Am Sonntag wurde nicht nur in der Ukraine und in Tunesien gewählt. In Lateinamerika fanden ebenfalls zwei wichtige Wahlen statt. In Brasilien ging es im zweiten Wahlgang darum, wer das Land weiter regieren wird, in Uruguay brachte die erste Runde der Präsidentenwahl noch keine Entscheidung. Nach den bisher vorliegenden Informationen wurde Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei Brasiliens (PT) erneut zur Präsidentin gewählt. Sie konnte sich mit 51,45 Prozent der abgegebenen Stimmen knapp gegen ihren Konkurrenten Aécio Neves von der Sozialdemokratischen Partei Brasiliens (PSDB) durchsetzen. Im Nachbarland Uruguay ging es nicht nur um das Präsidentenamt, sondern auch um die Sitze in der Abgeordnetenkammer (99) und im Senat (30). Außerdem konnten die Uruguayer in einem Referendum darüber entscheiden, ob das Alter der Strafmündigkeit von 18 auf 16 Jahre herunter gesetzt werden soll. Tabaré Vázquez, der bereits von 2005 bis 2010 als Vertreter des Linksbündnisses Frente Amplio (FA) in Montevideo regiert hatte, erhielt laut Hochrechnungen 47 Prozent der Stimmen, sein ärgster Konkurrent Luis Alberto Lacalle Pou von der Nationalen Partei (Blancos) hingegen nur 32 Prozent. Auf dem dritten Platz liegt Pedro Bordaberry von den Colorados mit 13 Prozent. Damit fällt die Entscheidung darüber, wer Uruguay als Präsident regieren wird, erst im zweiten Wahlgang am 30. November.
Was auf den ersten Blick als simple Fortsetzung erscheint, verweist bei genauerem Hinsehen auf eine Reihe gewichtiger Probleme, vor denen die Linke in beiden Ländern und darüber hinaus in ganz Lateinamerika steht. In Brasilien erzielte die Kandidatin des PT im ersten Wahlgang am 5. Oktober mit 41,5 Prozent das schlechteste Wahlergebnis seit 2002, als ihr politischer Ziehvater Lula mit 46,4 Prozent die erste Hürde für seine Wahl ins höchste Amt nahm. Rousseff selbst konnte 2010 im ersten Wahlgang noch 46,9 Prozent der Wähler gewinnen. 2006 hatte Lula mit 48,6 Prozent das beste Ergebnis erzielt. Ein Achtungszeichen setzte auch die hohe Wahlabstinenz. Trotz Wahlpflicht verweigerten 27 von 143 Wahlberechtigten ihre Stimme. Zusammen mit den ungültigen Stimmen sind das 29 Prozent aller Wähler. Im Abgeordnetenhaus (insgesamt 513 Sitze, die sich auf 28 Parteien verteilen) büßte der PT 18 von vorher 80 Sitzen ein und sein Koalitionspartner PMDB hat fünf Sitze weniger (vorher 71). Im nunmehr konservativsten Parlament seit 1964 wird das Regieren für den PT und die Präsidentin noch schwieriger als zuvor.
Bereits mit den massiven und unerwarteten Protesten um den Juni 2013, die die Regierung kalt erwischten, hatte sich angedeutet, dass ein „weiter so“ nicht mehr möglich war. Trotz erfolgreicher Sozialprogramme wie „Bolsa Familia“ und „Wasser für alle“, niedriger Arbeitslosigkeit, höheren Mindestlöhnen und der Öffnung der höheren Bildung für sozial Benachteiligte, die die Lebensbedingungen und -chancen von Millionen Brasilianern und Brasilianerinnen verbessert haben, artikulierten vor allem junge Menschen ihre Unzufriedenheit. Auslöser waren gestiegene Verkehrspreise, ausufernde Korruptionsskandale, explodierende Mieten und die unsozialen Maßnahmen rund um die Vorbereitung der Fußballweltmeisterschaft 2014. Die Protestierenden forderten Investitionen für die dringend notwendige Verbesserung der Situation im öffentlichen Transport, im Bildungssektor und im sozialen Wohnungsbau. Das repressive Vorgehen der Sicherheitskräfte verschärfte die Spannungen weiter. Erst spät – manche meinen zu spät – suchte die Regierung den Dialog mit der Protestbewegung. Sah sie sich auf der einen Seite mit der Unzufriedenheit der „neuen Mittelschichten“ bzw. des „neuen Proletariats“, also der sozial aufgestiegenen Nutznießer der staatlichen Umverteilungspolitik, konfrontiert, bekam Dilma auf der anderen Seite auch die Verärgerung der traditionellen sozialen Bewegungen zu spüren. Vor allem die Landlosenbewegung (MST) und die indigenen Völker, aber auch die Gewerkschaften, traditionelle Unterstützer des PT, zeigten sich von der kapitalfreundlichen Politik der Regierung enttäuscht. Diese hatte die überfällige Agrarreform ausgebremst, das Waldgesetz, mit dem der Zerstörung der Umwelt Einhalt geboten werden soll, verwässert und die Markierung der indigenen Territorien verschleppt. Eine Politik, die dem großen Agrarbusiness und den Bergbaumultis zugutekommt, mit denen der PT eine Allianz eingegangen war. Zwar hat die Möglichkeit einer Wahlniederlage von Dilma Rousseff die sozialen Bewegungen noch einmal zu einem Schulterschluss mit dem PT motiviert, die damit ihren Druck auf die Regierung eher noch verstärken werden. Diese muss sich fragen lassen, was ihr die Allianz mit jenen Kapitalfraktionen, die sich stärker am Binnenmarkt orientieren (innere Bourgeoisie), gebracht hat. Zwar haben diese Kreise von der bisherigen Regierungspolitik profitiert, wenden sich aber dennoch zunehmend vom PT ab. Generell ist zu befürchten, dass sich die Gegner der bisherigen Politik trotz – oder gerade wegen – der Wiederwahl von Dilma Rousseff zu einem massiven Angriff auf die brasilianische Linke blasen werden. Der PT wäre angesichts seiner parlamentarischen Schwäche gut beraten, sich auf seine Stärken, die außerparlamentarische Mobilisierung der alten und neuen sozialen Bewegungen, zu besinnen. Mit dem bisherigen Spagat zwischen der Allianz mit bestimmten Kapitalfraktionen auf der einen Seite und der Hinhaltepolitik gegenüber seinen „natürlichen Verbündeten“ kommt er jedenfalls nicht weiter.
In Uruguay sieht es ungeachtet der nationalen Besonderheiten ähnlich aus. Auch hier hat die vom Frente Amplio, dem ältesten Linksbündnis Lateinamerikas, getragene Regierung beachtliche Erfolge vorzuweisen: Stark gesunkene Armutsrate, Verdoppelung des Einkommens der Uruguayer in den letzten zehn Jahren, hohes Wirtschaftswachstum (durchschnittlich 5,8 Prozent zwischen 2005 und 2013), gut funktionierende Gesundheits- und Rentensysteme. Laut Weltbank hatte Uruguay 2013 mit 16.000 US-Dollar das höchste Pro-Kopf-Einkommen Lateinamerikas. Gleichzeitig haben die Uruguayer allen Privatierungsversuchen ihrer Elektrizitäts- und Wasserversorgung sowie der staatlichen Erdölgesellschaft widerstanden. In den Ausbau der erneuerbaren Energien wurden fast vier Milliarden US-Dollar investiert, die das Land bis 2015 in die Lage versetzten sollen, rund 90 Prozent seiner Stromerzeugung aus erneuerbaren Quellen zu decken.
Dennoch befindet sich der Frente Amplio in der Defensive. Auch in Uruguay beginnen sich Teile der inzwischen wieder gestärkten Mittelschichten von ihr abzuwenden, und die rechten Colorados sind mit einem Referendum über die Verschärfung der Strafmündigkeit in die Offensive gegangen. Zudem rächt sich die Vernachlässigung des Bildungssektors durch die Regierung. Der 74jährige Tabaré Vázquez hat seinen jüngeren Widersachern von den Blancos und Colorados wenig entgegen zu setzen. Mit dem etwas steifen Wahlmotto „Es geht uns gut“ (span.: Vamos bien) kann er weder die Basisaktivisten des Frente Amplio noch die Jugend begeistern. Wahrscheinlich kommt er im zweiten Wahlgang trotzdem damit durch, da er gegenüber Luis Alberto Lacalle Pou von den Blancos, der mit der Rückkehr zu einer neoliberalen Politik wirbt, vielen als das kleinere Übel erscheint.
Es sieht so aus, als könnte Tabaré Vázquez in Uruguay am 30. November das wiederholen, was Dilma Rousseff am 26. Oktober geschafft hat: Eine zweite Amtszeit im Zeichen sozialer Umverteilung zu Gunsten der Armen und Mittelschichten sowie der Rückkehr des intervenierenden Staates. Ein solches Wahlergebnis würde auch die Fortsetzung einer alles in allem gelungenen Außenpolitik, die wie Brasilien auf Süd-Süd-Kooperation und eine multipolare Weltordnung setzt, möglich machen. Allerdings – und das belegen die Wahlergebnisse in beiden Ländern ebenfalls – läuft die Zeit gegen die simple Fortsetzung der bisherigen Regierungspolitik. Die ihr zugrunde liegenden Allianzen haben sich verschlissen und tragen nicht mehr. Das hat sowohl strukturelle als auch konjunkturelle Gründe. Eine strukturelle Grenze stellt das bislang verfolgte Wirtschaftsmodell des Neo-Desarrollismo dar. Es setzt nach wie vor auf die Ausbeutung und den Export von endlichen Naturessourcen. Bei steigenden und hohen Rohstoffpreisen, mit denen die Linksregierungen Lateinamerikas bisher ihre Umverteilungspolitik abgesichert haben, mag dies gutgehen. Aber erstens legt dieser Neo-Extraktivismus das Fundament für grundlegende Konflikte mit der eigenen sozialen Basis bzw. mit potentiellen Bündnispartnern, zweitens bleibt die eigene Volkswirtschaft extrem verwund- und erpressbar, drittens wird kostbare Zeit für die dringende Wende zu einer alternativen Politik, die die Schonung von Umwelt und Ressourcen mit sozialer Gerechtigkeit verbindet, vergeudet, und viertens gerät linke Politik in die Fallstricke der Klüngelwirtschaft der traditionellen Eliten. Dass die wachsenden Probleme der Linksregierungen in Brasilien und Uruguay auch konjunkturelle Gründe haben, belegen die sinkenden Einnahmen infolge niedriger Rohstoffpreise, denen die nach wie vor hohen Erwartungen der „neuen Mittelschichten“ gegenüber stehen. Die nächsten Jahre werden zeigen, welchen Kurs die noch einmal gewählten Präsidenten einschlagen werden. Eines ist jedenfalls klar: Beide Länder – Brasilien und Uruguay – stehen an einem Scheideweg.
Bildquellen: [1] Agencia Brasil, [2] TeleSUR