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Historische zeitgenössische Entwicklung des Umweltrechts in Brasilien

Heinrich Wolf | | Artikel drucken
Lesedauer: 10 Minuten

Es gibt die Ansicht, daß die Zerstörung der amazonischen Wälder und der brasilianischen Natur insgesamt auf eine fehlende oder mangelhafte Umwelt-Gesetzgebung zurückzuführen sei. Eine nähere Betrachtung der historischen und zeitgenössischen Entwicklung des Umweltrechts in Brasilien zeigt jedoch, daß diese weitverbreitete Annahme nicht zutrifft.

Schon zu Kolonialzeiten gab es in Brasilien ein Naturschutzrecht, denn von seiner Entdeckung und Annektierung an bis zur Erlangung der brasilianischen Unabhängigkeit 1824 galt das Recht der portugiesischen Krone auf dem Territorium des heutigen Brasiliens, mit Ausnahme der zeitweise holländisch regierten Gebiete und der spanischen Besetzung im 17. Jahrhundert. Schon lange vor der Entdeckung Brasiliens hatte es in Portugal Natur- und Umweltschutz gegeben, z.B. in Form von Jagdverboten in bestimmten Gebieten und zu bestimmten Jahreszeiten oder in Form des Verbots, gewisse Baumarten zu fällen. Beide Anordnungen waren mit Strafe bewehrt, das Fällen der Bäume abgestuft nach dem Wert der jeweiligen Spezies. Dieses im 15. Jahrhundert bereits detaillierte Naturschutzrecht Portugals wurde nach Brasilien importiert.

Auch unter der Herrschaft der Spanier gab es Naturschutznormen: 1603 wurden die Philippinischen Verordnungen erlassen, die zur Pflanzung von Bäumen anregten und das Fällen vor allem von Obstbäumen verboten. Die zeitweise im Nordosten Brasiliens herrschenden Holländer besaßen und importierten ebenfalls eine entwickelte Umweltgesetzgebung, die z.B. die Pflanzung von Monokulturen verbot. Ein über den Naturschutz hinausgehendes Umweltrecht war ebenfalls ausgebildet, so war z.B. verboten, Abfälle in Seen und Flüsse zu entsorgen. Sowohl das Verursacherprinzip als auch das Prinzip der Wiedergutmachung existierten bereits in den alten Gesetzestexten.

Was allerdings die praktische Anwendung der Gesetze betrifft, so herrschte den wenigen Überlieferungen nach eine weitgehende Nachlässigkeit der Verwaltung bei deren Handhabung. Diese Nachlässigkeit lag wohl weniger in dem Gewicht ökonomischer Interessen begründet, in die die Verwaltung verstrickt war, sondern ist eher durch die enorme Größe des Landes und die scheinbar unerschöpflichen Reichtümer seiner natürlichen Ressourcen zu erklären, die Naturschutz in gewisser Weise als absurd erscheinen ließen. Hinzu kommen bestimmte kulturelle Faktoren wie das Fehlen einer klaren Trennung zwischen öffentlichen Gütern und Privateigentum, eine generelle Gleichgültigkeit des Kolonisten gegenüber öffentlichen Gütern und eine vom Individualismus geprägte Kolonisierung und Ausbeutung natürlicher Ressourcen. Die Vielzahl und Vielfältigkeit der rechtlichen Vorschriften sowohl der Verordnungen wie auch der z.T. überspannten Gesetze trug zur Verwirrung und Unklarheit der Rechtslage bei und führte zu Uneinigkeit der Gerichte bezüglich der Auslegung. Eine weitere Anwendungschwierigkeit lag in der von jeher mit dem Umweltthema verknüpften sozialen Problematik, z.B. dem zu Kolonialzeiten immer drohenden Hunger. Die zu seiner Bekämpfung dringend notwendige Ausweitung der Pflanzungen geriet etwa in Konflikt mit den Bedürfnissen des Waldschutzes, zu dessen Gunsten sein wirtschaftlicher Wert für die portugiesische Krone sprach (z.B. portugiesisches Monopol für das Tropenholz pau brasil, dessen Abholzung bereits 1605 reguliert wurde).

1802 wurden erste Vorschriften zur Wiederaufforstung der brasilianischen Küste erlassen. Die Verlegung des Königshofes nach Brasilien 1808 verstärkte die Initiativen für Umwelt- und Naturschutz, ein Beispiel ist die Anlegung des königlichen botanischen Gartens Dom Joao des VI. in Rio de Janeiro mit dem Ziel der Erhaltung gefährdeter Arten. Das Strafgesetzbuch von 1830 kriminalisierte die illegale Abholzung von Wäldern, das Bodengesetz von 1850 die Verursachung von Erosionsschäden durch Kahlschlag und Brandrodung.

Was das Umweltrecht außerhalb des Naturschutzrechts betrifft, so gab es bis auf wenige Ausnahmen wie etwa Verordnungen zur Verminderung von kleinflächiger, lokaler Umweltverschmutzung, die zu unmittelbaren hygienischen Problemen führte, keine rechtlichen Regelungen speziell für das brasilianische Territorium. Die für Portugal geltenden Vorschriften wurden nach wie vor übernommen. Die oben beschriebene mangelnde Anwendung des Rechts in der Kolonie warf, anders als im Ursprungsland, keine größeren Probleme auf, denn sie hatte keine spürbar negativen Folgen für die menschliche Lebensqualität, von Ausnahmen in kleinem Maßstab abgesehen. In dem noch jungfräulichen, riesigen Land gab es schier unendlich viel unverbrauchte Natur, die immer die Möglichkeit eröffnete, auszuweichen und anderswo erneut zu siedeln. Die aus Europa gekommenen Kolonisatoren nutzten die Natur und verbrauchten sie im wahrsten Sinne des Wortes. Dies gilt für Brasilien vom sechzehnten bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein.

Der Widerhall des Umweltschutzthemas im modernen Recht des 20. Jahrhunderts manifestiert sich auf allen juristischen Normenebenen, im Verfassungsrecht wie auch im einfachgesetzlichen und untergesetzlichen Recht, im Recht der Föderation wie im Recht der einzelnen Bundesländer. Von den fünf Verfassungen, die Brasilien in diesem Jahrhundert besaß, enthielt allerdings nur die letzte etwas über den Schutz der natürlichen Umwelt, die aktuell gültige Verfassung von 1988. Wohl hatten einzelne Teile der Natur in den früheren Verfassungen schon Erwähnung gefunden, Natur als umfassendes Ganzes dagegen war nicht behandelt worden.

Auf der einfachgesetzlichen Ebene des Bundesrechts wurden in der ersten Hälfte des Jahrhunderts Waldgesetz, Fischereigesetz, Wasser- und Bodengesetz sowie Umweltvorschriften im Strafgesetz erlassen. Das Umweltrecht in dem modernen Sinn eines von einzelnen Elementen absehenden, umfassenderen Blickwinkels auf die gesamte Umwelt entstand erst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts. Es gründet auf der Ende der 50er Jahre im Industriedreieck von Sao Paulo, Belo Horizonte und Rio de Janeiro aufgekommenen Umweltbewegung, die sich gegen die zunehmende Verschlechterung der Lebensqualität durch die Industrieverschmutzung in dieser Region wandte und zunächst administrative Maßnahmen erzwang. Später wurde die rechtliche Basis für staatliche Maßnahmen zur Kontrolle der Umweltverschmutzung durch den kommunalen, regionalen und schließlich nationalen Gesetzgeber ausgebaut und so das Umweltrecht geboren. 1973 unternahm man eine Systematisierung der Materie des Umweltrechts, die mit der Schaffung des Staatssekretariats für Umwelt (SEMA) begann und ab 1975 mit verschiedenen Regelwerken fortgeführt wurde. Ende der siebziger Jahre begann sich eine Gesamtsicht der Umwelt durchzusetzen, dokumentiert durch das umfassende Gesetz über die nationale Umweltpolitik, das 1981 in Kraft trat. Ab den 80er Jahren beschleunigte sich in Brasilien die Entwicklung der Umweltgesetzgebung. 1988 steuerte sie mit dem Erlaß der neuen Verfassung einem Höhepunkt zu. Weitere vom umfassenden Begriff der Umwelt ausgehende Gesetze sind das Umwelterziehungsgesetz und das neue Umweltstrafgesetz, beide in den 90er Jahren erlassen.

Das untergesetzliche Recht – Landesrecht und Kommunalrecht – entwickelte sich, von dem o.g. Recht der Region um Sao Paulo abgesehen, nicht systematisch, nur allmählich und zeitversetzt zum Bundesrecht. Dies hängt wohl mit der Vorherrschaft des Zentralismus im brasilianischen föderalen System seit seiner Gründung 1832 zusammen. Während mehr als eines Jahrhunderts Republik hatten die Gliedstaaten nicht eine Initiative zur dezentralisierten Politik ergriffen, nicht aufgrund ihres mangelnden Willens, sondern aufgrund der Bestimmungen der früheren Verfassungen. Erst die neue, gegenwärtig geltende Verfassung von 1988 hat Regelungen eingeführt, die die zentralistischen Leitlinien modifizieren und die Fähigkeit zur Beteiligung der Gliedstaaten und Kommunen beträchtlich verstärken, indem sie auch deren finanziellen Spielraum erhöhen. Die neue Dezentralisierung innerhalb der Föderation wirkte sich auf das Umweltrecht der Länder und Kommunen fördernd aus, zahlreiche eigene Initiativen und Projekte sind seither entstanden.

Die Verfassung von 1988 ist die erste und einzige Brasiliens, die ausdrücklich und bewußt den Schutz der Umwelt behandelt. Die Umweltverfassung ist das Ergebnis eines politischen Umschwungs Ende der achtziger Jahre, bei dem konservative Kräfte wieder stärker wurden und Umweltschutzforderungen wieder zurückgenommen wurden bzw. an politischem Gewicht verloren. Denn das drei Jahre vor ihrem Erlaß von einer Studienkommmisssion erarbeitete Vorprojekt enthielt Elemente, die in der endgültigen Fassung nicht mehr erscheinen. Dazu gehören die Aufgabe einer ökologischen Bodenordnung, die Unterwerfung der Entwicklungspolitik in Stadt und Land unter Umweltauflagen und die Kontrolle von Industriegebieten. Außerdem waren die Genehmigungsbestimmungen für die Industrie strenger.

Der darauffolgende erste Verfassungsentwurf war in mehreren Punkten sogar noch erheblich ehrgeiziger als der Vorentwurf. Als Staatsaufgabe sah er die Schaffung eines System der ständigen Umweltüberwachung vor, besonders in Gebieten mit kritischer Verschmutzung. Nutzungspläne bezüglich des amazonischen Regenwalds und anderer wichtiger Biome sollten einer vorherigen Genehmigung durch den Kongreß unterworfen werden. Die Streitkräfte sollten zum Schutz der Umwelt eingesetzt werden können.

Obwohl diese Vorschriften in der Endfassung stark relativiert wurden, ist die schließlich in Kraft getretene Version der Verfassung weitgehend vom Thema Umwelt durchdrungen. So bildet z.B. der Umweltschutz eines der richtungweisenden Prinzipien der Finanz- und Wirtschaftsverfassung und soll laut Art. 174 bei jeder wirtschaftlichen Tätigkeit berücksichtigt werden; auch ist Umweltschutz von gleichem Rang wie andere Prinzipien, etwa das der nationalen Souveränität, des Rechts des Privateigentums, des freien Marktes, des Verbraucherschutzes etc. (vgl. Art. 170). Neben diesen Beispielen gibt es über den ganzen Verfassungstext verstreute Umweltvorschriften; sie haben prozessualen, verwaltungsrechtlichen, strafrechtlichen und zivilrechtlichen Charakter, wobei die Regelung der zivilrechtlichen Verantwortlichkeit und der Reparation von Umweltschäden besonders ausgestaltet ist.

Kern der Umweltverfassung ist aber das Kapitel Meio Ambiente (Umwelt), welches bezeichnenderweise unter dem Titel „Soziale Ordnung“ eingegliedert wurde. Es besteht aus einem einzigen, sehr umfangreichen Artikel, dem Art. 225, der in sechs Paragraphen untergliedert ist. Darin wird ein moderner Kompromiß zwischen Umweltnutzung und Umweltschutz entwickelt, die Umwelterziehung als Ziel festgeschrieben, der Schutz des genetischen Erbes und Erlaß von Vorschriften zur Gentechnik angeordnet sowie ein besonderes Schutzregime für ausgewählte Ökosysteme wie den amazonischen Urwald, das Pantanal und den atlantischen Regenwald vorgesehen. Die Krönung dieses Umweltartikels aber bildet das subjektive Recht des Individuums auf eine gesunde, im ökologischen Gleichgewicht befindliche Umwelt. Es ist ein Recht vergleichbar den Grundrechten, auch wenn es nicht unter ihnen aufgeführt ist, sondern weiter hinten im Verfassungstext steht. Die Umweltqualität verwandelt sich durch diese Bestimmung in ein Gut und einen Wert, dessen Erhaltung, Schutz und Verteidigung zum Imperativ für die öffentliche Gewalt wird, und zwar, um die Gesundheit und das Wohlbefinden der menschlichen Person zu sichern. Dem Recht auf Umwelt entspricht deshalb eine Pflicht des Staates, darauf hinzuwirken, daß Bedingungen geschaffen werden, die allen den Genuß dieses Rechts ermöglichen.

Allgemein verwendet die neue Verfassung nicht so sehr negative Sanktionen (Strafmaßnahmen), sondern arbeitet mehr mit positiven Sanktionen, also belohnenden, anregenden Maßnahmen. Damit betont sie die entwicklungsfördemde Funktion des Rechts. Die von ihr geschaffene Rechtsordnung ist nicht die eines autoritativen, sondern die eines interventionistischen Staats, der die Funktion eines Richtungsanzeigers übernimmt und der Rahmenbedingungen in Form bestimmter programmatischer Prinzipien und Politiken schafft.

Die Aufnahme umweltrechtlicher Grundsätze in die Verfassung hat zweierlei wichtige Bedeutungen bzw. Folgen: erstens ein erschwertes Außerkraftsetzen der betreffenden Normen im Vergleich mit Normen aus der einfachgesetzlichen Ebene; zweitens ein Vorrang dieser Normen vor allen Gesetzen und sonstigen Rechtsnormen, ausgenommen solcher von Verfassungsrang. Ihnen wird dadurch ein Höchstmaß an Stabilität verschafft, und der Umweltschutz wird zu einem der elementarsten Grundpfeiler der Rechtsordnung.

Aufgrund der Bestimmungen der neuen Verfassungen muß fortan in Brasilien jede Interpretation und Auslegung des geltenden Rechts die Erhaltung der Umwelt berücksichtigen. Angesichts des beschriebenen historischen Hintergrundes ist es erstaunlich und bemerkenswert, daß auf höchster Ebene der Normenhierarchie, nämlich im Verfassungsrecht, der Umweltschutz so umfassend geregelt ist. Ein Rechtsvergleich ergibt, daß diese Umweltverfassung weit über die entsprechenden Regelungen des deutschen Grundgesetzes hinausgehen. Das zeugt davon, daß die Umweltschutzfrage im heutigen Brasilien für sehr wichtig und gleichrangig mit anderen verfassungsrechtlichen Zielen wie sozialer Gerechtigkeit, Wirtschaftswachstum oder Bekämpfung der Armut gehalten wird. Man kann daraus auf eine große Bewußtheit gegenüber der Umweltproblematik schließen. Von der Ökologie wird von manchen brasilianischen Autoren sogar behauptet, sie sei das Thema schlechthin, das auf vielen politischen Foren diskutiert werde, Gegenstand großer Dispute sei und immer wieder neue Redner auf den Plan rufe.

Daß dennoch die Umweltzerstörung in Brasilien so anhaltend wie bisher voranschreitet, allem voran die Beseitigung des amazonischen Regenwaldes, zeigt, daß das Hauptproblem nicht bei der Rechtssetzung, sondern bei der praktischen Rechtsdurchsetzung liegt.

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