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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Mehr als ein Familienfoto?Die neue Wirtschaftspartnerschaft zwischen dem Mercosur und der Europäischen Union

Wolfgang Kreissl-Dörfler | | Artikel drucken
Lesedauer: 10 Minuten

Aufstellung zum sogenannten „traditionellen Familienfoto“: Die Staats- und Regierungschefs aus 48 Ländern Lateinamerikas und Europas schenkten dem jeweils heimischen Publikum ein strahlendes Lächeln, der Bedeutung eines historischen Großereignisses angemessen. Denn so war der erste interregionale Gipfel zwischen Lateinamerika, der Karibik und der HU in den Medien angekündigt worden. Rund um den Globus verbreiteten die Korrespondenten die gute Nachricht, daß in Rio de Janeiro am 28. und 29. Juni 1999 eine Art „mystische Transformation“ in den transatlantischen Beziehungen eingeleitet wurde. Die 500 Jahre lang von Kolonialismus, Ausbeutung und Ungleichheit geprägten Beziehungen zwischen Europa und Lateinamerika sollen sich endlich in eine strategische Partnerschaft zwischen Gleichen verwandeln. Ein ähnlicher Erfolg hätte wohl auch dem mittelalterlichen Alchimisten Freude bereitet, der in seinem Kupferkessel Blei zu Gold machen versuchte. Präsident Cardosos Bewertung des hochkarätigen Treffens hätte folgerichtig auch kaum optimistischer ausfallen können: „Das Treffen erlaubt, die politischen und Handelsbeziehungen zwischen der EU und Lateinamerika in einer mehrpoligen Welt zu verstärken. Die Europäische Union und Lateinamerika sind an der Schaffung einer neuen Weltordnung und einer neuen Machtstruktur in der Welt (…) interessiert.“ Bis 2005 solle zur Ereude der Neoliberalen hüben wie drüben – eine Freihandelszone zwischen beiden Kontinenten geschaffen werden, die Wirtschaftswachstum auf beiden Seiten des Atlantiks ermöglichen und letztendlich auch den brasilianischen Favelas zugute kommen werde. Soweit die offizielle Darstellung. Doch im strategischen Machtpoker der neuen Partner – am Tisch unsichtbar immer mit dabei der abwesende Dritte USA – sind Einsatz und Gewinn die großen Unbekannten. Welche Interessen verfolgen die Europäer wirklich südlich des Rio Grande?

Nachhaltigkeit: das Versprechen von Rio

Seit dem Erdgipfel 1992 – der interessanter Weise auch in Rio stattfand – gehört es weltweit zum politisch korrekten Zungenschlag, sich periodisch öffentlichkeitswirksam zum Prinzip der nachhaltigen Entwicklung zu bekennen. Die Europäische Union stellt hier keine Ausnahme dar: Die fünfzehn EU-Staaten schrieben ihre Selbstverpflichtung auf „Kohärenz in der Entwicklungszusammenarbeit“ ausdrücklich in den Vertrag von Maastricht und bekräftigten dies auch im nachfolgenden Amsterdamer Vertrag. In Titel XX, Artikel 177 des Amsterdamer Vertrages kann man außerdem nachlesen, daß „die Politik der Gemeinschaft auf dem Gebiet der Entwicklungszusammenarbeit (…) die nachhaltige wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Entwicklungsländer (…), die harmonische, schrittweise Eingliederung der Entwicklungsländer in die Weltwirtschaft, (und) die Bekämpfung der Armut in den Entwicklungsländern (fördert).“

Alle Gemeinschaftspolitiken – etwa in den Bereichen Außenhandel, Agrar- und Fischereipolitik – dürfen (theoretisch) dem Ziel der nachhaltigen Entwicklung nicht zuwiderlaufen. Auch gegenüber Lateinamerika gilt der Grundsatz, daß die EU in allen ihren Aktionen die Perspektive einer nachhaltigen sozioökonomischen Entwicklung und der Armutsbekämpfung berücksichtigen muß. Soweit die europäischen Absichtserklärungen. Steht die Aushandlung einer transatlantischen Freihandelszone Mercosur-EU diesen Zielen entgegen?

Das Versprechen des Freihandels

Im Gegensatz zur Europäischen Kommission stellen mehrere entwicklungspolitische Organisationen Europas in einem Strategiepapier zum Rio-Gipfel fest, daß die Gleichung Handels- und Investitionsliberalisierung = Wachstum = Armutsreduktion fragwürdig sei. Die Kommission läßt in ihrem Ansatz erneut – wie zu Hochzeiten der Modernisierungstheorie in den 50er und 60er Jahren – die ungerechten Strukturen der Weltwirtschaft zwischen industrialisierten Zentren und den Ländern der Peripherie außer acht. Dabei war es pikanterweise der derzeitige brasilianische Präsident Fernando Henrique Cardoso selbst, der in einer heute schon klassisch zu nennenden Studie die strukturellen Abhängigkeitsbeziehungen zwischen Süd und Nord untersucht hatte. Übrigens hat Cardoso selbst seit seinem Amtsantritt 1994 seine eigenen Forschungsergebnisse zugunsten der alten Märchen über den sogenannten „Trickle-down-Effekt“ ad acta gelegt. Diese alte Annahme – jetzt von der Kommission in ihrem Vorbereitungspapier für den Gipfel wieder aus der Mottenkiste hervorgeholt – besagt, daß alle Gesellschaftsschichten gleichermaßen vom Wirtschaftswachstum profitieren: von oben nach unten und sukzessive. Da wird dann auch behauptet, daß Freihandelszonen allen potentiellen Verbraucherinnen etwas nützen. Doch schon der zweite Blick auf die Armutsstatistiken zeigt, daß in Lateinamerika 39% der Bevölkerung in Armut leben und 17% davon noch nicht einmal ihre elementarsten Grundbedürfnisse befriedigen können, geschweige denn „Whisky, Milchprodukte, Weine und Schokolade made in Europe“ konsumieren, wie Eva Karnofsky von der Süddeutschen Zeitung es sich vorstellt. Übrigens gehört Brasilien zu den Hauptkakaoproduzenten der Welt -warum dann der Wertschöpfungsprozeß nach Europa verlagert wird, um die „europäische Schokolade“ dann zurück nach Lateinamerika zu verschiffen, ist unter Entwicklungsgesichtspunkten zumindest fragwürdig.

Das erwähnte NGO-Papier stellt sogar fest, daß die Handelsliberalisierung und -deregulierung in Lateinamerika ein Ansteigen der Armut bewirkt hat. Denn seitdem Lateinamerikas Regierungen durch die Bank die ihnen von IWF und Weltbank als „bittere Medizin“ verordneten neoliberalen Reformen anwenden, überschwemmen Industriegüter aus den USA und Europa die südamerikanischen Märkte. Dies beschleunigte den Niedergang der heimischen -nicht wettbewerbsfähigen – Industrien und trug zum Anstieg der Massenarbeitslosigkeit auf dem Subkontinent bei. Die europäischen Entwicklungsorganisationen fordern, daß der Grundsatz der menschlichen Entwicklung endlich zum Herzstück des europäischen Lateinamerikakonzepts wird. Wollten die Europäer tatsächlich der Asymmetrie in den Wirtschaftsbeziehungen, dem unterschiedlichen Entwicklungsstand beider Regionen und der existierenden Massenarmut Rechnung tragen, müßten sie sich dazu durchringen, lateinamerikanischen Produkten einseitige Zollreduktionen und Erleichterungen beim Marktzugang gewähren.

Es geht um die Torte …

Die EU-Kommission verspricht den Lateinamerikanern – 500 Jahre nach Kolumbus – Entwicklung und Wohlstand auf partnerschaftlicher Basis. Doch in erster Linie geht es um die Aufteilung eines saftigen Kuchens: Der Standortlogik miteinander konkurrierende „Wettbewerbsstaaten“ zufolge ist Lateinamerika praktisch auf ein Feld wirtschaftlicher Auseinandersetzung der EU mit den USA reduziert. Folgerichtig möchte die EU-Kommission „die europäische Präsenz in allen Wirtschaftsbereichen“ Lateinamerikas verstärken und die Position der EU als größtem Handelspartner und zweitgrößtem Investor in der Region ausbauen. Der Mercosur ist neben Mexiko die Rosine im Latino-Kuchen – und die EU will sich diesen lukrativen Markt vor den USA sichern. Denn die Realisierung der von Clinton für 2005 geplanten Freihandelszone von Alaska bis Feuerland (ALCA) würde die europäischen Marktanteile auf dem Subkontinent weiter reduzieren. Man möchte in der Brüsseler Zentrale eine Wiederholung der Erfahrung mit Mexiko, das mit den USA und Kanada im Rahmen der NAFTA eine Freihandelszone bildet, unbedingt vermeiden. Die Lateinamerikaner ihrerseits – gerade eben verbal zu „Partnern“ der EU-Staaten aufgewertet – erhoffen sich eine Stärkung ihrer Position gegenüber der erdrückenden Präsenz ihrer nördlichen Nachbarn. Cardoso – wie übrigens auch Bundeskanzler Schröder – fuhr gleichzeitg eine Beschwichtigungsstrategie gegenüber den USA, deren Argwohn es zu vermeiden galt: „Es soll kein Pol gegen die USA geschaffen werden. Ziel ist vielmehr, die Entscheidungszentren zu diversifizieren.“

Spätestens an dieser Stelle drängt sich die Frage auf: Sind die Handelsbeziehungen zwischen der EU und Lateinamerika bis jetzt ausgewogener gewesen als die interamerikanischen? Wohl kaum. Betrachten wir das Beispiel Brasiliens: Durch (einseitige) Öffnung der Märkte stiegen dort zwischen 1990 und 1997 die Importe aus der EU um 340% an. In umgekehrter Richtung dagegen lediglich um 24%. Noch deutlicher wird die brutale Ungleichheit zwischen den beiden „Partnern“ am Handelsdefizit Lateinamerikas gegenüber der EU: 1997 lag es bei 10,5 Mrd. US-Dollar – 8 Mrd. US-Dollar davon betrafen die Mercosur-Staaten. Und der Aufwärtstrend des Defizits ist keineswegs gestoppt. Doch solcherlei Themen waren auf dem feierlichen Gipfeltreffen Tabu – und manche Kommentatoren frohlockten gar, die EU habe bereits „mehr als einen Fuß in der Tür“ in Lateinamerika und „endlich mal wieder Flagge gezeigt“ – zugunsten ihrer Industrie.

… und das, was unter den Tisch fiel

Die Verschuldungssituation Lateinamerikas war ebenso wenig ein Gipfelthema wie eine konkrete Beteiligung der Zivilgesellschaft an der neuen Partnerschaft mit der EU. Aufgrund der „Vorbehalte Mexikos“ wurde der entsprechende Absatz noch weiter in die Bedeutungslosigkeit hinein verwässert. Dabei ist das Lippenbekenntnis zur Partizipation genauso Mode wie das zur Nachhaltigkeit und darf in keinem offiziellen Konferenzdokument fehlen. Doch es gab auch ein Alternativforum, auf dem Vertreter der lateinamerikanischen Zivilgesellschaften und einige wenige Europäer ihre Anliegen und Forderungen formulierten. Seltsamerweise gelangten diese Forderungen nicht in die Weltpresse – zuviel war dort von der „Wiederentdeckung Lateinamerikas“ durch Europa die Rede. Unter dem Motto „Jenseits des Familienfotos – für eine solidarische Partnerschaft“ erinnerten die NGOs daran, daß die Auswirkungen der jüngsten Generation von Freihandelsabkommen der EU (mit Mexiko, dem Mercosur und Chile) auf die „verletzlichsten Teile der Bevölkerung“ dringend untersucht werden müßten, bevor den Europäern weitere Konzessionen bei der Handelsliberalisierung gemacht werden dürften. Und hierzu sollten Vertreter der Zivilgesellschaft auf allen interregionalen Foren einbezogen werden, ebenso wie bei der Durchführung von Kooperationsprogrammen. Die Entwicklungszusammenarbeit möchten sie gerne entstaubt und entbürokratisiert sehen. Auch zum Thema einer „neuen Finanzarchitektur“ steht ein Absatz in der „Erklärung von Rio“ und es wäre durchaus an der Zeit gewesen, nach Tequilaeffekt und Sambakrise über Schutzmechanismen gegen gewissenlose Währungsspekulanten zu reden. Bei den aufeinander folgenden Krisen von Mexiko bis Brasilien mußten die lateinamerikanischen Zentralbanken immer wieder intervenieren und Milliarden von Dollar an Währungsreserven ausgeben, um ihre Währungen zu stützen. In der „Erklärung von Rio“ heißt es allerdings nur vage: „Wir werden die Finanzsystems unserer Länder weiter stärken und Regulierungs- und Aufsichtsmechanismen entwickeln, um für die Anwendung bewährter internationaler Nonnen und Verfahren zu sorgen“. Außer Spesen …

Was bleibt vom Gipfelspuk – außer den Spesen?

Resümieren wir: Die EU verspricht den neo-liberalen Regierungschefs Lateinamerikas die Schaffung einer Freihandelszone in absehbarer Zeit, die nachhaltige Entwicklung und eine Reduktion der Armut bewirken soll und verschafft sich so – wie praktisch – einen Bündnispartner für die neueste Liberalisierungsrunde bei der Welthandelsorganisation WTO gegen die USA. All diese Versprechen stehen jedoch – aus lateinamerikanischer Perspektive – auf tönernen Füßen. Denn die Fünfzehn sind sich schon untereinander nicht einig, sobald es um Fragen der Landwirtschaft geht. Hier liegt auch die Ursache des riesigen Handelsdefizit zuungunsten Lateinamerikas: Landwirtschaftlichen Produkten verwehrt die EU häufig den Marktzugang. Daß dieser Sektor als „extrem sensibel“ betrachtet wird, hat auch das Gerangel um die Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) in der sogenannten „Agenda 2000“ deutlich gemacht. So argumentieren die Gegner einer Freihandelszone EU-Mercosur, daß der Import von Getreide, Fleisch und Milchprodukten aus Übersee die GAP bedrohen könnte, da die lateinamerikanischen Agrarprodukte sehr viel günstiger produziert werden als die europäischen. Sie sind also mehr als wettbewerbsfähig – was ja eigentlich eine Voraussetzung für die EU-Entwicklungspriorität „Eingliederung der Entwicklungsländer in die Weltwirtschaft“ sein sollte. Doch das sind wohl nur schöne Worte. Denn die europäische Agrarlobby – hauptsächlich in Deutschland, Frankreich und Spanien ansässig – schätzt, daß ein Freihandelsabkommen mit dem Mercosur 5,3 bis 14,3 Mrd. Euro im Jahr zusätzlich kosten würde, um die europäischen Landwirte für ihre Verluste durch den Wettbewerb mit dem Mercosur zu entschädigen. Die Verhandlungen über die Einführung einer Freihandelszone EU-Mercosur – sollte es denn ernsthaft welche geben werden also langwierig und schwierig. Konsequenterweise ist im Abschlußkommunique des Gipfels auch kein Enddatum für die Verhandlungen angegeben.

Das europäische Parlament hat in der Vergangenheit häufig eine etwas andere Position vertreten als die Kommission. Selbst aus dem Prozeß der regionalen Integration Europas hervorgegangen unterstützten viele Abgeordnete die Integrationsbemühungen Lateinamerikas. Allerdings ist diese Unterstützung oft auch nicht das Papier wert, auf dem sie steht. Ein Beispiel aus jüngster Zeit: Aus wahlkampftechnischen Gründen haben die großen Fraktionen der Christdemokraten und Sozialisten dem Globalabkommen der EU mit Mexico zugestimmt, obwohl dessen endgültiger Inhalt zum Zeitpunkt der Abstimmung noch gar nicht bekannt war. Wir Grünen im EP werden dennoch der Kommission und dem Rat gegenüber weiterhin auf die Einhaltung des Kohärenzgebots in der Entwicklungspolitik pochen und die anstehenden Verhandlungen EU-Mercosur kritisch begleiten.

* Wolfgang Kreissl-Dörfler, MdEP, Bündnis 90/ Die Grünen, Mitglied im Entwicklungs-ausschuß und Vizepräsident der Delegation für Zentralamerika und Mexiko, stellvertretendes Mitglied im Ausschuß für Industrie, Außenhandel, Forschung und Energie. Melanie Quandt, ist Politologin; Wissenschaftliche Mitarbeiterin von Wolfgang Kreissl-Dörtler in Brüssel.

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