Vor den am 5. Oktober stattfindenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen erlebt Brasilien einen abwechslungsreichen und spannenden Wahlkampf. Aktuelle Favoritin ist die seit 2011 amtierende Präsidentin Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei (PT). Sie liegt bei der jüngsten Umfrage von 25. und 26. September mit 40 Prozent vorn [1]. Auf dem zweiten Platz befindet sich die Senatorin und ehemalige Umweltministerin Marina Silva von der Sozialistischen Partei Brasiliens (PSB) mit 27 Prozent. Ihr folgt der Senator Aécio Neves von der Partei der brasilianischen Sozialdemokratie (PSDB) mit 18 Prozent.
Dilma Rousseff wurde bei den vergangenen Präsidentschaftswahlen im Jahr 2010 vom damaligen Präsidenten und Parteigenossen Lula da Silva als seine Nachfolgerin ernannt und gewann mit etwa 56 Prozent der Stimmen die Stichwahl gegen den PSDB-Kandidaten José Serra. Rousseff setzt seit 2011 nicht nur Lulas Sozialpolitik fort, sondern auch die staatliche Regulierung der Wirtschaft durch die direkte Kontrolle der Zentralbank. Im Gegensatz zu Lula vernachlässigte sie jedoch grundlegende Forderungen der Bevölkerung wie die nach einer Landreform. Dementsprechend waren einige der bekannten linken Aktivisten und Intellektuellen des Landes, die sie zunächst unterstützt hatten, von Rousseffs Politik enttäuscht. Sie hatten radikale Transformationen erwartetet [2]. Schließlich führten 2013 die weiterhin verbreitete Korruption, der prekäre öffentliche Nahverkehr, die ineffiziente Kriminalitätsbekämpfung und die hohen Kosten der Fußball-Weltmeisterschaft 2014 zu Massenprotesten. Zusammen mit der gewaltigen, polizeilichen Repression während der Proteste hat diese Enttäuschung die Popularität der Präsidentin sehr belastet [3].
Ihre gefährlichsten Gegner sind jedoch Privatbanker und internationale Investoren, die eine gewaltige mediale Kampagne gegen Rousseffs Regierung unterstützen. Eine Studiengruppe der Staatlichen Universität von Rio de Janeiro kam zu dem Ergbnis, dass Rousseff in der populärsten brasilianischen Nachrichtensendung, dem Jornal Nacional, offensichtlich und systematisch gegenüber den zwei anderen Hauptkandidaten benachteiligt worden ist [4]. Die größten Zeitungen geben Rousseffs Regierung die Schuld für die anhaltende Korruption, die administrative Ineffizienz, das niedrige Wachstum, die hohe Inflation und die hohe Kriminalitätsrate. Neben politischen Argumenten beinhaltet die Kritik ihrer Gegner Vorwürfe wegen ihres vermeintlich autoritären Regierungsstils und wegen ihres Mangels an Weiblichkeit [5]. Schließlich können die Medien sie wohl kaum aufgrund der aktuellen Arbeitslosenquote von fünf Prozent (im August) [6] oder der steigenden regulären Beschäftigung [7] in ein schlechtes Licht rücken. Zu den größten Errungenschaften von Rousseffs Außenpolitik zählt die Verstärkung der Kooperation mit den sogenannten BRICS-Ländern (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika), die im Juli dieses Jahres gemeinsam eine Entwicklungsbank gründeten [8].
Aécio Neves seinerseits ließ sich bei diesen Präsidentschaftswahlen zum ersten Mal aufstellen. Er kann aber auf eine langjährige Karriere als Senator und Gouverneur von Minas Gerais, dem Bundesstaat mit der zweithöchsten Bevölkerungszahl in Brasilien, zurückblicken. Bis zum schnellen Aufstieg Marina Silvas in August war er Rousseffs Hauptgegner im Wahlkampf. Als eine der Hauptfiguren des PSDB verteidige er die neoliberale Politik seines Parteigenossen und Ex-Präsidenten Fernando Henrique Cardoso, der während seiner Präsidentschaft von 1995 bis 2002 die Privatisierung einiger der wichtigsten Staatsunternehmen förderte. Seit August, als Neves Erfolgschancen stark sanken, wandten sich die meisten brasilianischen Investoren schließlich der Kandidatin Marina Silva zu.
Silva kandidiert zum zweiten Mal um das Präsidentenamt, nachdem sie bei den Wahlen 2010 mit mehr als 19 Prozent die drittmeisten Stimmen auf sich vereinen konnte. Anfang 2014 wollte sie als Präsidentschaftskandidatin einer neu gegründeten grünen Partei antreten, das sogenannte „Netzwerk der Nachhaltigkeit“, welche aber aufgrund einer unzureichenden Anzahl von Unterstützungsunterschriften vom Obersten Gerichtshof nicht ins Parteiregister aufgenommen wurde. Um dennoch am Wahlkampf teilzunehmen, schloss sich Silva der PSB an und kandidierte für das Amt der Vizepräsidentin hinter Eduardo Campos. Nach dessen Tod in einem noch nicht geklärten Flugzeugabsturz am 13. August 2014 wurde Silva an seiner Stelle als Präsidentschaftskandidatin von der PSB ernannt. Innerhalb weniger Tage wurde sie zur wichtigsten Gegnerin von Präsidentin Rousseff.
Marina Silva hat sich 2009 seit ihrem Austritt aus der Arbeiterpartei von ihrer linken Vergangenheit distanziert. Heute gilt sie linken Intellektuellen als Vertreterin der brasilianischen „neuen Rechten“ [9]. Sie ist zwar immer noch aufgrund ihres früheren Aktivismus eine Ikone der Ökologiebewegung, steht aber unter dem zunehmenden Einfluss ihrer konservativen Pfingstkirche (Assembleia de Deus) sowie der nationalen und internationalen Banker und Investoren. Neca Setubal, eine Erbin der größten brasilianischen Kapitalanlagegesellschaft, Itaúsa, leitet ihre Wahlkampagne [10]. Mit einem eventuellen Wahlsieg Silvas würde Setubal wahrscheinlich zur Ministerin oder Stabschefin ernannt. Darüber hinaus hat sich Silva im Gegensatz zu Rousseff für die Unabhängigkeit der Zentralbank ausgesprochen [11]. Bezüglich der Begeisterung der Investoren über den Aufstieg Silvas im Wahlkampf schrieb Forbes am 27. August dieses Jahres:
“Die schlichte Tatsache, dass sie die Wahlen gewinnen könnte, hat einen positiven Einfluss auf die Märkte. Man will Rousseff loswerden, um die Wirtschaft, welche seit der Machtübernahme der Arbeiterpartei unter einem schleppenden Wachstum und einer hohen Inflation leidet, wieder anzukurbeln. Die Aktienkurse an der brasilianischen Börse stiegen auf ein 18-Monatshoch, nachdem Silva und Neves höhere Umfragewerte erzielt hatten; denn beide behaupten, die Wirtschaft weniger regulieren zu wollen” [10].
Der tragische Unfall von Eduardo Campos hat durch seine starke emotionale Wirkung den Wahlkampf teilweise entpolitisiert und zugunsten Silvas verändert. Silva stellt sich als Alternative jenseits vom alten Schema rechts versus links dar und profitiert vom Wunsch nach politischer Veränderung zwölf Jahre nach Beginn der Regierungsübernahme durch die Arbeiterpartei. Für kurze Zeit waren Silvas Umfragewerte sogar höher als jene von Rousseff. Im Laufe des Wahlkampfs habe sich jedoch die Notwendigkeit der Fortsetzung von Rousseffs Sozialpolitik herausgestellt, wie der Journalist und Politikwissenschaftler Emir Sader behauptet [12]. Die amtierende Präsidentin hat nun wieder die Nase bei aktuellen Umfragen vorn – sowohl für dem ersten Wahlgang, wie auch für eine eventuelle Stichwahl gegen Silva. Sollte Rousseff wiedergewählt werden, erhält sie erneut die Chance, endlich die notwendigen sozialen, politischen und infrastrukturellen Reformen zu verwirklichen.
Bibliographie:
[1] http://g1.globo.com/politica/eleicoes/2014/noticia/2014/09/dilma-tem-40-marina-27-e-aecio-18-aponta-pesquisa-datafolha.html.
[2] Siehe Internetportal „Carta Maior“: http://www.cartamaior.com.br.
[3] http://noticias.uol.com.br/politica/ultimas-noticias/2014/03/27/aprovacao-ao-governo-dilma-cai-para-36-diz-cniibope.htm.
[4] http://www.manchetometro.com.br/jornal-nacional-2014/jn-2014-candidatos/.
[5] http://noticias.uol.com.br/politica/ultimas-noticias/2014/08/22/marina-acena-ao-mercado-e-promete-autonomia-para-o-banco-central.htm.
[6] http://www.ibge.gov.br/home/estatistica/indicadores/trabalhoerendimento/pme_nova/defaulttab_hist.shtm.
[7] http://www.ipea.gov.br/portal/index.php?option=com_content&view=article&id=21552.
[8] http://www.dw.de/brics-launch-new-bank-and-monetary-fund/a-17789608.
[9] http://www.cartamaior.com.br/?/Blog/Blog-do-Emir/Marina-a-nova-direita-e-a-restauracao-conservadora-no-Brasil/2/31659.
[10] http://www.forbes.com/sites/andersonantunes/2014/08/27/meet-the-multi-millionaire-banking-heir-who-is-backing-brazils-marina-silva-presidential-bid/.
[11] http://noticias.uol.com.br/politica/ultimas-noticias/2014/08/22/marina-acena-ao-mercado-e-promete-autonomia-para-o-banco-central.htm.
[12] http://www.cartamaior.com.br/?/Blog/Blog-do-Emir/A-virada/2/31875.
Bildquelle: [1] Renato Texeira Campos de Melo_, [2] Agencia Brasil.
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