Das von den Militärs geforderte Gesetz „Punto Final“, welches die Amnestierung aller Menschenrechtsverletzungen des Militäregimes vorsehen sollte, wird von Sozialisten und Christdemokraten energisch zurückgewiesen. Der Präsident des Abgeordnetenhauses Jose Antonio Viera-Gallo (Sozialistische Partei) unterstrich in einer Pressekonferenz: „Wir können nicht an eine Vollendung unseres Demokratisierungsprozesses denken, solange uns die Schicksale der Verschwundenen verschwiegen werden. Dies ist ein Teil unserer Wahrheit.“

Andres Aylwin – christdemokratischer Parlamentsabgeordneter fügte dem hinzu: „Wenn das Land die Möglichkeit eines Amnestiegesetzes prüft, dann denkt es doch nur daran, die Beziehungen Regierung – Militär zu schlichten und hofft, daß damit endlich eine politische Stabilisierung eintritt. Doch diejenigen, die so denken, vergessen, daß es sehr bedeutende Sektoren unserer Gesellschaft sind, die sich dem Kampf für die Bestrafung der Schuldigen verschrieben haben. Wir können diese Menschen in ihrem Glauben an Gerechtigkeit nicht enttäuschen.“

Der Zeitpunkt der Militäraktion war gut gewählt; das Staatsoberhaupt war zu Arbeitsbesuchen in Skandinavien. Das Militär entledigte sich seines Magendrückens in einer Art und Weise, die die Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzte, welche den 11. September 1973 noch sehr genau in Erinnerung hat, den Tag, an dem derselbe Pinochet die demokratisch gewählte sozialistische Regierung unter Salvador Allende stürzte und somit eine Hoffnung, Sozialismus und Demokratie zu vereinen, auf diesem Kontinent zunichte machte.

Besonders beunruhigend waren diese Ereignisse für alle, die sich vor Augen halten, daß Beispiele wie Peru und Guatemala anscheinend den Satz „Die Ära der Diktaturen ist vorbei, es beginnt die Zeit der Demokratien“ Lügen strafen.

Santiago de Chile Juni 1993

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