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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Interview mit Paulo Fischer* Das gesamte Wirtschaftsmodell müßte weltweit ernshaft überdacht werden…

Viktor Sukup | | Artikel drucken
Lesedauer: 9 Minuten

Könnten Sie zunächst einmal versuchen, in wenigen Sätzen die Entwicklung Brasiliens in den letzten Jahrzehnten zu skizzieren, insbesondere auch in puncto Folgen dieser Entwicklung für die Umwelt?

Grundlegend sind wir von einem auf der Agrarproduktion aufgebauten Modell, in dem einem Bewohner der Städte drei der ländlichen Gebiete gegenüberstanden, zu einem auf der Industrieproduktion basierenden Modell übergegangen, bei dem sich diese Relation genau umgekehrt hat. Heute leben rund drei Viertel der Bevölkerung in den Städten, womit eine weitgehende „Favelisierung“ der früheren Landbevölkerung stattgefunden hat. Das bedeutet, daß diese ehemalige Landbevölkerung heute vielfach in den Elendsvierteln am Rande der großen Städte lebt.

Alles das hängt eng mit den Veränderungen in unseren Agrarstrukturen und -Produktionen zusammen, die sich mehr und mehr auf Getreide und vor allem Soja spezialisiert haben, ein Produkt, in dem Brasilien heute weltweit führend ist. Also auf Ernten, die radikal modernisiert und fast völlig mechanisiert wurden, was selbstverständlich die Arbeitsmöglichkeiten in der Landwirtschaft sehr eingeschränkt und damit die Landflucht beschleunigt hat.

Es ist nun klar, daß diese massive Abwanderung eine Reihe von sehr komplizierten Problemen in den wachsenden Städten mit sich gebracht hat, nicht zuletzt in Bezug auf die Umwelt. Und in der Agrarproduktion hat diese Modernisierung zur Verwendung von steigenden Mengen von Pestiziden, Kunstdünger etc. geführt und damit oft zur Vergiftung von Böden und Gewässern, Erosion usw.

Diese ganze Entwicklung hat also sicher bedeutende Produktionssteigerungen und somit Fortschritte für das Land im Ganzen ermöglicht, aber sie hat auch einen sehr hohen sozialen und ökologischen Preis gefordert. Dabei ist vor allem diese „Favelisierung“ breiter Schichten zu nennen und die zunehmende Konzentration des Nationaleinkommens in sehr wenigen Händen, die auch die Mittelschichten immer mehr in die Zwickmühle nimmt.

Und was ist nun zum eigentlichen Motor der Wirtschaft, der Industrie, zu sagen, deren Produktion seit Mitte des Jahrhunderts auf etwa das 20fache gestiegen ist?

Vor allem seit der Präsidentschaft von Juscelino Kubitschek (1956-61) hat sich die Industrie ja nahezu von einem Tag auf den anderen sehr stürmisch entwickelt. Aber ursprünglich waren doch keine Investitionsgüter- und Grundstoffindustrien da, was uns in einer engen Abhängigkeit von Importen hielt und unsere Außen Verschuldung erhöhte.

Nun haben natürlich diese Investitionsgüterimporte nicht immer unseren realen Bedürfnissen und Gegebenheiten entsprochen, und ebensowenig den Erfordernissen einer sauberen und gesunden Umwelt. Damit entstanden dann sehr schnell enorme Probleme auf diesem Gebiet, also eine stellenweise drastische Verschmutzung von Luft, Wasser und Böden, wie das z.B. in den Städten Cubatao und Volta Redonda besonders sichtbar ist. Beide haben ja weltweit in dieser Beziehung einen traurigen Ruf erlangt …

Ich würde sagen, daß dieses gesamte Industrialisierungs- und Entwicklungsmodell überhaupt dringend überdacht und korrigiert werden müßte, und nicht nur in Brasilien, sondern auch dort, von wo aus es hier importiert wurde.

Man hört immer wieder im Ausland, z.B. in den USA, Brasilien könnte oder sollte der „Brotkorb der Welt“ werden, weil wir das mit unseren enormen Ausdehnung ja sein könnten, aber das wäre kaum für uns die bestmögliche Entwicklung. Wir würden da Gefangene riesiger Agrarmonokulturen werden, mit chemischen Produkten, die von multinationalen Unternehmen hergestellt werden und uns zu ihrer massiven Verwendung zwingen würden, im Hinblick auf diese massive Produktion und ohne viel Rücksicht auf die Umwelt. Sogar von den internationalen Finanzorganisationen geht ja in der Zwischenzeit ein entsprechender Druck aus: wollt ihr Geld, so verwendet doch diese Kunstdünger und sonstigen Chemikalien zur Steigerung eurer Agrarproduktion …

Ein anderes schwerwiegendes Problem der brasilianischen Modernisierung ist die Energieversorgung. Die akute Zuspitzung dieses Problems hat doch z.B. zu den irrwitzigen Atomprojekten und der Umwandlung von Agrarflächen für Lebensmittelproduktion in Anbauflächen für Biosprit geführt…

Was dieses „Alkohol-Programm“ betrifft, so würde ich sagen, daß es positive Seiten gehabt hat, daß es aber bei der Durchführung einiges zu kritisieren gibt. Warum? Vor allem, weil man dieses ganze Programm in die Hände der Petrobrás, der staatlichen Erdölgesellschaft, gelegt hat. Aber die technische Kompetenz der Petrobrás ist vollständig anders als diejenige, die für eine solche Produktion erforderlich ist, und die Petrobrás hat sich da also neuen Herausforderungen stellen müssen, denen sie ganz einfach nicht gewachsen war. Das hat u.a. dazu geführt, daß diese Zuckerrohrplantagen für Alkoholgewinnung auch dort vorangetrieben wurden, wo die Agrarflächen für Lebensmittelproduktion geeignet und angezeigt waren, und außerdem hat diese Alkoholgewinnung auch zu neuen schweren Umweltproblemen geführt.

Und in Bezug auf das Thema der Atomkraftwerke würde ich sagen, es ist doch heute schon auf der gesamten Erde mehr als erwiesen, daß die Atomenergie viel gefährlicher als nützlich ist. Ich bin der Ansicht, daß wir ohne weiters auf sie verzichten und alternative Energiequellen finden können. Und das trifft sicher ganz besonders für Brasilien mit seinen kontinentalen Dimensionen zu, mit seinen vielen Tausend Kilometern Küste, wo man z.B. Gezeitenkraftwerke errichten könnte; dazu natürlich Sonnenenergie, sowie auch diejenige, die mit Wind und mit Wasser gewonnen werden kann. Bei der letzteren ist freilich zu bedenken, daß Wasserkraftwerke oft sehr negative soziale und Umweltfolgen haben, Bevölkerungsgruppen vertrieben werden. Dabei geraten diese oft in Gebiete, deren geographischen Umstände ganz andere Agrartechniken verlangen, diese aber bei den Neuangekommenen nicht bekannt sind, was wieder weitere schwere Umweltprobleme mit sich bringt. Dafür gibt es bereits etliche Beispiele, wie das derjenigen, die durch den Bau des Itaipu-Staudamms vertrieben wurden und nach Amazonien gingen, wo sie mit ihren traditionellen Anbaumethoden selbstverständlich den dort sehr dünnen Boden ruinierten. Fazit: der Tropenwald in diesen Gebieten ist heute so gut wie unwiderruflich vernichtet, und diese Leute leben jetzt im Elend.

A propos Amazonien: weltweit wird oft Brasilien hart kritisiert wegen der gewaltigen Umweltschäden dort, aber in Brasilien selbst nimmt man gern die Scheinheiligkeit der Industrieländer aufs Korn und warnt vor einem Druck derselben, der auf eine Art „Internationalisierung “ Amazoniens hinauslaufen könnte…

Vom Standpunkt des Umweltschutzes, der mich besonders motiviert, meine ich, dieser darf sozusagen keine Grenzen kennen. Das ist also eine ganz grundlegende Feststellung in dieser Diskussion. Aber davon ausgehend ist es auch notwendig, zu sehen, was hinter dem genannten Druck tatsächlich steht und worauf die diversen Initiativen konkret abzielen.

Gibt es also effektiv ein echtes Interesse am Umweltschutz -und ich selbst habe da z.B. kürzlich in diesem Bereich als juristischer Berater einer deutschen Gruppe fungiert, die im Bundesstaat Parä solche Projekte unterstützen wollte -, so kann ich nichts dagegen einwenden. Aber natürlich müssen dabei auch die brasilianischen Gesetze eingehalten werden, die z.B. dem Grundbesitz von Ausländern gewisse Grenzen setzen. Also in solchen Fällen müssen juristische Lösungen gesucht und gefunden werden, was durchaus möglich ist, wenn wirklich der Umweltschutz im Vordergrund steht, selbst wenn dabei auch gleichzeitig eine rationelle Ausbeutung der Bodenschätze oder Waldbestände geplant ist. Was nun diese „Internationalisierung“ Amazoniens betrifft, so halte ich das für reinen Unsinn, vor allem deshalb, weil die Region ja schon seit langem effektiv internationalisiert worden ist. Wer das bei uns nicht weiß, ist blind, taub und ein Esel.

Sie beziehen sich da insbesondere auf die Mulus wie Volkswagen mit ihren früheren riesigen Agrarflächen in Amazonien für extensive Viehzucht, oder jenes gigantische Papierprojekt des US-Milliardärs Ludwig?

Ja, natürlich, aber das sind doch nur zwei bekannte Beispiele, daneben gibt es viele andere. Ganz abgesehen von jenen Projekten, bei denen Brasilianer als Strohmänner dienen, die Initiative aber von Ausländern ausgeht. Also daß Amazonien internationalisiert ist, kann wirklich nur ein offenes Geheimnis sein.

Man hört und liest von schrecklichen Zahlen in Bezug auf die Abholzung in Amazonien. Wird da nicht oft übertrieben?

Ich würde sagen, nicht selten sind da einige dieser Meldungen übertrieben alarmierend. Und man muß ja auch die Größenordnungen sehen. Wenn es z.B. heißt, 140.000 Hektar wurden abgeholzt, das klingt nach viel, aber ist ja proportionell so gut wie nichts von einer riesigen Ausdehnung wie in Amazonien. Und das gilt natürlich noch mehr, wenn es sich um eine Region handelt, wo die natürliche Regeneration sehr stark ist, was dort oft zutrifft. Sicher hat es da oft tatsächlich massive Zerstörungen der Wälder gegeben, aber das wird meist drastisch übertrieben; auch wenn das in den letzten Jahren zugenommen hat, so handelt es sich doch mehr um episodische Gegebenheiten. Das hängt u.a. damit zusammen, daß neue Gesetze zum Umweltschutz diskutiert werden, und die Besitzer oft Angst hatten, später könnten sie dann nicht mehr wie heute handeln, und daher holzten sie schnell noch einmal eine Menge ab, sozusagen zur Sicherheit. Ähnliches ist im übrigen auch hier im Süden mit den araucárias, den hiesigen Koniferen, passiert, nicht nur in Amazonien, aber wie gesagt, das war eher eine Episode aus dem genannten Grund.

Die Industrieländer predigen weiterhin den Umweltschutz, gleichzeitig aber auch die verantwortungslosen Konsummodelle mit Auto für jedermann usw., und mit der Außenschuld kommt auch der Druck auf die Exporte um jeden Preis, ohne soziale und ökologische Rücksichten. Brasilien hat heute etwa 20 Millionen Autos und weit über 50 Millionen Arme, wie könnte das Land auf eine sozial verträglichere Form des „Fortschritts“ umschalten?

Was ich meine, ist, daß das gesamte Wirtschaftsmodell weltweit neu überdacht werden müßte. Es ist doch vollkommen erwiesen, daß unsere Art und Weise, wie wir den Umgang mit der Natur und ihren Ressourcen organisieren, ob nun hier oder selbst auch in Deutschland oder gar in der Ex-Sowjetunion etc., absolut unhaltbar ist. Wir haben gezeigt, daß wir unfähig sind, in verantwortlicher Weise mit den erneuerbaren und nicht erneuerbaren Ressourcen wie dem Erdöl umzugehen, und bis heute gibt es ja noch keine effizienten Alternativen für die Transportmittel usw.

Die Lösung kann ja wohl kaum der durch Beschluß von Präsident Itamar Franco wiederkommende VW-Käfer als „Auto des Volkes“ sein, sondern eher effiziente öffentliche Transportmittel. Was meinen Sie dazu?

Selbstverständlich, in Brasilien hat man ja die Eisenbahnen schon vor Jahrzehnten praktisch stillgelegt und voll und ganz auf die Straße gesetzt, die unvergleichbar höhere Kosten mit sich bringt, sowohl in Bezug auf Bau und Reparatur der Infrastruktur als auch in puncto Energieverbrauch und nicht zuletzt auch wegen der Umweltverschmutzung und der Autounfälle, bei denen wir ja mit rund 50.000 Verkehrstoten pro Jahr einen traurigen Weltrekord halten …
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* Paulo Fischer ist Jurist und FAO-Experte in Forstrecht, Vizedirektor der Umweltbehörde IBAMA im Bundesstaat Paraná.
Das Interview führte Dr. Viktor Sukup, Professor an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der Universität Buenos Aires, Autor zahlreicher Veröffentlichungen über Lateinamerika.

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