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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Die Mauer der Schande
(oder: Wie Brasilien seine sozialen Probleme zu lösen versucht)

Michelle Caldas Meyer | | Artikel drucken
Lesedauer: 9 Minuten

Eine persönliche Einschätzung

Als ich im März dieses Jahres in Brasilien war, kam im Fernsehen zwischen einer Elendsnachricht und der anderen der Bericht über die Favela Dona Marta (Botafogo / Rio de Janeiro). Die Stadtverwaltung ordnete den Bau einer drei Meter hohen Mauer um die Favela an, mit dem Ziel, deren Expansion zu begrenzen. Auch der umliegende Wald sollte dadurch geschützt werden. Dies ist jedoch nur die erste Mauer von vielen anderen, die noch gebaut werden sollen. Insgesamt elf Kilometer Mauer werden bis Ende des Jahres um die Slums entstehen. Ich muss zugeben, dass ich diesen Berichten kaum Aufmerksamkeit geschenkt habe, da es nichts Neues war. Das Leben ging weiter, so wie für alle anderen cariocas (Einwohner von Rio de Janeiro). Erst als die Nachricht Deutschland erreichte und einige Freunde darüber lasen, bekam ich empörte E-Mails über die Situation. Wie kann man die armen Leute einfach so behandeln und sie durch eine Mauer ausgrenzen? Erst dann habe ich näher darüber nachgedacht.

Zunächst möchte ich mich dafür entschuldigen. Wenn man in Brasilien ist, besonders in Rio de Janeiro, muss man sich an die sozialen Verhältnisse anpassen, um das ewige Schuldgefühl zu vergessen, das man bekommt sobald ein Straßenkind einen anbettelt. Man wird sozusagen „betriebsblind“. Drogenmafia, Massaker in den Armenvierteln, Querschläger, Kinder auf der Straße – alles wird als traurig eingeschätzt, gehört aber zum täglichen Leben dazu. Es mag brutal oder kaltherzig klingen, aber nur wer eine längere Zeit dort gelebt hat, kann es verstehen. Es ist ein natürlicher Schutz. Ich entschuldige mich dennoch dafür, denn trotz dieser Gewohnheit, sollte man nie aufhören, darüber nachzudenken, wie man dieses Problem lösen oder zumindest zu einer Lösung beitragen kann.

Mein erster Eindruck nach den E-Mails sagte mir, dass die Stadtverwaltung grausam war! Der seit Januar 2009 amtierende neue Präfekt von Rio de Janeiro, Eduardo Paes (PMDB), kündigte bereits in den Tagen nach seinem Amtsantritt an, dass er einen „Ordnungsschock“ (Choque de ordem) durchsetzen wolle. Dies bedeutet, dass in Zukunft sämtliche Gesetze auch eingehalten werden sollen, um die Stadt in Ordnung zu bringen, notfalls mit polizeilicher Gewalt. Das klang gut, und die ersten Maßnahmen waren auch konsequent: Falschparker wurden bestraft, illegale Bauten wurden abgerissen (auch wenn es sich um noble Häuser handelte), und Obdachlose wurden in Heimen untergebracht.

Nur die ständige Präsenz der Polizei wirkte furchteinflößend. Leider ist es in Brasilien so, dass man manchmal mehr Angst vor der Polizei hat, als vor Kriminellen. Die Anwendung von Gewalt bei diesen Ordnungsschock-Aktionen ist nichts Ungewöhnliches. Bei manchen heiklen Maßnahmen werden jedoch „anonyme“ Polizeibeamte eingesetzt, da diese entgegen der gesetzlichen Regelung keinen Nachnamen auf der Vorderseite ihrer Uniform tragen und dadurch nicht identifiziert werden können. Und normalerweise wird nicht vorher gefragt, ob man etwas mit der Situation zu tun hat oder ob man einfach nur ein Passant ist.

Der Bürgermeister Paes geht mit seinem Plan für die Schaffung einer neuen Ordnung aber weiter und sagte, dass man fortan auch den Abriss und die Umsiedlung von Favelas nicht mehr als Tabu sehen sollte.

Die autoritäre Art und Weise des Präfekten wird von vielen cariocas aus den obersten Schichten gut geheißen. „Endlich ist jemand da, um die schmutzige Arbeit zu machen“, denken viele. Bei diesen Überlegungen bleibt jedoch offen, was mit den Favela-Bewohnern passieren wird. Man kann zwar die noch relativ jungen und nicht so stark gewachsenen Armenviertel verlagern und eine Wohnalternative bieten. Diese würde sich aber am Stadtrand befinden. Die Arbeitsstellen hingegen sind in der Innenstadt. Lange Arbeitswege von mindestens 1,5 Stunden sowie die fehlende Infrastruktur können von der Regierung nicht einfach so kompensiert werden.

Die Politik warb bereits in den 1950er Jahren für eine solche Umsiedlung, was dem derzeit teuersten Stadtteil Rios zugute kam (Lagoa). Dieses Beispiel wird überaus gern vorgebracht. Man vergisst jedoch zu erwähnen, dass die Einwohner der meisten anderen Favelas nicht davon profitierten. Sie wurden in „Wohnsiedlungen“ untergebracht. Eine der bekanntesten von ihnen ist „Cidade de Deus“. Soll sich die arme Bevölkerung noch dafür bedanken, dass sie diese Häuser bekommen hat?

Der aktuelle Trend ist jedoch der Mauerbau. Die ersten von zukünftig 634 Metern wurden bereits für R$ 982.000 (ca. 340.000 €) von einer durch die Stadtverwaltung beauftragten Privatfirma um die Favela Dona Marta gebaut. Die Zentralregierung fördert den Bau, indem sie die Infrastruktur in dem Armenviertel weiter verbessert. Dort, wo eine Mauer entsteht, werden auch Schulen und Sanitäranlagen mit Geldern des Programms für Wachstumsförderung (PAC) errichtet. Deshalb haben die Favelas, die gegen den Mauerbau sind, Angst, dass sie keine Förderung der Regierung mehr bekommen. Ein cleveres Druckmittel.

Bis Ende April sollen die Bauarbeiten in Rocinha, dem größten Slum Brasiliens, in Pedra Branca und in Chácara do Céu erfolgen. Die Ausschreibung für die 3,4 Kilometer lange und R$ 21 Millionen (ca. 7,3 Millionen €) teure Mauer erfolgte bereits zu Beginn des Monats. Dafür müssen auch Häuser abgerissen werden. Die Stadtverwaltung verspricht aber den ca. 500 Familien, innerhalb der Favela umziehen zu können. Polizei oder spezielle Elitetruppen überwachen ständig die Bauarbeiten, da sonst die Arbeiter, die bereits mit Schutzwesten ausgerüstet sind, den Bau aufgrund der Proteste nicht fortsetzen könnten.

Die Einwohnerorganisation von Rocinha ist über das Projekt gar nicht erfreut und sagte, dass die Mauer kaum etwas verändern wird, da ihre Expansion momentan vertikal erfolgt. Die Statistik der letzten zehn Jahre bestätigt diese Aussage, da die Favela in dieser Periode lediglich um 12.000 Quadratmeter (1,41%) wuchs. Der Bau der „Öko-Grenzen“, wie die Mauern manchmal von der Stadtverwaltung genannt werden, finden in der öffentlichen Meinung ein geteiltes Echo. Laut einer am 13 April 2009 veröffentlichten Umfrage sind 47% der Einwohner von Rio für den Bau der Mauer, während 44% dagegen sind. 60% der Befragten waren zudem der Meinung, dass eine Mauer die Unterschiede zwischen Arm und Reich nicht vergrößern würde.

Berühmte Persönlichkeiten äußerten sich ebenfalls über das Thema, wie z.B. der portugiesische Literaturnobelpreisträger José Saramago. Für ihn ist das Projekt diskriminierend und er verglich es mit dem Bau der Berliner Mauer. Auch andere Wissenschaftler sagten, dass sich dadurch nur Ghettos bilden würden, als ob es sich bei den Favelas auch ohne Mauer nicht bereits um eine Art Ghetto handeln würde? Aber das ist eine andere Diskussion.

Wie gesagt, mein erster Eindruck war Empörung. Aber nach einiger Zeit fand ich die Lösung sogar plausibel. Jetzt muss ich natürlich meinen Standpunkt erklären. Als jahrelange Bewohnerin von Rio weiß ich, dass die Stadt rasant expandiert. Nicht nur die Favelas wachsen, sondern auch die wohlhabenden Schichten der Bevölkerung bauen Wolkenkratzer so weit die Augen reichen. In jeder kleinen Lücke wird in der Regel ein 20 Etagen hohes Gebäude errichtet. Das Wohnungsproblem ist offensichtlich. Dass dieses Wachstum etwas gebremst und geordneter werden sollte, ist ein Konsens. So gesehen ist Präfekt Paes konsequent, wenn er die Reichen und die Armen in ihrer Ausdehnung Richtung (Regen-)Wald stoppen will. Hier sind sich Mauerbefürworter und -gegner einig. Die Favelas haben keinen Raum mehr zu wachsen, da dieses Wachstum dem Urwald schaden würde.

Der Hauptunterschied zwischen den Argumentationslinien bezieht sich zum größten Teil auf die Art und Weise, wie dies geregelt werden soll: nämlich das Pro und Contra der Konstruktion einer Mauer. Die Gegner plädieren für andere Alternativen, um das Wachstum zu bremsen, wie z.B. den Bau von Autobahnen um die Slums oder die Stärkung des Umweltbewusstseins der Favela-Bewohner. Für jemanden, der Rio de Janeiro nicht genauer kennt, scheint diese Lösung durchaus plausibel. Das Problem ist, dass jeder in Rio weiß, dass das leider nicht funktionieren würde. Umweltbewusstsein ist wichtig. Aber wenn man um die eigene Existenz kämpft, sehen es die meisten als eine Nebensächlichkeit an – und verdrängen es. Und wir Brasilianer müssen zugeben, dass wir längst nicht so umweltbewusst wie die Deutschen sind: Mülltrennung, Energiesparen und Nachhaltigkeit im Allgemeinen sind bei uns noch ein Randthema. Durch den Überfluss an vorhandenen Ressourcen sind wir es nicht anders gewöhnt.

Eine Autobahn zu bauen, um die Expansion zu bremsen? Das wäre mir auch neu, denn je besser die Infrastruktur ist, desto interessanter wird das Gebiet für arme Familien sein. Und wer würde sich schon trauen, solche Autobahnen nachts oder auch sogar tagsüber zu benutzen, wenn die Drogenmafia nur ein paar Schritte entfernt ist und sich mit der Polizei regelmäßig Schusswechsel liefert? Das sehen wir bereits bei den anderen existierenden Autobahnen, die am Rand von Favelas gebaut wurden (Linha Amarela oder Linha Vermelha).

Der Bau von Mauern um die Favelas ist, wie bereits oben erwähnt, nichts wirklich Neues. Bereits vor 25 Jahren hat die Stadtverwaltung, ebenso wie auch private Einwohnerorganisationen auf dieses Mittel zurückgegriffen. Rocinha z.B. hat bereits eine 500 Meter lange Mauer auf seiner rechten Seite, damit es nicht über den darunterliegenden Tunnel wachsen konnte. Durch den Bau von umliegenden Häusern und der dichten Vegetation sieht man jedoch nichts mehr davon, wodurch diese Mauer in Vergessenheit geriet. Auch andere Slums sind bereits „eingemauert“.

Ich bin keine Befürworterin der Mauerbauten, aber leider sehe ich keine andere schnelle „Lösung“ für die Begrenzung des Wachstums. Dass man langfristige Alternativen haben kann bzw. muss, wie z.B. durch den Bau von menschenwürdigen Siedlungen, welche eine gute Infrastruktur (Verkehr und Versorgung) sowie Arbeit anbieten, steht außer Frage. Aber bis die Stadt das geschafft hat, würden wir keinen einzigen grünen Fleck mehr finden (und das nicht nur wegen der Favelas, sondern auch wegen der reichen Viertel). Natürlich wirkt eine Mauer einschüchternd und ist keine soziale Alternative. Die schlimmste Mauer bleibt hingegen trotzdem unsichtbar: die in den Köpfen der Gesellschaft. Soziale Unterschiede zwischen Armen und Reichen werden nicht durch eine drei Meter hohe Mauer begrenzt. Der Betonklotz wird nicht die Favela „verstecken“, wie viele sagen. Die Armut und die Ratlosigkeit eines großen Teils der Bevölkerung sind immer noch sichtbar und werden nicht durch einfache Grenzen oder Verlagerungen von Slums gelöst.

Der Bau dieser Mauer mag als eine verzweifelte urbane und umweltschonende Maßnahme gelten, kann aber auf keinen Fall eine nachhaltige Sozialpolitik ersetzen.

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