Was sich in Chile seit dem Ende der Diktatur getan hat – und was noch nicht!
Dass es in Chile gelang, nach 17 Jahren autoritärer Militärherrschaft einen gewaltlosen Übergang zur Demokratie herbeizuführen, ist definitiv als Erfolg zu werten. Es wurde dabei kein einziger Tropfen Blut vergossen, und die beiden Lager – pro und kontra Pinochet – standen sich nun nicht unversöhnlich gegenüber, sondern waren dazu bereit, ihre unterschiedlichen Ansichten politisch auszutragen. Dennoch muss gefragt werden, was der Preis für diese friedliche Aushandlung der Demokratie war. Zum einen mussten sich die demokratischen Akteure während der Transition mit den Spielregeln Pinochets zufrieden geben. Zweitens gab es keinen unbedingten Bruch mit der Diktatur, so dass zum Teil von einer Kontinuität gesprochen werden kann. Aus diesem Blickwinkel war die so genannte transición zwar sinnvoll und wohl die beste Lösung für die Beendigung der Pinochet-Diktatur. Ich behaupte aber, dass sie noch nicht abgeschlossen ist und gravierende Reformen notwendig sind, um eine partizipatorische und wirklich repräsentative Demokratie zu erreichen. Diese These wird auch von einigen renommierten chilenischen PolitikwissenschaftlerInnen vertreten, welche von einer bis heute „unvollständigen“ Demokratie in Chile sprechen [1].
Die Verfassung Pinochets
In diesem Zusammenhang sei zunächst darauf hingewiesen, dass die Verfassung Pinochets aus dem Jahr 1980 weiterhin Bestand hat. Sie wurde zwar durch eine anschließende Volksabstimmung legitimiert, welche aber unter Druck und nicht nach demokratischen Kriterien durchgeführt wurde. Damit verfügt sie nicht über eine demokratische Legitimation. Chile ist das einzige Land Lateinamerikas, das heute noch eine Verfassung besitzt, die aus der Zeit der Diktatur stammt.
Neben dem Mangel an grundlegender Legitimation sind auch Teile des Inhalts durchaus fragwürdig hinsichtlich ihrer Kompatibilität mit demokratischen Normen. Immerhin wurden insbesondere durch die Reform 2005 einige autoritäre Elemente aus der Verfassung gestrichen. Das Hauptanliegen der Verfassungsreformen war vor allem die Begrenzung der Macht des Militärs auf die Politik, d.h., ihm sollten die suprapolitischen Rollen als „Garant der Institutionen“ und „Wächter der Verfassung“ entzogen werden. Diese Eigenschaften standen den Streitkräften durch die Verfassung von 1980 zu und führten (im Zirkelschluss) dazu, dass sich Chile als geschützte Demokratie definierte [2]. Nach der Reform hat der Nationale Sicherheitsrat (COSENA) heute nur noch beratende und nicht mehr exekutive Befugnisse, und die Offiziere dürfen nicht mehr für das Parlament kandidieren. Zudem hat nun der Oberste Gerichtshof die unbedingte Rechtsprechungsgewalt über die Militärgerichte. Daneben stellt die Abschaffung der neun ernannten SenatorInnen, meist hochrangige Militärs oder Ex-Präsidenten, einen bedeutenden Beitrag zur Reform der Verfassung dar. Nun werden alle SenatorInnen von der Bevölkerung gewählt.
Seitdem der damalige Präsident Ricardo Lagos 2005 die reformierte Verfassung unterzeichnet hat, – und damit nicht mehr Pinochets Unterschrift unter der chilenischen Verfassung steht – sehen viele den Übergang zur Demokratie als abgeschlossen an. Es gibt aber auch die Auffassung, dass es weiterhin so genannte autoritäre Enklaven in der Verfassung gibt, die demokratischen Ansprüchen nicht entsprächen [1]. Es sei demnach noch nicht gänzlich gelungen, die Verfassung von 1980 an die Demokratie anzupassen.
Das kuriose binominale Wahlsystem
Das wohl bedeutendste Überbleibsel aus der autoritären Verfassung Pinochets ist das binominale Wahlsystem. Gemäß diesem Wahlverfahren werden in jedem Wahlkreis jeweils zwei KandidatInnen auf Basis der Stimmen für die Parteien oder die Bündnisse gewählt. Erhält das Bündnis (oder die Partei) mit dem meisten Zuspruch mehr als doppelt so viele Stimmen wie das zweitstärkste, gewinnt es beide Sitze des Wahlkreises. Ansonsten erhält die zweitstärkste Kraft den zweiten Sitz. Das heißt, das zweitgrößte Bündnis muss nur ein Drittel der Stimmen erhalten, um damit einen Sitz im Parlament zu gewinnen, der jedoch 50 Prozent der Repräsentation des Wahlkreises ausmacht. Entfallen Wählerstimmen auf mehr als zwei Parteien oder Bündnisse, liegt der Prozentsatz sogar noch niedriger. Entsprechend kann die stärkste Kraft zwar zwei Drittel der Stimmen auf sich vereinen und trotzdem mit einem Sitz nur die Hälfte des Wahlkreises vertreten. Damit wird das zweitstärkste Bündnis klar bevorzugt, während die kleineren Bündnisse komplett leer ausgehen. Die kleineren Bündnisse oder Parteien müssen deshalb versuchen, dass sie wenigstens in einem oder ein paar Wahlkreisen eine erfolgreiche Kandidatur aufweisen können, sonst sind sie überhaupt nicht im Parlament vertreten. Damit hat dieses Verhältniswahlrecht Züge eines Mehrheitswahlrechts und repräsentiert nicht alle politischen Lager. Zudem hat es in den meisten Wahlbezirken zur Folge, dass die Mitte-links gerichtete Concertación sowie die rechtskonservative Alianza in 90 Prozent der Wahlkreise jeweils einen Sitz erhalten [3]. In der Folge waren die zwei Bündnisse mehr oder weniger gleichstark in den beiden Parlamentskammern, so dass sie aufeinander angewiesen waren, um wichtige Gesetze auf dem Weg zu bringen.
Die bis 2010 in der Opposition sitzende Alianza, welche als Pinochet-nahes Bündnis in vielerlei Hinsicht die Werte und Gesetze aus der Diktatur beibehalten möchte, ist kaum für tiefgreifende Reformen zu gewinnen. Insbesondere wird sie wohl nicht das Wahlsystem ändern, da sie zumeist als zweitgrößte Kraft von ihm stark profitiert. Hier wird deutlich, dass die Autoren der Verfassung mit dem binominalen System das Überleben ihrer politischen Kräfte zu sichern suchten – und das in der Praxis auch vermochten. Die Alianza war bis auf eine Wahlperiode in der Opposition; sie wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch nach den kommenden Wahlen im November wieder dort anzutreffen sein.
UDI – die Pinochet-treue Partei
Die Alianza setzt sich aus der rechtsliberalen Nationalen Erneuerung(Renovación Nacional; RN) und der rechtskonservativen Demokratischen Unabhängigen Union(Unión Democrática Independiente, UDI) zusammen. Letztere wurde 1983 noch während der Diktatur gegründet. Jaime Guzmán, enger Berater Pinochets und Hauptautor der chilenischen Verfassung, war Mitbegründer der Partei und hat auch maßgeblich deren Programm und Ideologie mitbestimmt. Die führenden Politiker der UDI sind die vier coroneles (dt. Obersten) Jovino Novoa, Pablo Longueira, Juan Coloma und Andrés Chadwick, die bis auf letzteren bedeutende Positionen innerhalb des Regimeapparats Pinochets innehatten. Ihre Nähe zum damaligen Machtapparat verschaffte ihnen ihre heutige militärische Bezeichnung, und auch die ideologische Nähe der UDI generell zur Diktatur ist kein Geheimnis. Beispielsweise tritt Evelyn Matthei, Tochter eines der vier Juntageneräle während der Diktatur, für die kommenden Präsidentschaftswahlen an. Es scheint für die UDI kein Widerspruch darin zu bestehen, dass gegebenenfalls eine Frau, die der Diktatur nahe stand und sich 1988 für deren Weiterbestehen öffentlich stark machte, fortan die Demokratie Chile repräsentiert.
Es ist erstaunlich, dass die UDI, die als „Haupterbe des Werks der Militärdiktatur“ [2] bezeichnet werden kann, anerkannt ist und erfolgreich WählerInnen für sich gewinnt. Dass es bei der UDI nicht zum Bruch mit dem autoritären Regime kam, liegt vielleicht auch daran, dass Chile die Menschenrechtsverletzungen noch nicht gänzlich aufgeklärt hat. So wurden zwar bereits viele Militärs angeklagt und verurteilt; die Prozesse gegen die zivilen VerbrecherInnen werden jedoch erst in den kommenden Jahren geführt. Daher konnten Zivilpersonen, die an den Menschenrechtsverletzungen beteiligt waren, politische Ämter erhalten und ausführen. Nicht zuletzt verschaffen ihnen diese auch noch eine politische Immunität, die sie vor Bestrafung schützt.
Unvollständige Vergangenheitsbewältigung
Neben den noch nicht abgeschlossenen Gerichtsverfahren steht auch das Amnestiegesetz von 1978 der Vergangenheitsbewältigung im Wege. Das von der Junta beschlossene Gesetz legt fest, dass bis auf wenige Ausnahmen den Delinquenten, die im Zeitraum zwischen September 1973 und März 1978 Verbrechen begingen, die Strafe erlassen wird. Damit bleibt es sehr schwierig, alle Menschenrechtsverletzungen während der Frühphase der Diktatur zu verfolgen. Zwar haben die Gerichte dieses Gesetz nicht immer präzise angewandt, so dass viele TäterInnen trotzdem verurteilt wurden. Dennoch sorgt es für eine Autoamnestie der TäterInnen während der Diktatur, und es stellt sich die Frage, warum es bisher keine Regierung schaffte, das Gesetz aufzuheben. Schließlich wird auch die Verfolgung der TäterInnen erschwert, die Menschen verschwinden ließen. Da die Verantwortlichen das Verschwinden-Lassen bis heute leugnen und es ihnen kaum nachzuweisen ist, mussten die RichterInnen alternative Methoden finden, um die Verbrechen zu ahnden. Anstatt die Opfer als ermordet anzuerkennen, werden sie als dauerhaft entführt angesehen, was jedoch ein minderschweres Verbrechen darstellt. Dieses Beispiel zeigt, dass die Aufarbeitung der Militärdiktatur in Chile insgesamt noch nicht abgeschlossen ist.
Die autoritären Enklaven
Eine weitere autoritäre Enklave stellen die hohen Hürden zur Änderung der Verfassung dar [3]. Zur Verabschiedung einer neuen Verfassung braucht es in beiden Kammern eine 3/5-Mehrheit. Zur Änderung der Verfassungsorgangesetze, welche zentrale Politikbereiche wie Bildung, Zentralbank, Verfassungsgericht, Wahlrecht und Militär regeln, benötigt es eine 4/7-Mehrheit. Aufgrund des zuvor erläuterten Mechanismus durch das binominale Wahlsystem ist eine Änderung der Verfassung und grundlegender Gesetze damit kaum möglich.
Zu den in seiner Kompatibilität zur demokratischen Verfassung fragwürden Elementen zählt auch das von Pinochet modifizierte Kupfergesetz von 1958. Pinochet bestimmte hier, dass zehn Prozent der Exporterlöse des staatlichen Kupferunternehmens CODELCO direkt an das Militär gehen. Zudem erhalten die Streitkräfte einen festgelegten, inflationsbereinigten (!) Mindestbetrag aus dem Verteidigungshaushalt, so dass das Militär nicht nur finanziell unabhängig ist, sondern auch in Zeiten von wirtschaftlichen Krisen relativ gesehen mächtiger wird.
Fragwürdig erscheint auch die Rolle der Carabineros dar, der staatlichen Polizei, die weiterhin als vierte Gattung des Militärs angesehen wird. Während der Diktatur setzte sich die Junta nämlich aus den drei Generälen von Heer, Marine und Luftwaffe sowie – das ist spezifisch für den chilenischen Fall – dem General der Carabineros zusammen. Damit sind die Carabineros nicht – wie in den meisten demokratischen Staaten – der Exekutive, sondern dem Oberkommandierenden der Gesamtstreitkräfte untergeordnet. Ihre Rolle als Garant der inneren Ordnung ist daher mehr als fraglich.
Der wachsende Unmut der ChilenInnen
Neben diesen politischen Überbleibseln sind auch andere Folgen der Diktatur nicht vollständig überwunden. So wurde die Bevölkerung unter Pinochet entpolitisiert und durch den dauerhaften Staatsterror in Angst versetzt. Bis heute ist es für einen Großteil der Bevölkerung schwierig, ihre Meinung öffentlich zu äußern. Diese Passivität seitens der Zivilgesellschaft wird jedoch nach und nach aufgelöst. Die junge Generation, die ab den 1990ern geboren wurde, wuchs in demokratischen Verhältnissen auf. Daher verwundert es kaum, dass die ersten großen Proteste nach dem Ende der Diktatur 2006 und 2011 von den SchülerInnen und StudentInnen angeführt wurden. Durch ihre Kritik nicht nur an der Bildung, sondern am gesamten postdiktatorischen System rüttelten sie andere Teile der Zivilbevölkerung wach. In der Folge lenkt seit 2011 eine Masse an sozialen Bewegungen die Aufmerksamkeit auf sich. Sie erachten den Übergang zur Demokratie als nicht vollständig gelungen und kritisieren nicht nur die politischen Strukturen. Sie sehen auch das extrem neoliberale System als Erbe der Diktatur an und verlangen vom Staat, dass er mehr Verantwortung übernimmt und die Wirtschaft stärker reguliert. Für viele ist die eklatante soziale Ungleichheit eine Folge der Diktatur, die nur durch grundlegende strukturelle Veränderungen verringert werden könne. Sie fordern daher eine verfassungsgebende Versammlung, damit eine neue demokratische und legitime Grundordnung dem chilenischen Staat zu Grunde liegt.
Chile gilt zwar heute in der Welt und auch unter Wissenschaftlern als Musterbeispiel für Demokratie in Lateinamerika; es sind aber noch viele Steine aus dem Weg zu räumen, bis das Land den Übergang zu einer vollständigen Demokratie wirklich geschafft hat. Die institutionellen Mechanismen für eine grundlegende Reform scheinen nach wie vor nicht gegeben zu sein. Da die beiden relevanten politischen Gruppierungen vom aktuellen politischen System profitieren, werden sie wohl kaum ohne Druck von außen den Ast absägen, auf dem sie sitzen. Daher bleibt es an der Zivilgesellschaft, ihren wachsenden Unmut politisch zu artikulieren und damit die politischen Akteure zu Zugeständnissen zu zwingen.
[1] Manuel und Roberto Garretón: La democracia incompleta en Chile: La realidad tras los rankings internacionales, 2010, Revista de Ciencia Política (Vol. 30 / Nr. 1).
[2] Jorge Vergara Estévez: La “democracia protegida” en Chile, 2007, VIII Corredor de las Ideas, Universidad de Talca.
[3] Augustín Squella: ¿Qué democracia tuvismos y cuál tenemos ahora?, 2008, Derecho y Humanidades (Nr. 14), Universidad de Valparaíso / Universidad Diego Portales.
Bildquelle: [1] Patricio Mecklenburg Díaz; [2] Quetzal-Redaktion, cs; [3] Quetzal-Redaktion, cs; [4] Quetzal-Redaktion, cs.
Ich finde hier einiges echt problematisch…
Was ist bitte eine „vollendete“ Demokratie. Existiert die etwa nach Auffassung des Autors in der Bundesrepublik? Immerhin gab es in der jüngeren chilenischen Geschichte 2 Regierungswechsel von einer mitte-links zu einer mitte-rechts Koalition und wieder zurück. In der neuen Regierungs-Koalition mischen sogar die Kommunisten mit.
Die Vergangenheitsbewältigung halte ich auch für relativ fortgeschritten. Für politisch Interessierte gab es die aufgrund der geschilderten Grausamkeit wirklich schwer zu lesenden offiziellen Berichte über die Menschenrechtsverletzungen, informe rettig, informe valech, die im Internet sogar in deutscher Übersetzung vorliegen sollten. Kürzlich gab es im chilenischen Fernsehen zur besten Sendezeit ein realistisches Dokudrama über die Verbrechen (http://es.wikipedia.org/wiki/Los_archiv os_del_cardenal). Seit ca. 4 Jahren existiert in Santiago ein ziemlich großes Museum, das über die Verbrechen umfassend aufklärt. Chilenen aller Schichten sind über die Ereignisse damals ziemlich gut aufgeklärt. Es gehört nun einmal zu den Charakteristika post-totalitärer Gesellschaften, dass viele Verbrechen unter der Diktatur nicht gesühnt werden. War ja bei uns nach der Befreiung von der Nazi-Diktatur und dann später von dem Unrechtsstaat der DDR nicht anders.
Sebastián Piñera stiess dann zum Ende seiner Präsidentschaft eine Debatte um die passive Mittäterschaft an, d.h. die vielen Chilenen, die während der Diktatur einfach mit den Wolfen geheult haben, ohne selbst an den Verbrechen beteiligt zu sein.
Die Jugend-Organisationen beider Rechtsparteien – also inklusive UDI – sprechen sich inzwischen für eine explizite kritische Bewertung der Diktatur aus.
Die sehr gute Finanzierung des Militärs und vor allem der Militärs finde ich auch sehr ärgerlich. Dass war übrigens in der chilenischen Geschichte nicht immer so. Ich hab in einem Buch über Evelyn Matthey und Michelle Bachelet – beide ja Töchter von ranghohen Militärs – gelesen, dass sich Bachelets Vater über sein niedriges Gehalt insbesondere unter der Präsidentschaft Alessandris beschwert hat. Die aktuellen Privilegien sind sicher auch Ergebnis der Bereitschaft der Politiker hier den Militärs ihren Rückzug aus der Politik plüschig zu gestalten. Mittlerweile könnte man da eigentlich gut Sparprogramme fahren. Übrigens ist die über-üppige Alimentierung der Militärs kein rein chilenisches Phänomen. Im bolibananischen Venezuela bekommen die noch mehr goodies.
Gesellschaftlich hat sich – seitdem ich 1997 das Land zum ersten Mal besuchte – eine Menge verändert, wobei ich das schon damals ziemlich freizügig fand.
Die eigentliche Baustelle liegt darin, dass die nominelle mitte-links Koalition das sehr neoliberale Wirtschaftsmodell eins-zu-eins übernahm. Es schien auch gut zu funktionieren. Die Armutszahlen – die ich für problematisch halte, aber ich möchte mich kurz halten – sanken extrem stark. Chile wurde zu etwas, dass es ausser vielleicht Mitte des 19. Jhdts. nie war: Die bip-stärkste Wirtschaftsnation Lateinamerikas. Irgendwann ging es den Chilenen aber auf, dass Wachstum alleine nicht reicht, sondern dass man den dann auch ansatzweise ausgeglichen verteilen sollte. Genau das geht aber mit dem neoliberalen Modell nicht. Man konnte damit für Lateinamerika eher aussergewöhnlich stabile geld- und finanzpolitische Rahmenbedingungen schaffen, für stetiges Wachstum sorgen, die Bildung der Bevölkerung dramatisch erhöhen uvam, nur eben halt nicht für den von der chilenischen Bevölkerung mehrheitlich erhofften sozialen Ausgleich in einem traditionell immer sehr sozial streng geschichteten Land schaffen.
Also versucht sich nun Bachelet an Steuererhöhungen für die Reichen und dem Stopfen gewaltiger Löcher im Chilenischen Sozialsystem (insbesondere Gesundheit und Bildung). Gleichzeitig muss sie aber auch dafür sorgen, dass die Wirtschaft bei gesunkenen Kupferpreisen noch hinreichend wächst, dass keine neue Arbeitslosigkeit entsteht. Ansonsten wählen die Chilenen nämlich wieder Alianza oder ähnliches.
Nur Pin8 wird aus meiner Sicht in der deutschen Perzeption echt dramatisch überbewertet.
Ich finde chilenische Politik aus europäischer Perspektive für spannend: Zum einem hatten die seit 1850 immer Publizisten mit hervorragenden Selbstanalyse-Fähigkeiten, dann sind die skeptischer gegenüber populistischen Überschwang und quasi-religiösen Konjunkturen sowie auch offener gegenüber rationalen Analysen als viele ihrer Nachbarn. Und das Thema ist nicht makroökonomische Instabilität sondern Ausbau/Verteidigung des Sozialstaats.