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Sie arbeiten auf der Straße

Maureen Hays Mitchell | | Artikel drucken
Lesedauer: 8 Minuten

Aus Demetria Montero de Coloniós vom Wetter gegerbten Gesicht blicken durchdringende Augen. Vier Jahrzehnte Arbeit zur Ernährung der Familie konnten diese Augen nicht abstumpfen. Demetria, weithin bekannt als „Mamita“, ist eine ambulante (Straßenhändlerin), die ihren Lebensunterhalt durch den Verkauf von Gemüse entlang der Calle Mantaro verdient. Die ständig überfüllte Straße liegt im Marktviertel von Huancayo, dem größten Handelszentrum im Mantaro-Tal im zentralperuanischen Hochland. Trotz vieler Kämpfe und Rückschläge setzt Mamita die jahrhundertealte Tradition des Straßenhandels in Peru fort, indem sie ihre vier ältesten Töchter und ihre junge Schwiegertochter in die Regeln des Handels einweist. Diese wiederum lehren ihre jüngeren Schwestern und ihre eigenen Kinder, das Geschäft zu führen, das für die Familie zur Überlebensstrategie und Quelle des Stolzes geworden ist.

Das Beispiel der Coloniós zeigt, daß Straßenverkauf in Huancayo oft als Familienunternehmen organisiert ist. Zwei der Töchter, Yolanda und Paula, und ihre Schwägerin Carmen verkaufen regelmäßig mit Mamita Gemüse auf der Calle Mantaro. In einer benachbarten Straße verkauft eine andere Tochter choclo, eine flache, langkörnige Maissorte. Eine weitere Tochter ist mit ihrem Ehemann nach Satipo gezogen, ein gerade besiedeltes Gebiet im peruanischen Dschungel entlang dem östlichen Hang der Anden, wo auch sie als Straßenverkäuferin arbeitet. Sie beliefert ihre Familie in Huancayo mit tropischen Früchten. Jedes Jahr im Juli und August kehrt sie zu ihrer Mutter und ihren Schwestern zurück, um gemeinsam mit ihnen zu verkaufen.

Der Tag beginnt für Mamita und ihre Töchter lange vor Sonnenaufgang. Zuerst gehen sie zum Großhandel, um dort günstig frisches Gemüse einzukaufen. Dabei werden sie oft von einem oder zwei benachbarten Händlern begleitet. Denn sie haben gelernt, daß sie ihre Kaufkraft erhöhen, wenn sie zusammenarbeiten. Nachdem die Frauen ihre Auswahl getroffen haben, mieten sie einen transportista, einen Transportunternehmer, der ihre Waren auf einem Lastdreirad in die Calle Mantaro fährt. Dort angekommen, teilen die Frauen ihre Waren auf, statten damit ihre Stände aus und sind um sieben Uhr bereit, die ersten Käufer zu empfangen. Die Coloniös haben einen entscheidenden Vorteil gegenüber ihren Konkurrenten. Mamitas Ehemann Antonio baut jeden Morgen ihre vier Stände auf, bevor er zu einer Gelegenheitsarbeit als Maurer geht, während die vier Frauen im Großhandel einkaufen. Genau wie seine Frau und seine Töchter ist er Teil des informellen Sektors. Wenn die Frauen

vom Markt kommen, sind die Stände fertig zum Einrichten. Sie müssen bloß die frischen Waren und den Rest vom Vortag einsortieren. Am Abend kommt Antonio zurück, um beim Abbau der Stände zu helfen. Als Mamita von ihrem Ehemann spricht, sagt sie: „Einige Männer helfen ihren Frauen überhaupt nicht. Sie überlassen ihnen die Kinder und den Verkauf. Aber nicht mein Antonio.“

Wenn Mamita und ihre Töchter ihre Auslagen vorbereiten, verteilen sie die Waren so, daß jeder Stand ein anderes Angebot hat. Gewöhnlich kaufen die Coloniös nicht mehr als vier oder fünf verschiedene Gemüsesorten. Mamita verkauft Kohl, Karotten und Tomaten; Paula hat sich auf Zwiebeln spezialisiert; Yolanda handelt mit Tomaten, Knoblauch und verschiedenen Paprikasorten; Carmen verkauft Karotten und Tomaten. Wenn eine Gemüsesorte schlecht zu werden droht, beginnen die Frauen, sie schneller zu verkaufen. Zusammen legen die Frauen die Preise nach der Summe fest, die sie an den Großhändler gezahlt haben. Haben sich andere Händler am Kauf beteiligt, nehmen sie an der Festlegung teil. Diese Einrichtung führt zu einem interessanten Phänomen: Jeder Kunde, der beim Einkauf entlang dieses Abschnittes der Calle Mantaro die Preise vergleicht und einen Verwandten oder Partner Mamitas fragt, wird dieselben Preise finden. Würde er ein bißchen weitergehen und einen anderen Abschnitt betreten, würde er wahrscheinlich andere Preise feststellen.

Die Erfahrung hat Mamita gelehrt, daß Kunden oft nur Gemüse auswählen, das ansprechend aussieht. Deshalb polieren die Colonios ihr Gemüse sorgfältig, stapeln es akribisch und sprühen es oft ab. Ihre in der Sonne glänzenden Auslagen ziehen die Aufmerksamkeit der Kunden an. Und wenn die Auslagen es nicht tun, schaffen es ihre Ausrufe in Quechua oder Spanisch.

Manchmal beginnen die Colonios lebhafte Neckereien mit ihren Nachbarn: „Tomaten, leckere, saftige Tomaten! Frische Tomaten, keine aus dem letzten Jahr!“ Anfangs mag dieser Austausch von Neckereien einem Fremden aggressiv vorkommen, aber die friedliche, gutartige Natur des Spiels wird bald offenbar. Und wenn nichts anschlägt, wird für ein kleines Entgeld der Zauberer engagiert, ein zerzauster älterer Mann oder eine Frau. Diese sollen den Händlern Glück bringen, indem sie die Stände und deren Waren mit einer Lederpeitsche oder einem Büschel gelber, blühender Rauten schlagen. Wenigstens helfen diese Praktiken den ambulantes, die langen, schleichenden Stunden zu überbrücken.

Für die Colonios liefert der Straßenhandel nicht nur das Einkommen, sondern er hält auch die Familie zusammen. Die vier Stände in der Calle Mantaro sind das Nervenzentrum des Clans. Mamita und ihre älteren Töchter benutzen die Adressen ihrer Stände als ihre Heimatadressen, so daß ihre Kinder die Schule in der Nähe der Arbeit ihrer Mütter besuchen können. Mamitas jüngere Kinder und ihre Enkel kommen auf dem Schulweg vorbei und nehmen sogar ihre Mahlzeiten hier ein. Man kann sie oft auf einem Haufen von Stoffsäcken sitzen und ihre Hausaufgaben machen sehen. Während der geschäftigeren Stunden des Tages entwickelt sich eine Art Tages-Betreuungssystem, in welchem die Schwestern der Reihe nach die Aufsicht über die Kinder übernehmen. Die Kinder verbringen soviel Zeit hier, daß sie die Stände manchmal als ihr Zuhause bezeichnen. Das familiäre Netzwerk in der Calle Mantaro ist eine interessante Mischung aus individuellem und gemeinschaftlichem Unternehmen. Während jede Frau für sich selbst arbeitet, teilen sich die Frauen jedoch einzelne Schritte ihrer Arbeitsgänge, und jede unterstützt bereitwillig die andere. Als Carmen nach der Geburt ihres Sohnes 1986 ihre Arbeit in einer Pulloverfabrik aufgab, beschloß sie, wie ihre Schwägerinnen als ambulante zu arbeiten. Ihr Ehemann baute ihr einen kleinen Stand, ihre Schwägerin Yolanda finanzierte ihr die Standgebühr und Mamita deckte die anfänglichen Wareninvestitionen ab. Mamita, Yolanda und Paula zeigten ihr die Feinheiten des Straßenhandels. Als Paulas zweites Kind geboren wurd, und sie gezwungen war, acht Tage auszusetzen, dehnten Mamita und Yolanda ihre Stände aus, um Paulas Stände mitzubetreuen: Sie kümmerten sich um ihre Zwiebeln und bezahlten die tägliche Gebühr an die städtischen Angestellten.

Der Konkurrenzkampf hat sich verschärft, weil die Zahl der Händler auf den Straßen von Huancayo größer geworden sind. „Als ich das erste Mal hierher kam, waren wir wenige und verkauften gut“, erinnert sich Mamita. „Jetzt sind viel mehr Straßenhändler hier. Die Verkäufe gehen zurück und keiner verdient viel.“ Seitdem sie ihren Abschnitt in der Calle Mantaro mit 140 anderen ambulantes teilt, 85 davon verkaufen frisches Gemüse, hat sich ihre Gewinnspanne verringert. Unter dem Druck, ihre täglichen Einkäufe mit Bargeld zu finanzieren, um Kreditprobleme zu vermeiden, haben die Colonio-Frauen wenig Spielraum, ihr Geld für andere als die notwendigen Dinge auszugeben. Ihr durchschnittlicher Kalkulationsaufschlag beträgt ungefähr 20%, was es Mamita ermöglicht, ungefähr 20 Dollar am Tag einzunehmen. Wenn die Geschäftsausgaben abgezogen sind, bleiben weniger als drei Dollar übrig. Sogar dieses bißchen fordert von der Familie einen langen Arbeitstag. Sie betreut ihre Stände jeden Tag von sieben Uhr morgens bis sechs Uhr abends. Ihre besten Stunden liegen immer zwischen neun und elf. Für die wenigen übrigen Verkäufe sitzen sie an ihren Ständen und polieren Tomaten bis in die Abenddämmerung.

Zusätzlich zu den langen Stunden und der schlechten Bezahlung müssen die ambulantes mit den Gefahren der Straße fertigwerden. Weil die Vorräte und die Ausstattung jedes Standes ungefähr 120 Dollar wert sind, und weil Diebe zu jeder Zeit unterwegs sind, haben die Straßenhändler der Calle Mantaro 24-Stunden-Wach-männer gemietet, die das Gebiet überwachen sollen. Aber nicht einmal diesen können sie vertrauen. Die Wachmänner plündern oft die von den Straßenhändlern sorgfältig verschlossen zurückgelassenen Stände, oder sie geben die Stellung aus Angst um ihre eigene Sicherheit auf. In den letzten Jahren ist der „Leuchtende Pfad“ zu einer gefürchteten Macht im Tal geworden – eine neue Sorge für die Händler.

Der Straßenhandel ist für Mamita eine Art zu leben geworden, ungeachtet der Schwierigkeiten und Gefahren. Obwohl sich der finanzielle Druck etwas gelockert hat, arbeitet Mamita jeden Tag. Nach mehr als 40 Jahren Gemüseverkauf gefällt es Mamita besser, ihren Stand zu betreuen, als zu Hause zu bleiben. Mamita sagt, daß sie immer Straßenverkäuferin sein möchte. Trotz des harten Lebens hegt sie Hoffnung auf ein Weiterkommen ihrer Kinder und Enkel. Auch wenn viele Händler resigniert haben, ist Mamita stolz auf ihre Arbeit. Mit anderen ambulantes teilt sie das gemeinsame Bewußtsein über ihre besondere Rolle in der städtischen Wirtschaft. Sie ist auch wettbewerbsfähig und zeigt unternehmerischen Geist. Sie gesteht ein, lieber als ihr eigener Chef zu arbeiten, als von einem Lohn abhängig zu sein. „Wir sind nur für uns selbst verantwortlich“, sagt sie. „Und wenn der Verkauf gut gelaufen ist, bekommen wir das volle Geld für unsere eigene Arbeit.“

Mamitas Augen glänzen als sie hinzufugt: „Ich bin wie alle arbeitenden Mütter, die davon träumen, ein Geschäft mit ihren Kindern zu eröffnen, und ich habe es einfach getan. Ich bin jeden Tag von früh bis abends von meinen Töchtern und Enkeltöchtern umgeben. Ich lehre sie, stolz auf ihre Arbeit und ihre Fähigkeiten zu sein. Ich weiß keine andere Möglichkeit, meinen Lebensunterhalt zu verdienen, aber diese ist in Ordnung., weil ich sie mag.“

aus: Grassroots Development 13/1 1989

Übersetzung: Anke Piehozki

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