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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Von Ärzten, Heilern und Campesinos

Frank Kressing | | Artikel drucken
Lesedauer: 9 Minuten

Westliche Medizin in der Kallawaya-Region Boliviens

Daß Einrichtungen der westlichen Medizin in den Ländern der südlichen Erdhälfte häufig fehlgeplant sind und den Bedürfnissen der betroffenen Bevölkerung nur in geringem Ausmaße gerecht werden, darf inzwischen als entwicklungspolitischer Allgemeinplatz angesehen werden. Allerdings fehlen bislang detaillierte Untersuchungen über das Nutzungsverhalten von medizinischen Einrichtungen bei indigenen Bevölkerungen, d.h. Studien zu der Frage, wer wann unter welchen Umständen und warum ein Hospital, eine Arztpraxis oder einen Sanitätsposten aufsucht. Im Rahmen eines Dissertationsprojektes hatte ich im Sommer 1994 Gelegenheit, die Kallawaya-Region im Westen Boliviens aufzusuchen und dort zu untersuchen, wie die Gesundheitsvorsorge in dieser Region beschaffen ist, unter welchen Umständen die Einrichtungen der westlichen Medizin aufgesucht werden, und welche Hemmschwellen bei der Inanspruchnahme dieser Institutionen bestehen.

Die Kallawaya-Region wird von ca. 10.000 quechuasprachigen campesinos bewohnt, welche in ganz Südamerika als reisende Medizinmänner bekannt sind. Die Region liegt am Ostabhang der Anden im Nordwesten Boliviens und entspricht politisch weitgehend der Provinz Bautista Saavedra. Der Provinzhauptort Charazani ist 260 km von der bolivianischen Hauptstadt La Paz entfernt, seine 500 Einwohner sind vor allem Mestizen (Angehörige der ländlichen Oberschicht). Es gibt seit 1979 ein kleines staatliches Hospital in Charazani mit einer Kapazität von acht Betten, welches von einem Arzt und einem Sanitäter betreut wird. Wie ich in Erfahrung bringen konnte, sind die Betten in dem kleinen Krankenhaus so gut wie nie belegt. Die Ärzte des Hospitals werden jedes Jahr ausgewechselt und sind in der Regel junge Mediziner nach dem Universitätsabschluß, die fernab von Familie und Freunden in den entlegenen Regionen des Landes ihr staatlich vorgeschriebenes Pflichtjahr („ano de provincia“) ableisten. Bei der örtlichen Bevölkerung gelten die Mediziner im örtlichen Krankenhaus als unerfahren und unfähig. Sie sprechen kein Quechua, fühlen sich als Angehörige der städtischen Oberschicht den Indianern überlegen und sind häufig auch gar nicht im Krankenhaus anzutreffen.

Doch Rassismus, Arroganz und Absentismus der Mediziner sind nicht die einzigen Gründe, welche eine Inanspruchnahme der staatlichen Gesundheitsfürsorge verhindern. Darüber hinaus gibt es auch viele rein praktische Gründe, welche dafür sorgen, daß so wenige Patienten in das kleine Krankenhaus von Charazani zur Behandlung kommen. Erst seit einigen Jahren sind die wichtigsten Dörfer der Region durch Schotterstraßen bzw. Fahrwege miteinander verbunden. Das nützt den Indianern jedoch wenig, da so gut wie niemand in den Dörfern um Charazani über ein Fahrzeug verfügt. Auch im Krankheitsfalle muß also die Wegstrecke von den Dörfern in den Provinzhauptort zu Fuß zurück gelegt werden. Je nach Lage des Dorfes kann es sich dabei um einen Fußmarsch von zwei, vier oder auch sieben bis neun Stunden handeln – und dies in einer Höhenlage von 3.000 – 4.000 Metern.

Schwerkranken, die nicht mehr gehfähig sind, bleibt nur die Hoffnung, daß vielleicht der Pfarrer, ein wohlhabender ex-haciendero, oder ein Entwicklungshelfer zufallig mit einem Jeep vorbeikommt, um sie ins Hospital zu transportieren. In seltenen Fällen fahren auch die regelmäßig von La Paz aus verkehrenden Lastwagen über Charazani hinaus bis in die Dörfer, etwa zu fiestas oder für größere Warentransporte. Normalerweise muß der Weg zu den medizinischen Versorgungseinrichtungen zu Fuß zurückgelegt werden.

Angesichts der Tatsache, daß die traditionelle indianische Heilkunde in der Kallawaya-Region über eine herausragende Rolle verfugt, ist an dieser Stelle die Frage zu stellen, warum eine Versorgung der Bevölkerung in der Provinz Bautista Saavedra mit westlicher Medizin überhaupt als nötig erachtet wird. Ist die Bevölkerung nicht mit traditioneller Medizin ausreichend versorgt?

Die traditionelle Heilkunde der Kallawayas, und zwar sowohl die Kräutermedizin als auch der Aspekt der rituellen symbolischen Heilung, haben in der ethnomedizinischen Literatur große Aufmerksamkeit erfahren. Die traditionellen Heiler konzentrieren sich auf verschiedene Dörfer (vor allem Chajaya und Curva), wobei Kallawayas aus einem bestimmten Dorf gern für sich in Anspruch nehmen, die einzigen authentischen Heilerpersönlichkeiten zu sein. Versuche, die Anzahl der traditionellen Heiler näher zu bestimmen, ergaben eine Zahl von ca. 130-150 Kallawayas – allerdings dürften diese Angaben viel zu niedrig sein. Wie Rösing (1988/1990, S. 69) schreibt, ist in der Region „… bis zum heutigen

Tag ein breit gestuftes und tiefes Wissen um Heilung und Ritual zu Hause“.

Meine eigenen, informellen Beobachtungen und Befragungen in der Region ergaben, daß sich die Menschen dort im Krankheitsfalle zunächst einmal selbst zu helfen versuchen – ein Verfahren, welches in der ethnomedizinischen Literatur als „Automedikation“ bezeichnet wird und an sich ja nichts Ungewöhnliches darstellt. Allerdings kommt der Bevölkerung der Kallawaya-Region in dieser Hinsicht das in der Region sehr weit verbreitete Kräuterwissen zu Hilfe. Falls die verschiedenen Formen der Eigentherapie nicht anschlagen, würden – so wurde mir versichert -Medizinmänner und Medizinfrauen aufgesucht. Das kleine staatliche Hospital werde überhaupt nicht aufgesucht, da man sich von dieser Institution keine Hilfe verspreche – die Ärzte seien zu jung und unerfahren und verfügten weder über die nötigen Medikamente noch die Geräte, um eine effektive Behandlung durchzuführen.

Die oben beschriebenen Defizite der staatlichen Gesundheitsversorgung veranlaßten die Ulmer Kulturanthropologin Ina Rösing, welche seit 1983 in der Region forscht, eine kleine Gesundheitsstation aus dem Nachlaß der verstorbenen Soziologin Ragane Richter-Heinbach aufzubauen. Betreut wird diese Station von einem Sanitäter, welcher zuvor zwölf Jahre in dem kleinen Hospital von Charazani gearbeitet hatte und von daher über einschlägige medizinische Erfahrung verfügt. Der Sanitäter stammt aus der Region, spricht sowohl Aymara als auch Quechua und nimmt im Bedarfsfall auch Hausbesuche in weit entfernten Dörfern vor. Er erhält für seine nebenberufliche Tätigkeit ein kleines Gehalt aus Spendengeldern, Medikamente werden zum Selbstkostenpreis abgegeben. Die Patienten zahlen eine kleine Behandlungsgebühr von umgerechnet ca. fünfzig Pfennigen, welche ungefähr den Tarifen im staatlichen Krankenhaus entspricht – dies, um die Menschen der Region auch weiterhin zur Nutzung ihrer Heilpflanzenkenntnisse anzuregen, statt ihre Abhängigkeit von westlicher, kostenloser Gesundheitsfürsorge zu verstärken. Die Gesundheitsstation versteht sich als eine Institution privater Entwicklungshilfe und geriet in der Vergangenheit in starke Bedrängnis, als einer der Ärzte des Krankenhauses zum Subpräfekten der Provinz ernannt wurde und die zeitweilige Inhaftierung des Krankenpflegers aufgrund angeblich „illegaler“ medizinischer Tätigkeit erwirkte. Da inzwischen eine formelle Genehmigung für den Betrieb der Gesundheitsstation eingeholt werden konnte, ist mit derartigen Behinderungen des Betriebs dieser Einrichtung nicht mehr zurechnen. Meine Beobachtungen im Jahre 1994 zeugten von einem inzwischen entspannteren Verhältnis zwischen dem Sanitäter und dem Krankenhauspersonal.

Neben Hospital und farmacia gibt es noch eine dritte, wenn auch marginale Quelle der Versorgung der Region mit westlicher Medizin. Es handelt sich um drei franziskanische Nonnen aus Chile, welche in der Kirchengemeinde von Charazani wirken und zumindest in der Vergangenheit – vor allem Mitte der achtziger Jahre, als das offizielle bolivianische Gesundheitssystem aufgrund von Hyperinflation und politischer Umwälzungen zusammenzubrechen drohte kostenlos Medikamente verteilten. Allerdings wird dieser bescheidene kirchliche Gesundheitsdienst vor allem von älteren Frauen (über 40) aus den umliegenden Dörfern um Charazani in Anspruch genommen, welche ohnehin zu Strick-, Näh- und Hauswirtschaftskursen in die Pfarrei kommen und sich bei dieser Gelegenheit auch gleich medizinisch versorgen lassen. Zudem sind die Medikamentengaben in den meisten Fällen auch an religiöses Wohlverhalten im Sinne der katholischen Amtskirche geknüpft. So wurden Unverheirateten und Eltern, die es bislang versäumt hatten, ihre Kinder taufen zu lassen, Arzneimittelgaben auch durchaus verweigert.

Im Rahmen meines Dissertationsprojektes ermittelte ich, inwieweit vor dem Hintergrund der hoch entwickelten traditionellen Heilkunde in der Region Einrichtungen der westlichen Gesundheitsfürsorge überhaupt in Anspruch genommen werden, welcher Personenkreis daran beteiligt ist, und welche Gründe für die Inanspruchnahme verschiedener medizinischer Versorgungsformen ausschlaggebend sind.

Die in informellen Gesprächen mit der örtlichen Bevölkerung ermittelten Aussagen deuteten darauf hin, daß Einrichtungen der westlichen kosmopolitischen Medizin in der Region überhaupt nicht in Anspruch genommen werden. Allerdings führte ich meine Untersuchung in erster Linie auf der Basis quantitativer Daten, namentlich der Patientendaten aus dem Hospital, der Gesundheitsstation und der kirchlichen Medikamentenvergabe durch.

Diese Daten zeigen, daß entgegen den Behauptungen von der nicht vorhandenen Inanspruchnahme westlich-medizinscher Einrichtungen von 1979 bis 1993 immerhin mehr als 3.000 verschiedene Personen eine der drei oben beschriebenen westlichen Gesundheitseinrichtungen aufsuchten. Jeder dritte Einwohner der Provinz war also mindestens einmal beim Arzt, Sanitäter oder bei den katholischen Nonnen.

Interessant ist nun, wie sich diese Konsultationen auf die einzelnen Einrichtungen, auf die Herkunftsorte der Patienten und ihren Sozialstatus bzw. ihre Ethnizität verteilen. Es zeigt sich, daß die kleine Gesundheitsstation eine weitaus höhere Effizienz als das Hospital aufweist – angesichts der oben beschrieben Barrieren zwischen Arzt und Bevölkerung ist dieses Ergebnis keinesfalls verwunderlich. Für mich war es während meines Aufenthaltes in Charazani sehr beeindruckend, einerseits zu sehen, wie sich der Arzt auf seinem Campingstuhl vordem Hospital langweilte, während ich andererseits Gelegenheit hatte, den Sanitäter schon um vier Uhr morgens zu einem Krankenbesuch in das drei Stunden von Charazani entfernte Dorf Curva zu begleiten.

Für das Krankenhaus wie für die Gesundheitsstation ist kennzeichnend, daß ca. 70% der Patienten aus den Dörfern in einem Umkreis von drei Stunden Fußmarsch um Charazani kommen. Die Erreichbarkeit von medizinischen Einrichtungen stellt somit einen entscheidenden Faktor für ihre Inanspruchnahme dar. Im Einklang damit sind die Bewohner von Charazani bei allen Konsultationen stark überrepräsentiert (20% der Patienten im Vergleich zu 5% der Einwohner der Provinz).

Ethnizität geht im zentralandinen Raum einher mit Status- und Schichtzugehörigkeiten. Quechua- und aymarasprachige indigenas sind zugleich Bauern und damit Angehörige der ländlichen Unterschicht. Händler, Lastwagenbesitzer und Angestellte, d.h. alle Angehörigen von spezialisierten Berufen, gelten auch bei indianischer Abkunft als Mestizen und werden diese Herkunft nach Möglichkeit verleugnen (untereinander ausschließlicher Gebrauch des Spanischen, stärkere Hinwendung zur katholischen Amtskirche etc.). Angesichts der Tatsache, daß die Gesundheitsstation von einem campesino betreut wird, sollte man davon ausgehen, daß sie vor allem von Indianern in Anspruch genommen wird. Es zeigt sich jedoch, daß bei Zugrundelegung der oben aufgeführten Kriterien für den Sozialstatus der Bewohner Mestizen im Hospital wie in der farmacia gleichermaßen überrepräsentiert sind. Ein genauer Blick auf die Krankendaten enthüllt sogar, daß die Gesundheitsstation auch von den führenden Mestizenfamilien von Charazani und darüber hinaus von den Beschäftigten des örtlichen Entwicklungshilfeprogrammes aufgesucht wird – Zeichen dafür, daß auch diese modernisierten Eliten mehr Vertrauen in die farmacia als in das Hospital setzen. Weiterhin zeigt sich, daß in der Gesundheitsstation weitaus mehr Konsultationen pro Patient als im Krankenhaus zu verzeichnen sind, was als Indiz dafür gelten kann, daß die Patienten sich von permanenter Betreuung einen Heilungserfolg versprechen und diese Einrichtung nicht nach einmaligem Kontakt völlig gemieden wird, wie es für das Hospital weitgehend zutrifft.

Quellenachweise:

Von der Ulmer
Kulturanthropologin Ina Rösing ist ein bislang füntbändiger Publikationszyklus zur Kallawaya-Region erschienen:

Rösing, Ina (l987/1992): Die Verbannung der Trauer (Llaki Wijch’una). Nächtliche Heilungsrituale in den Anden Boliviens. Mundo Ankari Band I. Nördlingen/Frankrurt/Main: 3. Auflage

Rösing, Ina (1988/1990): Dreifaltigkeit und Orte der Kraft: die weiße Heilung. Nächtliche Heilungsrituale in den Anden Boliviens. Mundo Ankari Band 2, Buch I und II. Nördlingen/ Frankfurt/Main: 2. Auflage

Rösing, Ina (1990/1993): Abwehr und Verderben: Die schwarze Heilung. Mundo Ankari Band 3. Frankfurt/Main

Rösing, Ina (1991): Die Schließung des Kreises: Von der Schwarzen Heilung über Grau zum Weiß. Nächtliche Heilungsrituale in den Hochanden Boliviens. Mundo Ankari Band 4.

Rösing, Ina (1993): Rituale zur Rutung des Regens. Zweiter Ankari-Zyklus: Kollektivrituale der Kallawaya-Region in den Anden Boliviens. Mundo Ankari Band 5. Frankfurt/Main (Verlag Zweitauseneins)

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