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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Lateinamerika zwischen Ökonomie und Ökologie. Ein Dilemma ohne Ausweg?

Rómulo Sánchez Leytón | | Artikel drucken
Lesedauer: 9 Minuten

Als Keynes seine Kritik an den klassischen Ökonomen mit dem Epitaph „in the long ran, we are all dead“ kundtat, dachte er vielleicht nicht daran, daß diese Worte noch in den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts Gültigkeit besitzen würden – heute, da die katastrophalen Zustände der Umwelt die Menschheit nicht in einem langen Wettlauf zu vernichten drohen, sondern sie in kürzester Zeit ausrotten werden. Unsere Natur wird noch immer straflos vergewaltigt und folgerichtig mehren sich die Opfer in schwindelerregendem Rhythmus. So stehen wir heute vor einer modernisierten Weiterfuhrung der kolonialen Plünderung, die auf dem lateinamerikanischen Kontinent vor 500 Jahren mit der Ausbeutung der Gold-, Silber- und Kupferminen begonnen hatte. Gefolgt wurde diese von der Industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts, die eine ungewöhnliche Entwicklung der Industrie mit sich brachte und einen irrationalen Konsum an Kohle, später Erdöl und Erdgas nach sich zog. Dieser Prozeß führte allmählich zur Verschmutzung und Zerstörung der Umwelt.

Wir befinden uns in einer Krise der Zivilisation und der menschlichen Würde

Der übermäßige Reichtum des Nordens und die gravierende Armut des Südens stehen im grassen Widerspruch zueinander; Normen der Ethik werden verletzt, Gesetze gebrochen; wir befinden uns derzeit in einer Krise der Zivilisation und der menschlichen Würde. Es ist eine Welt entstanden mit zwei unterschiedlichen Lebensweisen, und die Kluft zwischen beiden öffnet sich jeden Tag mehr (one world – two life-styles).

Die Länder des Südens kämpfen um das tägliche Überleben und um die Rettung der noch verbliebenen natürlichen Ressourcen. Nichtsdestotrotz bedarf es einer kohärenten Politik und der dazugehörigen Mittel, um sich dieser Herausforderung stellen zu können. Die Naturschätze werden noch immer zu Spottpreisen verschleudert und fallen einem erdrückend ungleichen Austausch zum Opfer.

Die neoliberalen Konzepte führten zum Wachstum der Armut und zu einer Konzentration des Reichtums

In Lateinamerika kamen die „Dekaden der Entwicklung“ in Mode, die allerdings nur auf Papier, in den Medien geschrieben standen. Heute sind es die „Dekaden der Hoffnung“, die Trost spenden sollen. Auf der Tagesordnung stehen nun – nach Mustern des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank – Programme zur Stabilisierung der Wirtschaft. Danach wird aufs Geradewohl privatisiert, werden soziale Programme gekürzt, um das Fiskaldefizit zu senken und den schwerfälligen und ineffizienten Staat in Gang zu setzen. Staatsschulden werden gegen natürliche Ressourcen eingetauscht, um vor internationalen Gremien kreditwürdig zu erscheinen. Verhandlungen um die Außenverschuldung führten zur Begleichung der Schuld mit natürlichen Ressourcen und Nationalem Kulturerbe, was den perversen Neokolonialismus unserer modernen Epoche nur noch deutlicher in Erscheinung treten läßt. Die neoliberalen Konzepte führten zum Wachstum der Armut und zu einer Konzentration des Reichtums und nicht zu sozialer Gerechtigkeit und politischer Stabilität. Und welch Ironie der Geschichte: der talentierte Chicago-Boy Gary S. Becker erhält unterdessen den Nobelpreis für Ökonomie 1992 für die Entwicklung einer Theorie zur menschlicheren Gestaltung des Kapitalismus, für den Versuch, dem freien Markt Bewußtsein und Barmherzigkeit zuzusprechen.

Trotz des wirtschaftlichen Wachstums steigt die Verschuldung 1992 in Lateinamerika um mehr als 4 Prozent. Sie erreicht die stattliche Summe von 417 500 Millionen US-Dollar, das sind ca. 1023 US-Dollar pro Person. In einigen Fällen verschlingt diese Verschuldung mehr als 50 Prozent der Exporteinkünfte der Länder. Ende 1992 standen Brasilien und Mexico an der Spitze der Schuldnerliste mit 123,2 bzw. 101,7 Millionen US-Dollar. Und obwohl in einigen Ländern die Inflation herabgesetzt werden konnte (Argentinien von 91,3 auf 18,0 Prozent; Nicaragua von 716,6 auf 7,0 Prozent), betrug die Inflationsrate 1992 in Lateinamerika 25 Prozent; die Arbeitslosigkeit lag bei 14,2 Prozent.

Die Wirtschaften der lateinamerikanischen Länder, wie auch die der restlichen Länder des Südens, sind weiterhin ein asymmetrisches Anhängsel des reichen und mächtigen Nordens. Zahlreiche Handelsabkommen werden unterzeichnet, die die wirtschaftliche Hegemonie verteidigen oder ausbauen und es entstehen neue protektionistische Mauern gegen lateinamerikanische Produkte. Wirkliche Lösungen für diese Probleme werden nicht offenkundig. Der Traum von einer lateinamerikanischen Integration findet keinen Platz in den Konzeptionen der Karriere- Politiker.

Die „Grüne Revolution“ hat sich als eine technologische Illusion mit zu hohen Kosten erwiesen

Die Industrie verseucht die Atmosphäre, zerstört die Ozonschicht. Das Ozonloch wächst in progressiver und alarmierender Weise; der Treibhauseffekt nimmt erheblich zu. Das Klima auf der Erde erhitzt sich jeden Tag mehr und die Naturkatastrophen (Dürren, Erdbeben, Überschwemmungen) und die Häufigkeit von Hautkrankheiten vermehren sich ständig. In dem Zeitraum bis zum Jahre 2050 wird die Temperatur des natürlichen Lebensraumes um ca. 1,5 bis 4,5 Grad Celcius steigen. Und bis zwei Jahre vor Beginn der Umweltkonferenz in Bangladesh ist eine Steigung des Meeresspiegels von 1,4 bis 2,2 Metern zu erwarten.

Die Abholzung der Wälder aus Mangel an Brennmaterial bewirkt eine „Erosion“ der Wälder durch die Bevölkerung. Infolge des geringen Technifizierungsgrades der Agrikultur breitet sich diese in aggressiver Art und Weise aus. Vergleichende Studien zum Verhältnis zwischen produziertem Reichtum und den entstandenen Umweltschäden in den USA, in Japan, Indien und der ehemaligen Sowjetunion ergaben, daß pro Einheit des Bruttoinlandsprodukts der Länder die ökologischen Schäden in Brasilien 24 mal größer als in Japan waren; 9,6 größer als in den USA; 4,8 mal größer als in der damaligen Sowjetunion und 2,4 mal größer als in Indien.

Und die „Grüne Revolution“? Sie hat sich als eine technologische Illusion mit zu hohen Kosten erwiesen. Als diese entfacht wurde, brachte sie die auf Eigenernährung basierte Kette der ländlichen Produktion völlig durcheinander. Außerdem fiel der Boden der uneingeschränkten und intensiven Nutzung von Dünger und anderen chemischen Substanzen zum Opfer.

Die Theoretiker erneuern die Theorie der „Komparativen Vorteile“. So vertieft sich zum Beispiel die Spezialisierung auf bestimmte Monokulturen und die entwickelten Länder bringen Dumping-Methoden zur Anwendung, um die Produzenten zu einer unlauteren Konkurrenz zu bewegen. Die Arbeitskraft wird -miserabel entlohnt – aufgesaugt und durch entkräftende Arbeitstage in den Fabriken verbraucht. Die Handelsgrenzen werden liberalisiert; die ohnehin anfällige Industrie und Landwirtschaft erleidet einen Preiseinbruch auf Grund der niedrigen Arbeitsproduktivität und letztlich auch wegen der geringen Wettbewerbsfähigkeit der Produkte auf dem internationalen Markt.

Weder die zentralgesteuerte Kommandowirtschaft noch die freie Marktwirtschaft haben in ihrem Verhalten die notwendige ökologische Sensibilität an den Tag gelegt

Auch wenn die Verantwortung für dieses Desaster nicht nur bei der modernen Gesellschaft zu suchen ist, so besteht doch kein Zweifel daran, daß der größte Teil der Verantwortung dem heutigen Zivilisierungsstand zuzuschreiben ist. Die moderne Industrie bedient sich fossiler Energiequellen, die natürlich nicht erneuert werden können. Diese anzulagern erforderte große geologische Zeiträume. Die Industrie jedoch braucht sie in haarsträubender Geschwindigkeit auf und die industriellen Abfallprodukte – in hohem Maße von toxischer Beschaffenheit – sind schwerlich wieder abzubauen.

Durch Tankerunglücke werden die Meere verseucht; Flora und Fauna erleiden Schäden in unabschätzbaren Dimensionen. Es muß an diese Stelle darauf verwiesen werden, daß weder die zentralgesteuerte Kommandowirtschaft noch die freie Marktwirtschaft in ihrem Verhalten die notwendige ökologische Sensibilität an den Tag gelegt haben. Heute schreckt jedermann auf vor der Bedrohung durch die zerstörte Umwelt. Doch diesmal gibt es keinen Unterschied zwischen Schwarz und Weiß.

Der freie Markt ist ein Mechanismus von hoher Leistungsfähigkeit und wie jedes solches Instrument unfähig, einen sozialen Pakt zu erlauben, der Gerechtigkeit und Gleichgewicht schafft. Die Verseuchung der Umwelt und der Freie Markt sind Gesichter ein und derselben Münze; beide sind auf das Engste miteinander verbunden. Die entwickelte Gesellschaft hat Privilegien und einen Wohlstand erreicht, um den sie zu beneiden ist – eine „Insel des Überflusses“ im „Meer der allgemeinen Misere“. Und doch hat keine Gesellschaft soviel Abfall produziert wie diese. Flüsse, Wälder und Luft sind infiziert; die Moral der Gesellschaft ist angegriffen.

Für die Staatsmänner und Ökonomen war die Rentabilität der Wirtschaftsmodelle stets wichtiger als die Wahrung der ökologischen Symmetrie. In Lateinamerika, wie in allen Ländern des Südens, ist es höchstes Gebot, Wirtschaftsprogramme zu entwickeln, die auf soziales Gleichgewicht zielen und die Erhaltung der Umwelt unterstützen. Anders gesagt ist es notwendig, eine Industrie aufzubauen, die sowohl sozial als auch wirtschaftlich leistungsfähig ist. Diese Herausforderung ist um so größer in den armen Ländern, wo der Kampf ums Überleben auf der Tagesordnung steht, die Finanzierungsmöglichkeiten sehr spärlich und die institutionelle und infrastrukturelle Basis äußerst schwach sind. Die Umweltproblematik ist somit sehr komplex und besitzt globale Dimensionen, trägt einen interdisziplinären Charakter.

Die Politik der wirtschaftlichen Knebelung muß beendet werden

Neuerdings ist auch der illegale Export von hochtoxischen Industrieabfällen in Mode gekommen; für harte Währung werden diese in die Länder des Südens verschickt. In den Büchern wird dies dann als „humanitäre Hilfe“ registriert. Und der lateinamerikanische Kontinent bildet in diesem Fall nicht die Ausnahme. Die Länder Lateinamerikas müssen unbedingt Maßnahmen ergreifen, die die natürlichen Rohstoffe unter Schutz stellen. Das Fehlen von Gesetzen, die den Schutz der Wälder, Gewässer und anderer natürlicher Ressourcen festlegen, bedeutet „Grünes Licht“ für die Plünderung der Natur.

Die Politik der wirtschaftlichen Ausbeutung muß unverzüglich beendet werden und an ihre Stelle ein agroökonomisches System treten, welches der Bevölkerung auch soziale Chancen bieten kann. Ebenso ist ein neues System des Austausches von großer Notwendigkeit. Mexico, zum Beispiel, exportiert in die USA Erdöl und Erdgas, welches dann nach dem mißbräuchlichen Umgang mit der Energie in Form von Getreide auf dem Importweg wieder ins Land zurückkehrt und für die dortigen Bauern den Ruin bedeutet. In Nicaragua hingegen darf kein Mais mehr produziert werden, weil dieser von den USA wesentlich billiger verkauft wird. Die Verschwendung der Energie und die niedrigen Rohstoffpreise lassen die guten Absichten der potentiellen Länder auf Umweltkonferenzen (Stockholm, Rio de Janeiro und 2012 in Bangladesh) untergehen. In den Zentren der Zivilisation breitet sich der Konsumgeist mit schizophrener Geschwindigkeit aus und kennt keine Grenzen.

Während in den Ländern des Südens die Geburtenrate zunehmend steigt, leidet man in den Ländern des Überflusses an einem „demographischen Winterschlaf“. Die Bevölkerungsexplosionen – nach Aussage neomalthesianischer Experten Grund für die Armut in den Ländern des Südens – wurden abgeschafft. Vom Süden (etwa zwei Drittel der Erdbevölkerung) emigrieren die Menschen in den Norden, angezogen vom Wohlstand und Konsumstandard.

Im Jahre 2012 wird es 8000 Millionen Menschen auf der Erde geben und mit Sicherheit werden auch die geographischen Karten weitere Veränderungen zu erfahren haben. Infolge der nationalistischen, religiösen und ethnischen Streitigkeiten werden noch viele neue Staaten entstehen.

Sollte man sich nun die Frage stellen, was für eine Zukunft die Menschen erwartet, wenn der Mensch selbst – mit semer phantastischen Intelligenz – den Virus seiner Selbstzerstörung fabriziert hat? Gibt es eine Perspektive für die zwei Drittel der Weltbevölkerung (davon 407,3 Millionen in Lateinamerika) oder sind diese dazu verurteilt, Hungers zu sterben?

Mehr als ein Jahrzehnt nach Ausbruch der Schuldenkrise scheint sich trotz allem für Lateinamerika eine Phase wirtschaftlichen Wachstums anzubahnen. Diese wäre allerdings nur im Zusammenlauf mit ausländischem Kapital zu halten. Die laufenden Privatisierungsprozesse bieten nur begrenzte Rekursmöglichkeiten. Direkte Inversionen verlangen nach sicherem Funktionieren der Wirtschaft und dies wiederum hängt mit der Fähigkeit der Regierungen zusammen, politische und soziale Stabilität bieten zu können. Die Anstrengungen um eine Integration in der Region sollten ein Faktor sein, der dem Wachstum neue Impulse verleiht.

Übersetzung: Daniela Trujillo

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