Brasilien, das Land des Samba, des Fußballs und der guten Laune, befindet sich kurz vor dem Megaevent – der Fußballweltmeisterschaft der Männer. In den Supermärkten ist plötzlich alles voller brasilianischer Lebensfreude, und mit der Pizza „Feijoada“ kann sich jedermann in zehn Minuten die gewagt exotische Mischung von Würstchen, Bohnen, Limette und Chili auf den Teller zaubern. Auch die Fernsehsender und Zeitungen haben sich auf das Ereignis des Jahres im „fußballverrückten“ Brasilien eingestellt. Sportmoderatoren schlagen sich durch den brasilianischen Dschungel, sie sprechen mutig von Angesicht zu Angesicht mit den Slumbewohnern, die trotz Armut und Drogen so unglaublich lebensfroh sind. Und auch das bislang größte Problem, den deutschen WM-Bus über die zu knapp bemessene Fährenrampe zu bringen, ist geschafft. Puh. Alle könnten von dem anstehenden Event profitieren, wären da nicht die seit Wochen andauernden Streiks verschiedener Arbeitergewerkschaften, die nervigen Proteste von zwangsgeräumten Anwohnern, deren Häuser abgerissen wurden, um Parkplätze zu schaffen. Wäre da nicht diese dumme Bevölkerung, die so gar nicht von der WM profitiert und sich auch mit gar nichts mehr beruhigen lässt.
Wenige Tage vor dem WM-Eröffnungsspiel befinden sich die Metroarbeiter im Streik. Ausgerechnet in São Paulo. Die Millionenstadt kommt mit der vorhandenen Infrastruktur schon im Alltag nicht klar. Wer es sich leisten kann, setzt sich in den Helikopter, um den stundenlangen Staus zu entkommen. Mit den tausenden von zusätzlichen Besuchern steht sie vor dem Kollaps. Die Arbeiter im öffentlichen Nahverkehr nutzen das nun als Druckmittel. Sie legten am 5. Juni die Arbeit auf ausgewählten Strecken nieder. Ihre Forderung: eine der Inflationsrate angemessene Lohnanpassung und mehr Arbeitsplätze. Heute, drei Tage vor dem Eröffnungsspiel in São Paulos Itaquera Stadion, setzt der rechtskonservative Bürgermeister Alckmin nicht mehr auf Verhandlungen. Streiken wird verboten, und die Polizeisondereinheit Choque rückt mit Gummigeschossen, Blendgranaten und Tränengas an. Dieselbe Polizei, die schon während der Militärdiktatur für Ruhe und Ordnung sorgte, ist auch jetzt zur Stelle, wenn sich das Volk partout nicht mehr hinhalten lässt. Es wird eng im Kampf um die Stadt.
In den deutschen Medien wird davon nicht berichtet. Schlagzeilen machen andere. Die Rebellen in der Ostukraine, wo die zaghaft erblühende „westliche“ Demokratie zu sterben droht. Die aufstrebenden demokratischen Bewegungen in der Türkei, die vom realitätsfremden Autokraten Erdogan niedergeschlagen werden. Wo immer in der Welt „westliche“ und „demokratische“ Werte gefährdet sein könnten, wird gerne ausführlich berichtet.
Von den aktuell kriminalisierten Streikenden in Brasilien
Natürlich gibt es zig Artikel und Dossiers über den Unmut der Bevölkerung, über die FIFA und darüber, dass die Regierung deren Spielregeln akzeptiert. Es wurde über die Bannmeile um die Stadien berichtet, die die lokalen Kleinhändler ruinieren, und darüber, dass die FIFA trotz der Milliardengewinne zusätzlich von ihrer Steuerpflicht befreit wurde, was für den brasilianischen Staat Millionenverluste an Steuern bedeutet. Von schlecht geplanten Stadien, Zwangsumsiedlungen, militärischen „Säuberungen“ in Armengebieten und vieles mehr. Aber seit einigen Tagen ist es in den Medien still geworden. Das ist auch nicht weiter erstaunlich, begreift man die Fußballweltmeisterschaft als das, was sie mittlerweile ist: ein Ereignis, aus dem alle Profit schlagen wollen, von der milliardenschweren FIFA, über die Regierung des austragenden Landes bis hin zum Tourismus, der Lebensmittelindustrie und dem Biergartenbetreiber um die Ecke.
Die Wut der Bürger richtet sich ausdrücklich eben auch nicht gegen den Fußball und den sportlichen Wettkampf, sondern gegen die ausbeutende Maschinerie WM und FIFA. „Copa sem o povo, tô na rua de novo“: so heißt der neue Slogan mit dem sich ein Jahr nach dem „Aufwachen des Riesen“ wieder Demonstranten auf der Straße melden. Auf Deutsch bedeutet das soviel wie: „Eine Weltmeisterschaft ohne das Volk, da geh ich doch wieder auf die Straße.“
Es bleibt zu hoffen, dass die mutigen Protestierenden Gehör finden und nicht auch noch zu Verlierern der WM werden. Von denen gibt es schon genügend. Nicht aber von den aktuell kriminalisierten Streikenden in Brasilien.
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