Brasilien nimmt in der Agrotreibstoffindustrie international eine einzigartige Stellung ein. Angesichts der Erdölkrise in den 70er Jahren legte die brasilianische Regierung schon damals das für den Binnenmarkt gedachte, sogenannte Proalcool-Programm auf. Das führte dazu, dass Brasilien heute über eine hohe technologische Kompetenz und ausgedehnte Infrastruktur in diesem Sektor verfügt. Auf der Kehrseite der Medaille sind die Namen Tausender kleinbäuerliche Familien eingraviert, die im Zuge der Ausdehnung der Zuckerrohplantagen damals ihr Land und damit ihre Ernährungsgrundlage verloren haben. Inzwischen liegt das Augenmerk der brasilianischen Regierung und der Ethanolproduzenten auch auf dem internationalen Markt: Brasilien ist weltweit der zweitgrößte Ethanolproduzent hinter den USA, aber mit Abstand der bedeutendste Exporteur. Erklärtes Ziel Brasiliens ist es, im Jahr 2025 10% der globalen Benzinnachfrage zu decken. Dies wäre mit einer Verfünffachung der Zuckerrohrflächen von heute 7 Mio. ha auf 30 Mio. ha verbunden. Während die brasilianische Regierung erklärt, dass die Expansion wegen der enormen verfügbaren Flächen[i] ohne nennenswerte soziale und ökologische Auswirkungen durchführbar sei, sind die sozialen Bewegungen äußerst besorgt über die Entwicklung. Denn die neuerliche Fixierung einer Branche auf das exportorientierte Wachstumsmodell zeigt schon jetzt zahlreiche negative Auswirkungen, obwohl Präsident Lula auf dem Weg zum „grünen Saudiarabien Lateinamerikas“ noch recht weit am Anfang steht.
Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen
Die Bezeichnung „Bio“energie darf im Falle der Zuckerrohrplantagen zu Recht in Frage gestellt werden, da es sich um pestizid – und düngemittelintensive Monokulturen handelt. Brasilien ist bereits drittgrößter Pestizidverbraucher weltweit. 13% der Unkrautvernichtungsmittel werden in den Zuckerrohrplantagen verbraucht (ca. 20.000 t Herbizide jährlich)[ii].
Der Cerrado, eine Savannenlandschaft im mittleren Westen und Nordosten Brasiliens, ist bereits stark von der Zuckerrohrexpansion betroffen. Die artenreichste Savanne der Welt ist das Quellgebiet einiger der größten und wichtigsten Flüsse Brasiliens.
Auch in Amazonien wird inzwischen Zuckerrohr angebaut. In den neun Bundesstaaten, die zum brasilianischen Teils Amazoniens gehören, sollen im Jahr 2008 schätzungsweise 21,5 Mio. Tonnen Zuckerrohr geerntet werden[iii]. Und die Pläne zur Ausweitung sind auch hier erschreckend. So plant etwa die Regierung des Bundesstaates Maranhão die Ausweitung der Zuckerrohrfelder auf 1,5 Mio. Hektar bis 2010.
Der Zuckerrohrboom verursacht darüber hinaus auch indirekte, zerstörerische Effekte, durch die Verdrängung von ehemaligen Soja- und Weideflächen. Im Norden Brasiliens ist noch viel „ungenutztes“ Land zu haben, so dass die Agrarfront unaufhaltsam nach Amazonien vordringt und die Abholzung jüngst wieder beschleunigt: Im ersten Quartal 2008 war die Entwaldung Amazoniens dreimal höher als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Brasilien ist in Folge der Entwaldung heute der 4. größte CO2-Emittent weltweit; 70% seiner CO2-Emissionen gehen auf Brandrodung und Abholzung zurück.
Wasser – Ein Leben neben den Bewässerungskanälen
Das International Water Management Institute (IWMI) geht von 1.000-3.500 Litern Wasser aus, die im weltweiten Durchschnitt zur Herstellung eines Liters Ethanol benötigt werden[iv]. Je nach regionalen Klimaverhältnissen wird der Bedarf der Energiepflanze durch Regenfälle oder Bewässerung gedeckt. In den semiariden Anbaugebieten des brasilianischen Nordostens, wächst die Pflanze allerdings nur mittels Bewässerung. Hier können ähnliche Wasserverbrauchswerte wie in Indien angenommen werden, wo ebenfalls Zuckerohr ganzjährig bewässert wird: In jedem Liter Ethanol stecken rund 3.500 l Bewässerungswasser[v].
Die Auswirkungen der Bewässerungspraktiken der exportorientierten Landwirtschaft sind hier bereits eindrucksvoll sichtbar. Der Rio São Francisco, Lebensader für 13 Millionen Menschen, führt bereits nur noch ein Fünftel der Wassermenge von vor 70 Jahren. Der Grundwasserspiegel ist stark abgesunken und kleinere Nebenflüsse bereits versiegt.
Die ausgedehnte Bewässerungsinfrastruktur, von der ausschließlich große Agrarfirmen profitieren, wurde mit ca. 2 Mrd. US $ öffentlichen Geldern finanziert, während zahlreiche Dörfer in der Nachbarschaft der Kanäle noch immer keine Wasserversorgung haben. Obwohl Wasser in unmittelbarer Reichweite vorbeifließt, wird die Versorgung der Menschen mit Trinkwasser zum existenziellen Problem: Aus den Kanälen, an denen Wachleute patrouillieren, „gestohlenes“ Trinkwasser muss in Fässern und Kanistern in die Haushalte transportiert werden.
300 brasilianische Nichtregierungsorganisationen, soziale Bewegungen, kirchliche Basisgruppen und Indigenenorganisationen haben sich unter der Federführung des Misereor-Partners CPT (die brasilianische Landpastoral, siehe Kasten am Ende des Artikels) zu einem Aktionsbündnis zusammengeschlossen, um mit vereinten Kräften gegenüber der Regierung eine gerechte Wasserverteilung und eine Revitalisierung ihres Flusses einzufordern.
Menschenrechtsverletzungen/ Ausbeutung
Die ökonomische Wettbewerbsfähigkeit der brasilianischen Ethanolwirtschaft, die im weltweiten Vergleich am billigsten Agrotreibstoff produziert, beruht neben Gunstfaktoren wie dem Klima auch auf einer systemischen Überausbeutung der menschlichen Arbeitskraft. Eine Vielzahl von Menschenrechten der Zuckerrohrarbeiter wird verletzt, wie z.B. die Menschenrechte auf Nahrung, Wasser, Gesundheit und Wohnung aus dem UN-Sozialpakt, bis hin zum Menschenrecht auf Leben (UN Zivilpakt) sowie eine Reihe von Normen der Internationalen Arbeitsorganisation ILO zu menschenwürdigen Arbeitsbedingungen (z.B. Konvention Nr. 29 & 105 zur Eliminierung von Zwangs- und Sklavenarbeit).
Die Bezahlung der Arbeiter erfolgt nach Menge geschlagenen Zuckerrohrs und nicht als fester Lohn. Die Zielvorgabe für die Arbeiter im Bundesstaat São Paulo liegt bei 12-15 Tonnen pro Tag. Um auf diese Menge und durchschnittlich 180 Euro Monatslohn zu kommen, müssen die Arbeiter 30 Machetenschläge pro Minute ausführen, 8 Stunden lang am Tag.
Zwischen 2004 und 2007 sind alleine im Bundesstaat São Paulo 21 Arbeiter auf dem Feld an Erschöpfung gestorben. Viele weitere sterben an arbeitsassoziierten Ursachen wie Atemwegserkrankungen, Pestizidvergiftungen oder Arbeitsunfälle. Allein 2006 kamen so 450 weitere Arbeiter im Bundesstaat São Paulo ums Leben[vi].
Verschlimmert wird die Situation durch die prekären Arbeitsbedingungen der Arbeiter. Keine offizielle Arbeitsregistrierung, keine oder schadhafte Schutzausrüstung, schlechte und unzureichende Verpflegung und prekäre, überteuerte Unterkünfte prägen den Arbeitsalltag der meisten Zuckerrohrschneider.
Häufig entstehen durch den Transport in die Zuckerrohrregionen und Spesen für Unterkunft und Verpflegung so hohe Kosten, dass die ArbeitsmigrantInnen in die Schuldenfalle geraten. Der Weg in moderne Formen der Sklaverei ist von hier aus nicht mehr weit. Sklavenarbeit, in Brasilien seit 1888 offiziell verboten, ist heute noch in vielen Branchen ein Problem. Dies gilt besonders für den Zucker/Ethanolsektor: Von den 6.000 Sklaven, die 2007 in Brasilien befreit wurden, kamen 3.131 (mehr als die Hälfte!) aus den Zuckerrohrplantagen[vii]. Misereor-Partnerorganisationen sind seit Jahren an der Seite der Zuckerrohrschneider aktiv. Menschenrechtsorganisationen wie Rede Social dokumentieren die Arbeitsverhältnisse und bringen sie an die Öffentlichkeit. Die Migrantenpastoral Serviço Pastoral dos Migrantes berät sowohl die Arbeitsmigranten zu ihren Arbeiterrechten, entwickelt aber auch mit den daheimgebliebenen Familien in den Herkunftsgebieten alternative Verdienstmöglichkeiten, um der Armut und ausbeuterischen Arbeitsbedingungen zu entkommen.
Landkonzentration und Behinderung der Agrarreform
Der Zuckerrohranbau ist seit jeher von Latifundien (Großgrundbesitz) geprägt. Mit den starken finanziellen Anreizen während des Proalcool-Programms schritt die Ausbreitung großer Plantagen fort. Kleinbauern beugten sich dem finanziellen Druck und verkauften ihr Land oder wurden gewaltsam vertrieben. Die heutige Anbaufläche von knapp 7 Mio. Hektar liegt zu ca. 70% in den Händen der rund 370 Ethanol- und Zuckerfabriken mit einer durchschnittlichen Anbaufläche von rund 30 000 ha Zuckerrohr.
Den Löwenanteil des Geschäfts teilen große Unternehmen unter sich auf. Diese sind zum Teil brasilianisch wie COSAN oder BRENCO, vertreten sind aber auch die großen multinationalen Agrarkonzerne wie BUNGE, ADM und Louis Dreyfus[viii]. Der Konzentrationsprozess von Land und wirtschaftlicher Macht hat sich in den letzten Jahren noch weiter durch eine Welle von Fusionen verschärft.
Die schnell voranschreitende Expansion des Agrobusiness[ix] und die damit einher gehende Konzentration von Land haben zu stark gestiegenen Bodenpreisen geführt. Das macht Land nicht nur für kleinere bäuerliche Betriebe unerschwinglich, sondern erschwert auch die Landumnutzung für die Agrarreform. Zahlungskräftige Multinationale Unternehmen und Agroenergie-Investmentfonds tun sich leicht, neu aufgewertete Ländereien aufzukaufen und in Zuckerrohrplantagen umzuwandeln.
Von einer Agrarreform spricht die Regierung heute nicht mehr. Grundlegende strukturelle Veränderungen, die zur Armutsbekämpfung im Land unumgänglich wären, werden so unterwandert. Die knapp 5 Millionen landlosen BrasilianerInnen müssen so weiter auf ihr Recht auf einen angemessenen Lebensstandard (Art. 11 UN-Sozialpakt) warten[x]. Der Einsatz von Misereor-Partnern wie der brasilianischen Landpastoral, die sich bei Landkonflikten an die Seite der Kleinbauern und Landlosen stellen und die brasilianische Regierung zur Umsetzung der Agrarreform anhalten, bleibt auch weiterhin sehr wichtig.
Flächenkonkurrenz zur Nahrungsmittelproduktion
Während die Flächen für den Anbau von Zuckerrohr und Soja in Brasilien seit 1990 kontinuierlich gewachsen sind, sind die Flächen für wichtige Grundnahrungsmittel deutlich kleiner geworden. Die Zuckerrohrfläche wuchs von ca. 4,2 Mio. Hektar auf heute 6,9 Mio. Hektar, die Sojaflächen von 9,7 Mio. Hektar auf 21,1 Mio. Hektar (Wachstumsraten + 64% bzw. + 122%). Die Flächen für Bohnen und Reis sind im gleichen Zeitraum um 28% bzw. 32% geschrumpft[xi]. Daten des nationalen Statistikinstituts IBGE belegen, dass die Verdrängung von Reis und Bohnen seit 1990 besonders in den Munizipien (Landkreisen) stattgefunden hat, in denen die Expansion von Zuckerrohr am stärksten ausgeprägt war.
In jüngster Zeit kam es in Brasilien wie in vielen anderen Ländern zu teils drastischen Preissteigerungen: Innerhalb eines Jahres (April 2007-April 2008) stiegen die Preise für die Grundnahrungsmittel Bohnen um 160%, Mais um 37% und Reis um 23%. Die lässt sich sicher teils durch globale Entwicklungen erklären (Bohnen sind allerdings ein reines Binnenprodukt!), aber auch die jüngst beschleunigten Flächenumnutzungen haben dazu beigetragen. Die Verteuerung der Lebensmittel ist für die Ärmsten ein Desaster. 72,6 Mio. BrasilianerInnen leben in Ernährungsunsicherheit – d.h. sie wissen nicht, ob ihre finanziellen Mittel bis zum Monatsende ausreichen, um ihnen eine ausreichende Ernährung zu gewährleisten. Für arme Familien, die bis zu 70% ihres Einkommens für Nahrungsmittel ausgeben müssen, bedeutet jede Preiserhöhung bei Grundnahrungsmitteln mehr Hunger.
Wer finanziert ?
Auch deutsche Privatbanken haben die Branche als Investitionsfeld entdeckt[xii], allen voran die Deutsche Bank, die im internationalen Vergleich der wichtigste Finanzier von Agrotreibstoffproduzenten in Lateinamerika ist. Die Deutsche Bank finanziert u.a. die großen Agrarmultis ADM, Bunge, (Muttergesellschaft US-amerikanisch) und Cargill (USA).
COSAN, der weltweit größte Zuckerrohrproduzent der Welt und drittgrößter Ethanolexporteur, erhält ebenfalls Finanzierung von der Deutschen Bank. Das Unternehmen war im Juni 2008 in die (brasilianischen) Schlagzeilen geraten, weil die mobilen Einsatztrupps zur Bekämpfung der Sklaverei auf Fazendas der Firma im Bundesstaat São Paulo Arbeiter in sklavenähnlichen Arbeitsverhältnissen vorgefunden hatten.
Was tun?
Misereor-Partnerorganisationen werden noch lange eine wichtige informierende, vernetzende und organisierende Rolle in Brasilien einnehmen müssen; ihre Einflussnahme auf die Sozial- und Infrastrukturpolitik des Staates bleibt bedeutsam. Denn es sind weiterhin die armen Bevölkerungsgruppen, denen das nicht nachhaltige Wirtschaftsmodell Brasiliens immer mehr die Lebensgrundlage entzieht, trotz des allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwung des Landes. Um die Lebensbedingungen der Millionen Brasilianern zu verbessern, die in Hunger oder Ernährungsunsicherheit leben, muss die brasilianische Regierung vor allem strukturelle Veränderungen vornehmen. Gerechter Zugang zu den natürlichen Ressourcen, der Schutz der Lebensgrundlagen vor Zerstörung, Ernährungssicherheit und menschenwürdige Arbeitsbedingungen für alle Brasilianer sind die Herausforderungen der Zukunft. Ohne eine starke Zivilgesellschaft sind diese Veränderungen nicht erreichbar.
Aber auch die Industrienationen stehen in der Verantwortung. Deutschland und die EU dürfen nicht durch ihre Energie-Importe aus Brasilien die Ausbeutung von Menschen und die Zerstörung kostbarer Ökosysteme mit verschulden. Die Misereor-Partner fordern deshalb die Aufhebung der Beimischungsquote für Agrotreibstoffe sowie starke, verbindliche ökologische und soziale Nachhaltigkeitskriterien für Agrotreibstoffimporte in die EU.
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[i] Im nationalen Plan für Agroenergie wird die verfügbare Fläche sehr großzügig geschätzt. Unter Einbeziehung der Savanne Cerrado, Weideflächen, Aufforstungsgebiete und degradierter Gebiete werden 200 Mio. Hektar Land für den Anbau von Energiepflanzen geeignet erklärt (knapp ein Viertel des Staatsgebiets). Plan Nacional de Agroenergia. Ministerio de Agricultura, Pecuaria e Abastecimiento. Brasilia 2005.
[ii] Laschefski, K. & Teixeiras Assis, W. (2006): Mais cana para o bioetanol, mais eucalipto para a biomassa e o carvão vegetal. In: GTEnergia de FBOMS: Agronegócio e Agroenergía: Impactos cumulativos e tendências territoriais da expansão das monocultivas para o produção da bioenergia.
[iii] Companhia Nacional de Abastecimiento CONAB (2008): Acompanhamento da safra brasileira. Safra 2008,Primeiro Leventamento, Abril 2008.
[iv] De Fraiture, C. (2008) : Biofuels and implications for agricultural water use: Blue impacts of a green energy. In: Water policy 10 Supplement 1 (2008), S. 76-81, Colombo, Sri Lanka.
[v] Ebds.
[vi] Rede Social de Justiça e Direitos Humanos (2008): Direitos humanos e a industria da cana. São Paulo.
[vii] Comissão Pastoral da Terra (2008): Conflitos no Campo, Brasil 2007, Goiậna.
[viii] Der Anteil der Beteiligungen ausländischen Kapitals steigen rasant: Machten sie zur Ernte 2006/2007 noch 12% aus, wird der Anteil in 10 Jahren auf ca. 50% geschätzt. FIAN International (2008): Os Agrocombustiveis no Brasil. _http://www.fian.org/resources/documents/others/right-to-food-in-brazil-summary/pdf. (Der Link konnte am 11.03.2013 nicht mehr aufgerufen werden.)
[ix] Vergleich Zuckerrohr-Ernte 2006 mit 2007: Süden +24,1%, Südosten +12,5%, Mittlerer Westen + 17,5%, Nordosten + 7,4%, Norden 8,5%. Rede Social de Justiça e Direitos Humanos (2008) : Direitos humanos e a industria da cana. São Paulo.
[x] Comissão Pastoral da Terra Agroenergy, Rede Social de Justiça e Direitos Humanos (2007): Agroenergia: Mitos e Impactos na America Latina. Brasil.
[xi] Companhia Nacional de Abastecimiento CONAB (2008): Safras-Grãos. Abrufbar unter: http://www.conab.gov.br/conabweb/index.php?PAG=131
[xii] Commerzbank, Deutsche Bank, HSH Nordbank, KfW, Landesbank Rheinland-Pfalz, WestLB. Vgl. PROFUNDO: European financing of agrofuel production in Latin America. A research paper prepared for Friends of the Earth Europe, May 2008; PROFUNDO: German and multilateral financial institutions in the bioenergy sector. A research paper prepared for the German NGO Platform on Sustainable Biomass. Draft September 2008.
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Dieser Artikel erschien bereits im Mai 2009 in der Misereor-Broschüre „Energie-Macht-Hunger. Warum die Energiewende erforderlich ist“. Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Autorin und Misereor (Ulrike Bickel, Misereor-Referentin für Energie-Rohstoffe, Tel. 0241/442-561).
Die Autorin war von Sept. 2007- Juli 2009 Trainee für Bioenergie in der Lateinamerika-Abteilung von Misereor und ist jetzt Referentin für klimafreundliche Beschaffung bei Germanwatch.
Bildquellen:[1] Rufino Uribe, [2] Clemens Högens/Der Spiegel*, [3] Valter Campanato/Agência Brasil
* Nutzungsrechte liegen der Redaktion vor.
Karte: Agência Brasil
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Dokument zur Ethanol-Produktion in Brasilien und zur Lage der Zuckerrohrarbeiter
Comissão Pastoral da Terra – Secretaria Nacional Assessoria de Comunicação |
NOTA PÚBLICA
CPT kritisiert den falschen Versuch zur Zertifizierung von Ethanol
Es kann keine soziale Zertifizierung der Ethanolproduktion geben, solange die entwürdigende Arbeit, die Umweltzerstörung und die Landkonzentration fester Bestandteil des traditionellen Anbaumodells sind.
An diesem Donnerstag, dem 25. Juni 2009, hat Präsident Lula ein freiwilliges Übereinkommen mit Vertretern der Regierung, Arbeitnehmern und Ethanolproduzenten unterzeichnet. Der Unterzeichnung waren im vergangenen Jahr mehrere Verhandlungsrunden vorausgegangen. Ziel des von dem Präsidialamt der Republik erarbeiteten Dokuments mit dem Titel „Nationale Verpflichtung zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen auf den Zuckerrohrplantages“ ist die Förderung von Best Practices in den Arbeitsverhältnissen und die Gewährleistung einer „menschenwürdigen Arbeit“. Dazu sieht das Übereinkommen als wichtigste Punkte vor: die Direkteinstellung (Abschaffung von Subunternehmen), der Zugang von Gewerkschaftsvertretern zu den Arbeitsstätten, der kostenlose und sichere Transport, die transparente und korrekte Abrechnung des mit dem Arbeitnehmer festgestellten Arbeitsertrages sowie die Bereitstellung von individuellen Schutzvorrichtungen.
Somit bietet das Übereinkommen keinen Mehrwert zu den bereits bestehenden Arbeitsgesetzen und Tarifvereinbarungen, an die sich die Unternehmen, die brasilianische Zuckerrohrschneider beschäftigen, seit jeher nicht halten. Wer profitiert dann von diesem Übereinkommen? Alles weist darauf hin, dass es wieder dieselben sind wie immer: die „Usineiros“, die Zuckerbarone – die jüngsten „nationalen Helden“.
Tatsächlich ist ganz deutlich zu erkennen, dass dieses bedenkliche Übereinkommen wohl hauptsächlich dazu dienen soll, den Boden für eine soziale Zertifizierung der Ethanol produzierenden Unternehmen zu ebnen, indem nicht deren Praxis verändert, sondern lediglich die „Qualität“ der Arbeitsbedingungen in der Ethanolproduktion in Brasilien atestiert wird, die es aber nicht gibt. Die Einführung dieser Zertifizierung wurde kürzlich von Präsident Lula in einer Rede während der Konferenz der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) am 14. Juni dieses Jahres in Genf angekündigt. Menschenrechtsorganisationen und soziale Bewegungen sehen in diesem Übereinkommen einzig und allein den Versuch, die internationale Ablehnung gegenüber dem Ethanol aus Brasilien zu beseitigen, hervorgerufen durch die zahlreichen Anzeigen, die die enge Verknüpfung zwischen der Erzeugung von Agrokraftstoffen und Sklavenarbeit und Umweltzerstörung sichtbar machen.
Das brasilianische Ethanol wurde der Welt als die Lösung für die Energiekrise und die Umweltverschmutzung durch fossile Brennstoffe vorgestellt. Seitdem werden die Zuckerbarone offiziell zu „nationalen Helden“ ausgerufen. Im September 2007 besuchte Präsident Lula die Länder Dänemark, Finnland, Norwegen und Schweden, um bei diesen Ländern für Investitionen in den brasilianischen Ethanolsektor zu werben. Wichtigster Tagesordnungspunkt waren Fördermaßnahmen für die Forschung und Vermarktung des brasilianischen Ethanols in Europa. In Schweden – wo intensiv auf dem Gebiet von Agrotreibstoffen geforscht wird und das weltweit einer der größten Importeure des brasilianischen Ethanols ist – wurde der Präsident auf die Sklavenarbeit auf den brasilianischen Zuckerrohrplantagen angesprochen. Als Ausweg, um das positive Image der Agrotreibstoffe wiederherzustellen, kündigte der Präsident die Einführung einer Art „sozialen Zertifizierung“ an, die an eine Reihe von freiwilligen Maßnahmen seitens der Ethanolproduzenten gebunden ist und die die Ausbeutung der Arbeiter und Arbeiterinnen auf den Plantagen verringern soll.
Wenn Ethanol ein sauberer Kraftstoff ist, dann nur ab dem Moment, wenn es aus dem Auspuffrohr der Autos heraustritt; bis dahin verursacht der so genannte „Biokraftstoff“ enorme soziale und Umweltkosten. Es kann daher keine soziale Zertifizierung geben, wenn das Modell der Ethanolproduktion im Wesentlichen auf die Ausbeutung von Arbeit und auf Umweltzerstörung beruht, abgesehen von der Land- und Kapitalkonzentration, die damit unweigerlich einhergehen. Nach den Zahlen der Nationalen Kampagne gegen Sklavenarbeit der Kommission für Landpastoral (CPT) wurden 2007, im ländlichen Bereich, 5.974 Arbeiter aus sklavenähnlichen Arbeitsverhältnissen befreit, davon befanden sich 3.060, das sind 51%, auf Zuckkerrohrplantagen. 2008 wurden von den 5.266 befreiten Arbeitern in Brasilien 2.553 – 48%, nahezu die Hälfte von den großen Produzenten von „grünen und sauberen“ Treibstoffen als Sklavenarbeiter gehalten. Und 2009 sind es jetzt schon 951, 52% der Gesamtzahl. Das ist ein erheblicher Anstieg im Vergleich zu den Jahren davor (1.605 befreite Arbeiter zwischen 2003 und 2006, bzw. 10% aller befreiter Arbeiter in diesem Zeitraum).
Der Ethanolsektor und die Abhängigkeit von öffentlichen Mitteln – Die brasilianische Regierung hat in den letzten Jahren ihre Unterstützung für den Agrobusiness, insbesondere für das Projekt Agrotreibstoffe auf Ethanol-Basis kräftig erhöht. Neben dem Vorschlag, die illegale Landnahme in Amazonien rückwirkend zu legalisieren und große Teile des Hoheitsgebietes an internationale Unternehmen zu veräußern, stellt die brasilianische Regierung enorme Finanzmittel für die industrielle Landwirtschaft bereit. Die Präsidialamtsministerin (Ministra-chefe da Casa Civil) Dilma Roussef kündigte neulich auf einer Veranstaltung des brasilianischen Verbandes der Zuckerindustrie (Unica – União da Indústria de Cana-de-açúcar) an, dass die Ausweitung der Ethanolexporte ins Ausland ein vorrangiges Interesse der Regierung sei. Allein in diesem Jahr erhielt die Ethanolbranche mehr als R$ 3,2 Milliarden von der Nationalen Bank für Wirtschaftliche und Soziale Entwicklung – BNDES. Das ist eine Steigerung um 36% im Vergleich zum Vorjahr. Die Mittel, die die BNDES für die Agrotreibstoffe bereitstellt, werden größtenteils aus dem Fundo de Amparo ao Trabalhador (Fonds zur Unterstützung der Werktätigen) genommen. Ende 2008 wurden die Fördermittel für Agrotreibstoffe drastisch gekürzt. Die internationale Finanzkrise wirkte sich gleich zu Beginn hart auf die Ethanolbranche aus. Dieser Investitionsrückgang zeigte wieder einmal deutlich, wie zerbrechlich und wie abhängig die Branche von öffentlichen Mitteln und staatlicher Unterstützung ist.
Die Zerstörung durch die Ethanolproduktion im Nordosten – Die Zuckerindustrie in dieser Region verletzt seit jeher Arbeitnehmerrechte, missachtet die soziale Funktion des Bodens und trägt zudem zu der fortschreitenden Umweltzerstörung bei. Studien belegen, dass für jeden Liter Ethanol, der in den Fabriken produziert wird, 12 Liter „vinhoto“ anfallen – eine toxische Substanz, die die biologische Vielfalt zerstört. Da die Rückstände in die Flüsse geleitet werden, sind ein Großteil der Gewässer im Umkreis der Fabriken verschmutzt. Auch andere Faktoren beschleunigen die Umweltzerstörung: der Einsatz von Düngemittel und die Brandrodungen. Die Bundes- und Landesregierungen treiben nach wie vor die Steuerschulden in Millionenhöhe vieler Fabriken in der Zona da Mata, im Nordosten Brasiliens, nicht ein. Anstatt diese Schulden zu vollstrecken – und auf diese Weise Land für die Wiederansiedlung von Kleinbauern und –bäuerinnen zu bekommen – erleichtern die Regierungen den Erlass oder die Verbriefung von Schulden und begünstigen neue Zuschüsse für chronische und rückfällige Schuldner.
Herausforderung für die sozialen Bewegungen bei der Bekämpfung der Ethanolproduktion und der Sklavenarbeit – Die Bekämpfung der Sklavenarbeit auf den Zuckerrohrplantagen bleibt nach wie vor die größte Herausforderung für die sozialen und Menschenrechtsbewegungen. Es werden zwar viele Anzeigen an die zuständigen Behörden weitergeleitet, jedoch nur wenige führen zu einer rigorosen Überprüfung durch die Mobilen Kontrollgruppen des Arbeitsministeriums. Werden auf Zuckerrohrplantagen menschenunwürdige Arbeitsbedingungen festgestellt, so werden diese von der zuständigen Staatsanwaltschaft in der Regel nicht als Sklavenarbeit eingestuft und beschwichtigende Maßnahmen eingeleitet, die zu keiner Lösung führen.
Es ist höchste Zeit, den Entwurf zur Verfassungsänderung (PEC 438/2001) wieder auf die Tagesordnung zu setzen. Die von der Landwirtschaftsfraktion im Parlament immer wieder aufgeschobene Verfassungsänderung sieht die entschädigungslose Enteignung von Ländereien vor, auf denen Arbeitnehmer in sklavenähnlichen Bedingungen angetroffen werden. Die enteigneten Ländereien sollen in das Agrarreformprogramm eingebracht werden. Es ist höchste Zeit, diese Schande in unserem Land endgültig zu beseitigen, anstatt zu versuchen, die Realität von hunderten Landarbeitern und Landarbeiterinnen in den entlegendsten Winkeln Brasilien zu beschönigen, die von einer Regierung vergessen werden, die die Ethanolproduzenten mit falschen politisch korrekten Siegeln tarnt und hemmungslos versucht, auf dem Agrarexportmarkt ein sozial sauberes Image aufzubauen.
Goiânia, den 25. Juni 2009
Comissão Pastoral da Terra (CPT)
Weitere Informationen:
Xavier Plassat (coordenação da Campanha Nacional da CPT de Combate ao Trabalho Escravo) – (63) 9221-9957
Marluce Melo (coordenação da CPT Nordeste II) – (81) 8893-4176
Plácido Júnior (coordenação da CPT Nordeste II) – (81) 8893-4175
Übersetzung aus dem Portugiesischen: Edith Snijders-Gebhardt
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