Die Medien – auch die deutschen – brachten zahlreiche Bilder über die Feier, die am 22. April in der Stadt Porto Seguro, im Bundesstaat Bahia, der Ankunft der ersten portugiesischen Seemänner an der brasilianische Küste pompös gedenken sollte. Während der brasilianische Präsident neben anderen politischen Persönlichkeiten feierte, wurden Tausende von Indianern, Vertreter der Bewegung der Schwarzen und Landlosen mit der gewöhnlichen Brutalität durch die Polizei auf den Straßen angehalten, die nach Porto Seguro fuhren, wobei das Bewegungsrecht der Reisenden mißachtet wurde.
Man könnte vermuten, daß die gewaltsame Behandlung der Demonstranten und die Verhinderung, daß sie sich an einem offiziellen Fest beteiligen, nur eine Episode mehr in einer Geschichte ist, die durch Unterdrückung und Nichtanerkennung ärmerer Bevölkerungsgruppen gekennzeichnet ist. Die Unabhängigkeit Brasiliens wurde 1822 durch den Vertreter der Kolonialmacht in Brasilien erklärt und auch die Proklamation der Republik erlebte das Volk, wie Carvalho prägnant formuliert, in verblüffter Haltung.
Die Ereignisse in Porto Seguro scheinen mir aber nicht auf Kontinuität, sondern einen politischen Umbruch zu verweisen. Die Protestwelle war ein zugespitzter Ausdruck eines Prozesses, der vor etwa drei Jahrzehnten begann und im Zuge der Demokratisierung vertieft wurde. Es handelt sich um eine symbolische Auseinandersetzung darum, wie die historischen kollektiven Erfahrungen der Brasilianerinnen interpretiert und bewertet werden sollen. Der italienische Sozialwissenschaftler A. Melucci zeigt auf, daß seit geraumer Zeit die materiellen Umverteilungsstreite nicht mehr allein im Zentrum des politischen Machtkampfes in zeitgenössischen Demokratien stehen. Im Mittelpunkt vieler politischer moderner Konflikte steht der Kampf um die „power of naming“, also die Macht, die kollektiven Erfahrungen in das eigene Vokabular bzw. Bedeutungsrepertoire zu übersetzen. Diese Definitionsmacht bildet meines Erachtens den Kern vieler politischer Streite, die heute in Brasilien zu beobachten sind. Ich möchte hier auf vier Bereiche kurz eingehen, in denen solche Kämpfe stattfinden.
Die erste Front entspricht dem Handlungsraum der Bewegung der Landlosen (MST). Die MST ist erst vor 15 Jahren entstanden, sie konnte aber in dieser Zeit eine breite Legitimation als Sprachrohr derer schaffen, die die Ärmsten unter den Annen darstellen: Diejenigen, denen ein Stück Boden in einem kontinentalen Land abgelehnt wurde. Der wiederholte Marsch in die Hauptstadt Brasilia, in dem die Landlosen mehrere hundert Kilometer zu Fuß zurücklegten, um vor dem Präsidentenpalast ihre rote Mützen und ihre aufsehenerregenden Fahnen zu schwingen, enthüllte eine gern zurückgedrängte Dimension Brasiliens: die krassen sozialen Ungleichheiten. Mittlerweile weiß man, daß die Agrarreform nur das sichtbare Äußere einer marxistisch-leninistischen Bewegung darstellt, der es auf der symbolischen Ebene immer mehr gelingt, die Vergangenheit Brasiliens neu zu erzählen und seine Gegenwart neu zu interpretieren. Dabei wird die historisch etablierte Vision in Frage gestellt, nach der das brasilianische Volk der gravierenden sozialen Mißverhältnisse zum Trotz Samba tanzt und glücklich weiter lebt. Die penetrante Choreographie, die die Landlosen mit ihren billigen Gummilatschen, ihren schmalen Gesichtern und ihren abgekämpften Körpern darstellen und die Abendnachrichten mit Lichteffekten wiedergeben, erinnert die wohlhabenden Brasilianer immer wieder, daß die Armut verharmlost und die sozialen Ungleichheiten in ihrem Land naturalisiert werden.
Im Bereich der ethnischen Beziehungen ist eine ähnliche Auseinandersetzung zu beobachten. Hier handelt es sich um einige Mythen, auf denen die brasilianische Nation beruht. Seit der ersten Hälfte des XX. Jahrhunderts stellt sich Brasilien selbst als eine gemischte „mestize“ Nation dar, die ohne große Traumas die politische Einbeziehung aller bestehender ethnischer Gruppen gleichmäßig gewährleistet. Nach dieser Auffassung, die die romantisierte Sozialanthropologie Freyres verewigte, existieren in Brasilien weder Rassismus noch ausgegrenzte ethnische Gruppen, sondern eine einmalige kulturelle Begegnung, die auf einer biologischen Vermischung vielfältiger Menschengruppen beruht. Selbst belastende historische Erfahrungen wie die Sklaverei, die erst vor knapp 110 Jahren zu Ende ging, oder das indigene Genozid – es gab ca. 6 Million Indianer bei der Entdeckung, heute sind es 3.500.000 – werden nach dieser Auffassung als unwichtig dargestellt. Im Gegensatz zu anderen Kolonien hätte die Sklaverei in Brasilien die Annäherung zwischen Weißen und Schwarzen nicht verhindert, während dem Völkermord der Indianer angesichts der angeblichen kulturellen Überlegenheit der europäischen Kolonisatoren ein zivilisatorischer Gehalt beigemessen wird.
In den letzten Jahren wird allerdings der Mythos der harmonischen mestizischen Nation immer deutlicher bloßgestellt. Hierbei ist die Rolle der sozialen Bewegung der Schwarzen zu unterstreichen. Diese konstituierte sich Ende der 70er Jahre neu und versucht seitdem, die Öffentlichkeit darüber aufzuklären, daß die weltweit gelobte brasilianische „ethnische Demokratie“ ein ungeeignetes ideologisches Etikett ist. Denn die soziale Realität läßt sich nicht durch die Gleichberechtigung, sondern durch eine ausgeprägte Vernachlässigung der Nichtweißen beschreiben. Betrachtet man etwa die sozialen Indikatoren für weiße und nicht weiße Bevölkerungsteile separat, so ist festzustellen, daß die Weißen länger leben, länger die Schule besuchen und insgesamt höhere Einkommen (auch bei gleicher Qualifikation) haben. Somit verbergen die in der Verfassung verankerte Gleichberechtigung und der ideologische Diskurs der ethnischen Demokratie Rassismus, Intoleranz und Diskriminierung, die in den alltäglichen sozialen Beziehungen tief verwurzelt sind. Die Kampagnen und Aktionen der Bewegung der Schwarzen – eigentlich sollte man von Bewegungen der Schwarzen sprechen, da es sich um eine vielfältige und pluralistische Palette von Organisationen handelt – streben überwiegend nicht den unmittelbaren Ausgleich materieller Mißverhältnisse, sondern die effektive Anerkennung der Schwarzen als gleichwertige Bürger an. Einige greifen sogar auf das deutsche Beispiel der Aufarbeitung der Holocaustvergangenheit zurück, um deutlich zu machen, daß die effektive Bekämpfung des alltäglichen hartnäckigen brasilianischen Rassismus eine intensive Thematisierung der Geschichte der Sklaverei voraussetzt, so daß der historische Charakter der mit der Hautfarbe assoziierten Diskriminierung aufgedeckt wird. Konnte die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Rassismus die Vorurteile der Weißen noch nicht restlos abbauen, so sind wichtige Fortschritte zu konstatieren. Einerseits ist die Justiz weniger tolerant mit den Rassisten. In den letzten Jahren kamen einige exemplarische Vorurteile rassistischer Delikte zum Vorschein. Rassismus wird dadurch zu einer verborgenen sozialen Praxis, die leider noch durch feige Witze und zweideutige Zuschreibungen reproduziert wird. Darüber hinaus beobachtet man eine eindeutige Steigerung der Selbstschätzung der Nichtweißen. Durch die immer höhere Wertschätzung kultureller Ausdrucksformen afrikanischer Herkunft wird die dunkle Hautfarbe, früher Ursache von Scham und Demütigung, langsam zu einem Grund, sich stolz und selbstbestätigt zu fühlen.
Ein ähnlicher Prozeß ist auch bei der indigenen Bevölkerung zu beobachten. Führt man sich die brasilianische Geschichte vor Augen, so läßt sich feststellen, daß die Indianer entweder als Synonym für Rückständigkeit oder durch das romantische Bild eines wehrlosen, natürlichen, also kulturlosen Wesens betrachtet wurden. Seit einigen Jahren bilden verschiedene Indianervölker allerdings eine wichtige soziale Bewegung, die eine starke öffentliche und mediale Präsenz bereits erreicht hat. Ausgehend von Allianzen mit internationalen Nicht-Regierungsorganisationen, Künstlern, Musikern und Oppositionspolitikern versucht die Bewegung, den prächtigen Kulturbestand indigener Gruppen zu rekonstruieren. Infolgedessen werden stereotype Zuschreibungen sowie in der Gesellschaft herauskristallisierte Vorurteile allmählich aber dauerhaft abgebaut.Der dritte Bereich, auf den sich eine symbolische Rekonstruktion Brasiliens vollstreckt, entspricht dem Handlungsfeld der Frauenbewegung. Auch hier wurde ein essentialisiertes Bild der Frau in der Geschichte Brasiliens geprägt, nach welchem die Frau als ein Nicht-Subjekt dargestellt wird, das über kein autonomes aktives Handlungsfeld bzw. keine eigenen Lebensziele verfugt. Erst wenn sie das Bezugs- und Wunschobjekt eines Mannes, also das Mittel zum männlichen Zweck, würde, könnte sie sich selbst verwirklichen.
Die oben erwähnte Ideologie der ethnischen Demokratie setzt ein solches Frauenbild voraus, denn die gelobte Vermischung hätte erst stattfinden können, wenn die passive nichtweiße Frau sich den weißen Männern freudig hingebe. So wäre es mit den Indianerinnen gewesen, auf die die Portugiesen lustvoll zukämen, sobald sie die brasilianischen Böden berührten. Auf die brünette Indianerin hätten die Portugiesen, so Freyre, ihre ausgeprägte Vorliebe zur dunkelhäutigen maurischen Frau übertragen, die sie seit der Okkupierung Portugals durch die Mauren in ihrem Blut und ihrer Seele trugen. Später käme die schwarze Sklavin dran: Sie würde zum Objekt der sexuellen Orgien der weißen Männer, während die weißen Frauen zu Hause in Portugal ihr puritanisches Leben fuhren dürften.
In der gegenwärtigen brasilianischen Gesellschaft stehen sich politisch zwei Frauenbilder gegenüber. Auf einer Seite wird versucht, das historisch formierte Image einer leichtsinnigen Frau weiterzuführen und zu instrumentalisieren. Nun wurde die immer verfügbare Brünette eine virtuelle, halbnackte, gefärbte Blondine, die die Medien und die neuen Samba-Gruppen vermarkten. Andererseits wird das Ideal einer Frau konstruiert und zum Teil verwirklicht, die sich von den Männern emanzipiert, um ihre eigenen Wünsche und Ziele zu formulieren. Diese Frau ist selbstreflektiert und verfügt über mit den Männer vergleichbare professionelle Fähigkeiten. Ein solches Frauenbild entstand in Rahmen jüngerer Transformationsprozesse, die in Gang gesetzt wurden, als die Frauen begannen, sich noch in den 70er Jahren politisch zu organisieren. Die ersten Organisationsversuche gab es in den Wohnorten und wurden stark von der katholischen Kirche gefördert. Dabei hatte die Kirche die neuen urbanen Gruppen, die in den 60er und 70er Jahre massiv vom Land in die Stadt migrierten, als Zielgruppe. Die Frauen wurden zu den wichtigsten Trägern der Stadtteilorganisationen, die für die Verbesserung der Lebensqualität in Stadtrandbezirken eintraten. Dabei gingen sie noch von ihrer traditionellen Rolle als Mutter und/oder Ehefrau aus, die sich iür einen Schulplatz für ihre Kinder oder für einen Busanschluß für den erwerbstätigen Mann einsetzen. Gleichzeitig erfolgten ein wachsender Einstieg der Frauen in den Arbeitsmarkt und eine engere Zusammenarbeit mit Frauenorganisationen der Mittelschicht, die stärker von der europäischen und US-amerikanischen Frauenbewegung beeinflußt waren. Damit verändern sich die ersten pragmatischen Organisationen: Sie wurden zu politischen Akteuren, die dazu beitrugen, die Rolle der Frau in der brasilianischen Gesellschaft neu zu denken und das Selbstwertgefühl der Frauen zu fordern.
Im Laufe der 80er Jahre erfolgte der Institutio-nalisierungsprozeß der Bewegung und die Aufnahme ihrer Forderungen in die Parteienprogramme und in die Sozialpolitik: So wurden Polizeistellen gegründet, die sich ausschließlich mit Gewalt gegen Frauen beschäftigen, zahlreiche spezielle Gesundheitsprogramme, in denen die Frauen im Mittelpunkt stehen oder auch ein Quotensystem, das die Bewerbung von Frauen um politische Ämter fordern sollte. In den 90er Jahren läßt sich eine starke Tendenz zur Profes-sionalisierung bzw. internationalen Netzwerkbildung konstatieren. Damit verliert die Bewegung die breite soziale Basis der Anfangsphase, wobei einige der sozialen Innovationen, die die organisierten Frauen mit sich brachten, bereits in die brasilianische Gesellschaft einverleibt wurden. Immer mehr wird das Beziehungsschema starker Mann/unterdrückte Frau durch gleichberechtigte Verhältnisse ersetzt. Schließlich sind die Männer aus wirtschaftlichem und emotionellem Grund auch nicht mehr in der Lage, in einer komplexen und unübersichtlich gewordenen Welt die Rolle des belastbaren Schutzherren zu spielen.
Der letzte Bereich, in dem sich ein symbolischer Kampf entfaltet, bezieht sich auf das Verhältnis zur Umwelt. Schon in den ersten Phase der portugiesischen Kolonisierung wurde der Mythos konstruiert, daß Brasilien eine prächtige und unerschöpfliche Natur besitzt, deren Naturressourcen unendlich und unbedenklich ausgebeutet werden könnten. Bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein war diese Darstellungsform vorherrschend; so lange blieb der Modernisierungswahn die ideologische Gemeinsamkeit, die das gesamte politische Spektrum von der KP bis hin zu den Militärs kennzeichnete. Die Bestrebung, die unangetastete Natur zu bezwingen und sie für die Wirtschaft nützlich zu machen, wurde zu einer nationalen Zwangsvorstellung, die historisch immer wieder belebt wurde. Noch heute spielt die Modemisierungshoffnung eine wichtige legitimatorische Rolle. Sie steht hinter dem doppelten Wahlerfolg des jetzigen Präsidenten Cardoso und begründet ebenfalls die soziale Akzeptanz neoliberaler Reformen. Der Regierung ist es gelungen, Maßnahmen wie die Privatisierung staatlicher Unternehmen oder die Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse als Möglichkeit zu vermarkten, das Land zu modernisieren und weiterzuentwickeln.
Nichtsdestotrotz sind in den zwei letzten Jahrzehnten relevante Transformationen zu registrieren. Dank des internationalen Drucks drangen die ökologischen Fragen stark in die staatliche Agen-da ein. Zuerst paßte sich die nationale Regierung an, indem sie eine Umweltbehörde und die notwendige rechtliche Grundlage für den Umweltschutz schuf. Danach gründeten auch Landes- und kommunale Regierungen Instanzen, die sich mit Umweltfragen befassen. Auf der gesellschaftlichen Ebene konnte sich die ökologische Agenda aufgrund der verbreiteten Modernisierungswünsche nur mit Einschränkung durchsetzen. Andererseits entstanden zahlreiche Organisationen, die versuchen, das Konzept einer nachhaltigen Entwicklung als eine Möglichkeit zu verbreiten, Modernisierung und Umweltschutz miteinander in Einklang zu bringen, wobei die Versöhnung von Modernisierer und Umweltschützer bis jetzt nur auf der semantischen Ebene umsetzbar war. An dieser Stelle ist die Rolle der Staatsanwaltschaft für Umweltfragen hervorzuheben, die im Rahmen der 1988 erlassenen Verfassung eingeführt wurde. Die Staatsanwaltschaft konnte mehrmals ihre juristische Effektivität und politische Unabhängigkeit beweisen, indem sie immer wieder wichtige Bauvorhaben – viele davon von der Regierung konzipiert – einstellen ließ, weil diese den rechtlichen Parametern für Umweltverträg-lichkeit nicht entsprachen.
Insgesamt kann man feststellen, daß der Versuch, ein Umweltbewußtsein in Brasilien hervorzurufen, bis jetzt ambivalente Ergebnisse aufweist. Wenn es um die Veränderung etablierter Lebensmodi geht, zeigt sich die Bevölkerung der Umweltparole gegenüber sehr skeptisch. Verschwenderische Lebensstile gelten weiterhin als Inbegriff für individuellen und gesellschaftlichen Wohlstand. Handelt es sich allerdings um Aufrechterhaltung unberührter Naturteile, so läßt sich eine ausgeprägte soziale Sensibilität für die Umweltzerstörung feststellen. Das heißt, die historisch dominierende Anschauung, die Natur sei lediglich ein Ressourcenvorrat für die ökonomische Entwicklung, läßt nach. Damit rückt die Vorstellung in den Vordergrund, daß bestimmte Naturressourcen, wie das Amazonas- oder das Pantanalgebiet, nicht zur Disposition stehen.
Die hier kurz umrissenen symbolischen Transformationen gehen nicht unmittelbar mit materiellen Veränderungen einher. Unter der jetzigen Regierung wurde gegen alle Erwartungen keine relevante Umverteilungspolitik eingeführt, die anomische Gewalt erreicht alarmierende Proportionen, die schwarzen und indigenen Bevölkerungsteile und die Frauen werden noch ausgegrenzt und ungleich behandelt, der unverantwortliche Umgang mit der Umwelt wurde nicht gestoppt. Doch die beobachteten Veränderungen verweisen auf einen grundlegenden sozialen Wandel, dem im Rahmen einer demokratisch legitimierten Ordnung viel profunder als es bis jetzt geschah Rechnung getragen werden muß.
Es lebe weiterhin das ewige Land der Zukunft – Brasilien!*
Sérgio Costa, promovierter Soziologe, ist Dozent am Lateinamerika-Institut der FU Berlin