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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Brasilien im Wandel – Rückblick und Vorschau

Lesedauer: 11 Minuten

Interview - Brasilien im Wandel (Foto: Quetzal Redaktion, Katharina Schwirkus)Die Redaktion des QUETZAL bietet auch Studenten und jungen Autoren eine Plattform, eigene Arbeiten zu veröffentlichen. Bei diesem Beitrag handelt es sich um die zusammenfassende Darstellung eines Interviews, das drei Studenten der Universität Kassel im Rahmen des Projektseminars “Soziale Bewegungen und Demokratie in Lateinamerika“ bei den Weingartener Lateinamerikagesprächen (14. – 16. Januar 2011) geführt haben. Die Gesprächspartner waren Thomas Fatheuer, Leiter des Regionalbüros Brasilien der Heinrich-Böll-Stiftung, und Jochen Steinhilber, Leiter des Landesbüros Brasilien der Friedrich-Ebert-Stiftung. Das Interview hatte die Politik des vormaligen brasilianischen Präsidenten, Luiz Inácio (Lula) da Silva sowie die künftige Entwicklung unter der neuen Präsidentin Dilma Rousseff zum Gegenstand. Wir würden uns freuen, weitere Beiträge dieser Art in unserem Online-Magazin vorstellen zu können.

Gewerkschaften und die Regierung Lula da Silvas

Viele Gewerkschaftsforderungen sind in den zwei Legislaturperioden Lulas erfüllt worden. Mitunter bestehen aber Differenzen unter den Gewerkschaften. Daher ist es für diese schwierig, übergreifende Ziele zu artikulieren. Die zentrale Forderung großer Teile der größten brasilianischen Gewerkschaft CUT (Central Única dos Trabalhadores) nach einer neuen Gewerkschaftsgesetzgebung konnte auch deshalb nicht durchgesetzt werden. Die Regierung Lulas hat den Mindestlohn kontinuierlich erhöht, sodass dieser sich schließlich verdoppelte. Ebenso formalisierte die Regierungspartei PT die Verhältnisse der Arbeitnehmer. Insgesamt haben sich die Rahmenbedingungen für diese unter der Regierung Lulas verbessert. Einschränkend erwähnt Steinhilber, dass es „in den Kernbereichen der Gewerkschaftspolitik […] keine Verbesserungen“ gebe. Eine autonome Gewerkschaftspolitik existiere nicht.

Wählerpotenzial der Regierungspartei PT

Die regierende Partei rekrutiert ihre Wähler aus einer breiten Gesellschaftsschicht. Besonders stark ist das Wählerpotenzial im öffentlichen Dienst und in der aufgeklärten Mittelschicht. Insbesondere bei der ersten Wahl Lulas rekrutierten sich seine Wähler aus diesen Schichten. Da die Liberalisierungspolitik der Vorgängerregierung sehr stark auf den sector publico durchgeschlagen hat, ist unter den Arbeitern des öffentlichen Dienstes eine große Unzufriedenheit mit der Vorgängerregierung entstanden.

Die zweite Wahl der PT und Lulas ist zudem durch arme ländliche Schichten unterstützt worden. Diese waren lange von regionalen Politikgrößen abhängig gewesen und verfügten nicht über die Informationsmöglichkeiten, wie sie in urbanen Gebieten bestehen.

Darüber hinaus lässt sich eine starke regionale Aufteilung der Wählerschaft erkennen. Während Lula in Rio de Janeiro breite Unterstützung gefunden hatte, war dies in São Paulo nur zu Beginn seiner Amtszeit der Fall. Stark ist die Regierungspartei ebenfalls im Nordosten Brasiliens sowie im Amazonasgebiet. Die Unterstützung im Nordosten lässt sich darauf zurückführen, dass die Regierung dort einige große Industrieprojekte verwirklicht hat. Diese Projekte schufen Arbeitsplätze für die Mittelschicht. Die große Zustimmung aus dem Amazonasgebiet ist damit zu erklären, „dass Lula in der zweiten Welle zum großen Hoffnungsträger Brasiliens geworden ist“. So habe Lula in abgelegenen Teilen des Landes mit dem Familienförderungsprogramm bolsa familia eine große Wirkung erzielen können.

Forderungen der Landarbeiterbewegung und deren Durchsetzung durch die PT

Interview - Brasilien im Wandel (Foto: Quetzal Redaktion, Katharina Schwirkus)Die Landarbeiterbewegung fordert eine Landreform und großflächige Enteignungen. Da Brasilien ein Rechtsstaat ist, lassen sich diese Forderungen jedoch nicht leicht umsetzen. So haben die Enteigneten die Möglichkeit, vor Gericht zu ziehen. Die Forderung der Landlosenbewegung MST (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra) nach Ansiedlung von zwei Millionen Familien konnte nicht vollständig erfüllt worden. Lediglich ca. 500.000 Familien sind durch die Regierung Lulas im Amazonasgebiet angesiedelt worden. Die MST hat dies als nicht ausreichend kritisiert. Fatheuers Auffassung nach ist es jedoch schwierig, dies ausgewogen zu bewerten. Enteignungen sind vermieden worden, da die zur Verfügung gestellten Flächen vormals Staatseigentum gewesen seien.

„Die Agrarreform war kein Schwerpunkt dieser Regierung. Man hat versucht, so viel zu machen, dass die MST ein bisschen zufrieden gestimmt wurde […], sodass die MST etwas bekommen hat, aber nicht das, was ursprünglich in der Agenda war. Da unterschied sich Lula auch nicht viel von der vorherigen Regierung.“, bemerkt Steinhilber. Im Unterschied zur Vorgängerregierung kriminalisierte Lula die Landlosenbewegung allerdings nicht.

Die MST sei von Lulas Regierung stark enttäuscht gewesen, der PT jedoch treu geblieben und habe auch im letzten Wahlkampf klar die Präsidentschaftskandidatin Dilma unterstützt, da die PT aus Sicht der MST das „kleinere Übel“ darstelle.

Klimapolitik und das „brasilianische Paradox“

Die Klimapolitik Brasiliens nennt Fatheuer das „brasilianische Paradox“. „Brasilien kann trotz einer klimafeindlichen Politik in der Klimabilanz gut dastehen. Die Energiebilanz ist sehr CO²arm, weil der größte Teil der Energieerzeugung durch Staudämme erfolgt, also durch Wasserkraft entsteht.“

Der Ausbau der Wasserkraft ist allerdings nur noch im Amazoniengebiet möglich. Eine scheinbar klimafreundliche Politik hat oft dramatische Auswirkungen auf sensible Ökosysteme wie den Regenwald. Ebenso wird die regionale Entwicklung gehemmt und für die Biodiversität hat dies negative Folgen.

„Der zweite große Trumpf in der Klimapolitik ist der Ausbau von Agrotreibstoffen. Auch da kann man eine relativ gute Klimabilanz vorzeigen.“ Sehr starke Kritik an diesem Vorgehen, insbesondere an dem Anlegen von Monokulturen, sei von den Umweltorganisationen und sozialen Bewegungen geäußert worden.

Problematisch sieht Fatheuer das Bestreben Dilmas, Atomprojekte voranzutreiben. Damit lasse sich die CO²-Belastung weiter minimieren. Das Problem des Atomabfalls bleibe aber bestehen. Alles in allem sei die Regierung Lulas somit kein wirklicher Gewinn für die Klimapolitik.

Schwarzenbewegungen in Brasilien

Die Regierung Lulas hat erstmals ein Gesetz verabschiedet, durch das zumindest formell die Existenz von Rassismus anerkannt worden ist. In Brasilien gibt es zwar keinen offenen Rassismus wie in Deutschland, jedoch einen verdeckten. Indikatoren dafür sind beispielsweise die Verdienstmöglichkeiten oder der Zugang zu höheren Berufen.

Es wurde betont, dass die Schwarzenbewegungen erst in den letzten Jahren wirkliches Mobilisierungspotenzial entwickelt haben. Beim Amtsantritt Lulas 2003 hat es noch keine klar artikulierten Forderungen gegeben.

Auch das Bildungssystem spielt in diesem Kontext eine Rolle. Es existiert ein sehr schlechtes öffentliches Schulsystem. Die öffentlichen Hochschulen sind hingegen qualitativ hochwertig, ebenso die privaten Schulen. Die sozioökonomische Position der Schwarzen verhindert sehr oft den gesellschaftlichen Aufstieg. Die schwarze Bevölkerung verfügt aufgrund ihrer niedrigen Bildung oft nur über ein geringes Einkommen, ihren Kindern ist deshalb der Besuch von privaten Schulen verschlossen. Aufgrund unzureichender Bildungschancen können sie weder an Hochschulen studieren noch gut bezahlte Jobs bekommen. Es ist ein Teufelskreis.

Frauenbewegung

Die Frauenbewegung hat unter der Regierung Lula kleine Erfolge verbuchen können. Die Forderung nach einem liberaleren Abtreibungsgesetz ist allerdings nicht erfüllt worden. Es hat einen berühmten Fall gegeben, von dem auch in den westlichen Medien berichtet wurde. Eine Frau ist von ihrem Vater vergewaltigt und schwanger geworden. Nach der Abtreibung hat es eine breite Debatte mit dem katholischen Bischof, katholischen Gruppen und konservativen Kreisen gegeben. Letztendlich ist der Abtreibungsarzt exkommuniziert worden, der Vater jedoch nicht. Im Gegensatz zu Abtreibung wird Vergewaltigung in der katholischen Kirche nicht als Todsünde angesehen. Letztendlich hat die hohe Diffusion der brasilianischen Parteienlandschaft verhindert, dass die Forderungen nach einem liberaleren Abtreibungsgesetz durchgesetzt werden konnte.

Interessenartikulation und Aktionsformen der sozialen Bewegungen

Praesidentin Dilma Rouseff und Lula (Foto: Agencia Brasil, Ricardo Stuckert)Trotz der Gewerkschaftsbiographie Lulas sind die Proteste der Gewerkschaften auch unter dessen beiden Legislaturperioden konstant geblieben. Die Gewerkschaften setzen sowohl auf Proteste als auch auf die Kooperation mit der Regierung. Fast alle sozialen Bewegungen sind in Lulas Projekt eingebunden gewesen. Dies schließt die Frauen und indigenen Bewegungen genauso ein wie die Schwarzenbewegung. Die Einbindung umfasst sowohl allgemeine Beteiligungsstrukturen als auch öffentliche Posten. Zudem gibt es Nationalkonferenzen, in der die Interessen der Bewegungen artikuliert werden können. Dadurch hat Lula deren Widerstandspotenzial schmälern können. Zwar gibt es immer wieder regionalen Widerstand, beispielsweise bei Staudammbauten, im Großen und Ganzen standen die sozialen Bewegungen jedoch hinter der Regierung Lulas.

Wirtschaftlicher Aufschwung und Armut

Allgemein hat sich die wirtschaftliche Position der Armen verbessert. Dies ist vor allem auf die Einführung des Mindestlohns zurückzuführen. Weiterhin existieren große Transferprogramme für die Ärmsten der Armen, welche aber keine breite Umverteilung von Reich zu Arm beinhalten, sondern über den wirtschaftlichen Aufschwung finanziert werden. Infolge des wirtschaftlichen Aufschwungs verfügte die Regierung über mehr Geld, wodurch eine breitere untere Mittelschicht entstand. Die soziale Frage kann aber noch lange nicht als gelöst angesehen werden. Die reiche Oberschicht profitiert vom wirtschaftlichen Aufschwung noch immer mehr als die arme Unterschicht. Insgesamt verringert sich die Ungleichheit im Land aber leicht.

Liberalisierung und die Lula Regierung

Die sozialen Bewegungen haben sich vor der Ära Lula energisch gegen eine Liberalisierung des Marktes gewehrt. Eines der Markenzeichen der Regierung Lula bestand darin, dass diese die Politik der Deregulierung und Marktliberalisierung nicht weitergeführt hat. So hält der Staat nach wie vor die Aktienmehrheit am Mineralölunternehmen Petrobras. Auch die zwei größten Banken Brasiliens befinden sich in staatlicher Hand. Dank der staatlichen Banken hat die Finanzkrise Brasilien nicht so hart wie andere Länder getroffen. Jedoch ist zu betonen, dass Lula an der grundsätzlich liberalen Wirtschaftsordnung Brasiliens festhielt.

Die Rolle Brasiliens in einer globalisierten Welt – Chancen und Gefahren

Steinhilber sieht Brasilien als „Globalisierungsgewinner“. In den letzten Jahren habe sich einiges verändert, „in bestimmten Bereichen geht ohne Brasilien nichts mehr“. Hierzu gehöre beispielsweise die WTO. Unter Lula hat Brasilien eine aktive Außenpolitik betrieben und seine diplomatischen Beziehungen, unter anderem im mittleren Osten sowie in Asien, ausgebaut. Außerdem sind Bündnisse mit großen Schwellenländern geschlossen worden. In den klassischen internationalen Organisationen verfügt Brasilien trotz allem nur über einen geringen Einfluss. Mit der Mitgliedschaft in der G20 waren anfangs große Hoffnungen verknüpft. Brasilien hat hier zum ersten Mal auf Augenhöhe mit Industriestaaten diskutieren können. Diese Hoffnungen haben sich jedoch inzwischen etwas abgeschwächt.

Außenpolitisch spricht Steinhilber von einer Doppelstrategie Brasiliens: In Lateinamerika erarbeite sich das Land eine politische Führungsposition, während es sich gleichzeitig ökonomisch eher global orientiere. Dies belege beispielsweise das relativ geringe Engagement im Mercosur. Mit Hilfe dieser Doppelstrategie strebe Brasilien einen ständigen Sitz im UN- Sicherheitsrat an, welchen es bei dessen Reform vermutlich auch erhalten werde.

Global gesehen existiert neben der Öl-, Energie- und Wasserknappheit auch ein Bodenproblem. Die in der Welt zur Verfügung stehenden Böden gehen langsam zu Ende. Durch die Entwicklung der Schwellenländer steigt der Fleischkonsum an, was diese Knappheit noch verschärfen wird. Brasilien verfügt vor diesem Hintergrund über enormes Potenzial. Durch die Wasserkraft kann sehr billige Energie erzeugt werden. Weiterhin besitzt Brasilien potenziell bebaubaren Boden. Eine Gefahr besteht darin, dass die ökologischen Kosten nicht berücksichtigt werden oder generell unabsehbar sind.

Ein weiteres Problem Brasiliens liegt in dem schlechten öffentlichen Bildungssystem. Es kann zu einem Fachkräftemangel aufgrund des enormen Bildungsdefizits kommen. Die große Frage besteht darin, ob der Aufschwung gestaltet werden kann. Ohne ein vernünftiges Bildungssystem und ein Umdenken in der Umweltpolitik würde dieser nur von kurzer Dauer sein.

Die Politik der PT unter der neuen Regierungschefin Dilma Rousseff

„Dilma Rousseff kann man als treue Verwalterin des Erbes Lulas bezeichnen“, meint Fatheuer. Sie werde die Politik ihres Vorgängers, soweit ihr das möglich ist, eins zu eins weiterführen. Die Frage sei allerdings, in wie weit sie dies auch schafft. Durch sein Charisma hat Lula die Möglichkeit gehabt, viele widersprüchliche Positionen und Politiken auszubalancieren. Da Dilma wahrscheinlich auch eine ökonomistische Linie fahren wird, könnten sich die Konflikte zwischen Regierung und sozialen Bewegungen in Zukunft weiter zuspitzen. Zentrale Fragen dieses Konfliktes werden der wirtschaftliche Fortschritt in Kombination mit umweltpolitischen und sozialen Aufgaben sein. Außenpolitisch erwartet Steinhilber Kontinuität in der bisherigen Position Brasiliens. Dies begründet er unter anderem damit, dass Dilma Rousseff denselben Berater wie Lula beschäftigt. Zudem hat die Außenpolitik Lulas in großen Teilen den Wünschen der PT entsprochen, dies „werden sie jetzt nicht ohne Weiteres opfern“.

Erste Präsidentin Brasiliens – Aufschwung für die Frauenbewegung?

Dilma Rousseff (Foto: Agencia Brasil)Dilma Rousseff ist die erste Präsidentin Brasiliens. Bedeutsame Auswirkungen auf die Frauenbewegung sieht jedoch keiner der Gesprächsteilnehmer. Steinhilber spricht von einer eventuell symbolischen Bedeutung. Allerdings habe die Tatsache, dass mit „Lula ein Vertreter der brasilianischen Arbeiterbewegung an die Regierung kam“, einen stärkeren Impuls gesetzt.

Fatheuer betont, dass im Wahlkampf Dilmas Vorgeschichte als Guerillera eine größere Rolle gespielt habe als ihre Rolle als Frau. Sie sei zudem nie als Frauenpolitikerin aufgetreten.

Zur zukünftigen Entwicklung der sozialen Bewegungen in Brasilien

Steinhilber erwartet kein Anschwellen sozialer Konflikte, wobei existierende sozial-ökologische Konflikte seiner Auffassung nach weiter bestehen bleiben werden. Er betont jedoch noch einmal, dass mit Lula ein „Integrator“ verloren gehe. Eine Veränderung sieht er in der Rolle der PT, welche seiner Meinung nach unter Dilma eine zentralere Rolle spielen wird als unter Lula. Auch Fatheuer rechnet nicht mit großen Änderungen. Er spricht von der „Tendenz, dass soziale Bewegungen immer weiter durch Projekte einbezogen werden.“ Dies würde der Entfaltung eines größeren Protestpotenzials entgegenwirken. Gegenwärtig seien die Protestbewegungen schwach und verfügten nur über eine geringe Konfrontationsfähigkeit.

Bildquellen:

[1], [2] Quetzal-Redaktion, Katharina Schwirkus.
[3], [4] Agencia Brasil, Ricardo Stuckert.

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