Bolivien hat im Laufe seiner Geschichte fast 1,3 Millionen km² Land verloren, mehr als die Hälfte seines ursprünglichen Staatsgebietes. Alle Nachbarn holten sich irgendwann die Landstriche, die sie haben wollten, ohne dass Bolivien etwas dagegen tun konnte. Doch der härteste, nachgerade traumatische Verlust betrifft eine eher kleine Fläche, die das Land 1884 im Ergebnis des verlorenen Salpeterkriegs an Chile abtreten musste. Dieser Landverlust raubte Bolivien seinen direkten Zugang zum Meer. An diesem Stück Wüste mit angrenzendem Ozean hängt inzwischen der nationale Stolz der Bolivianer. Jedes Jahr am 23. Februar begehen sie den Tag des Meeres. Und sie halten sich bereit für den Fall, dass die bisher vergeblichen Bemühungen, den Zugang zum Meer zurückzugewinnen, von Erfolg gekrönt werden: Bolivien unterhält eine nicht eben kleine Marine.
Der Film „Verlorener Horizont“ von Emma Rosa Sima und Robert Bohrer wirft einen Blick auf den Umgang Boliviens mit diesem besonderen Trauma. Der Zuschauer lernt die stolze Armada des Landes am Tag des Meeres kennen, der groß gefeiert wird – der Präsident und der Vizepräsident sind anwesend, und vermutlich die halbe Ministerriege. Präsident Evo Morales betont in seiner Rede, dass Bolivien ein friedliches Land sei, aber es brauche einen Zugang zum Meer. „Die größte Sehnsucht Boliviens“, so erfährt man im Film immer wieder, ist es, „ans Meer zurückzukehren“. Und in diesem Sinne defilieren in La Paz alle stolz an der Präsidententribüne vorbei: Schüler jeden Alters, Bergleute, Vertreter indigener Gemeinschaften. Es gibt uniformierte Kinder mit Spielzeugwaffen ebenso wie im Stechschritt marschierende Indigene. Doch der Höhepunkt sind zweifellos die Marineangehörigen, 1.800 gibt es wohl davon. Einige von ihnen kann man in diesem Film kennenlernen. Die jungen Frauen zum Beispiel, die in weißen Paradeuniformen an dem Marsch teilnehmen. Oder auch die Rekruten, die bei ihrer Ausbildung beobachtet werden. Ich weiß jetzt, dass ein Kampftaucher in Bolivien einen persönlichen Kampfschrei besitzt und dass ein Angehöriger der Armada das Schweben beherrschen muss – im Wasser natürlich.
Doch Trauma hin oder her, die Bolivianer nehmen den Kampf ums Meer offenbar eher gelassen. Der Film vermittelt diese Gelassenheit auf sehr sympathische Weise, ernsthaft und mit einem Augenzwinkern. Die jungen Rekruten sind nicht eben stolz darauf, zur Marine zu gehören. Viele von ihnen wollten eigentlich zur Luftwaffe. Auch die militärischen Disziplin sehen sie recht locker: Es gibt eine wirklich schöne Szene, in der ein Rekrut beim Antreten in aller Ruhe weiter in seinen Apfel beißt und diesen erst in der Tasche seiner Uniformjacke verschwinden lässt, als sich der Vorgesetzte nähert. Die jungen Soldatinnen maulen, weil sie zu große Mützen für die Parade bekommen, amüsieren sich ansonsten aber köstlich. Und die Offiziere, die leicht gequälte Mienen zeigen, als ihre künftigen Rekruten sich weinend von ihren Müttern verabschieden, scheinen sich irgendwie in ihr Schicksal zu fügen. So versucht einer zwar hartnäckig, seine Truppe in eine exakte Marschformation zu bringen, aber angesichts des Gammelhaufens, der sich ihm immer wieder präsentiert, bleibt er erstaunlich ruhig. Und der preußische Stechschritt mag ja im im bolivianischen Militär immer noch gepflegt werden, aber Bolivianer sind zum Glück keine Preußen: Allzu zackig muss diese alberne Gangart nun wirklich nicht ausfallen.
Wie der Film zeigt, mag die Verwirklichung der „größten Sehnsucht Boliviens“ wichtig sein, aber doch nicht sofort. Schließlich, so ein Rekrut, ist Bolivien noch gar nicht in der Lage, die Rohstoffe der Wüste auch abzubauen und das Meer zu nutzen. Der Steuermann auf der MS Mosoj Huayna, dem Flaggschiff der Marine auf dem Titicacasee, das eher einem Ausflugsdampfer gleicht, findet denn auch den Status quo ganz in Ordnung, denn „Salzwasser ist wirklich nicht besonders angenehm“.
Verlorener Horizont (Deutschland/ Bolivien 2013), Regie: Emma Rosa Sima und Robert Bohrer
Bildquellen: [1], [2] Snapshots