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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Interview mit Víctor Montoya

Franziska Näther | | Artikel drucken
Lesedauer: 10 Minuten
Interview mit Víctor Montoya (219 Downloads )

„El Tío de la mina ist Teil meines Lebens und meines Werkes”

In deinem Buch „Cuentos de la mina“ schreibst du in einem sehr persönlichen Stil über die Mythologie der Bergleute. Seit wann beschäftigst du dich mit den Legenden und Mythen der bolivianischen Bergarbeiter?

Seit ich begann, Geschichten über el Tío de la mina, eine diabolische Figur, die in den Mythen und Legenden der Bergarbeiter vorkommt, zu schreiben. So haben diese faszinierenden Themen der andinen Kultur, die mich mein ganzes Leben lang begleitet haben, auf natürliche Weise ihren Weg in mein literarisches Werk gefunden. Vielleicht, weil diese Themen von einem Schriftsteller erzählt werden müssen, der die Lebenswelt der bolivianischen Bergarbeiter aus der Nähe kennt. Nicht nur aus sozioökonomischer, sondern auch aus der anthropologischen und kulturellen Perspektive, da die Mythen und Legenden Bestandteil der Volkskultur und der mündlichen Überlieferung sind.

Du weißt viel über die Lebenswelt und Not der Bergarbeiter und auch über die Geisterwelt der Minen, da du aus einer Bergarbeiterfamilie stammst. Worin besteht für dich die Bergarbeiterkultur?

Los mineros en el paraje del Tío. Foto: Jean-Claude WickyDie Bergarbeiterkultur ist der bolivianischen Kultur im Allgemeinen nicht fremd; im Gegenteil, sie ist lediglich ein Teil von ihr, auch wenn sie ihre Besonderheiten und eigenen Bräuche hat. Zum Beispiel der Glaube an eine mythologische Figur wie el Tío, der, laut Volksglauben, der Herr der Bergleute und der Beschützer der Erzreichtümer ist. Die Bergarbeiterkultur, die sich aus der westlichen Kultur und den indigenen Kulturen zusammensetzt, äußert sich zum Beispiel durch den religiösen Synkretismus aus christlichen und uralten heidnischen Glaubensvorstellungen. Sie eignet sich seit der Kolonialzeit die Bräuche der Eroberer aus dem Abendland an und bewahrt gleichzeitig die kulturellen Bräuche der andinen Zivilisationen. In den Bergbaudörfern findet wie im restlichen Land eine Vermischung statt, die eine Kultur entstehen lässt, die reich an Folklore und an magisch-religiösen Riten ist.

Die Hauptfigur deiner Geschichten ist el Tío, Gottheit der Bergarbeiterkultur. Was bedeutet el Tío für das andine Weltbild?

El Tío, eine der authentischsten Gottheiten der Bergbauwelt, drückt die tiefsten Gedanken und Gefühle der Arbeiter unter Tage aus. El Tío ist im andinen Weltbild der höchste Repräsentant des Guten und des Schlechten. Er ist Gott und Teufel zugleich. Die Bergleute fürchten sich vor ihm und verehren ihn, indem sie ihm Zigaretten, Kokablätter und Schnapsflaschen darbringen. Man sagt, el Tío sei gütig zu denen, die ihm Respekt und Freundlichkeit entgegenbringen, und grausam und rachsüchtig mit jenen, die ihn mit Gleichgültigkeit und Verachtung behandeln. Die Menschen sind davon überzeugt, dass el Tío, wenn er zufrieden und glücklich ist, großzügig sein und dem Bergmann die reichste Zinnader zeigen kann, aber wenn er beleidigt ist, dessen Tod in den Stollen verursachen kann. Somit ist el Tío, mit Attributen eines mythologischen Wesens, eine der wichtigsten Gottheiten des andinen Weltbildes. Er erfüllt die Funktion eines Schutzgottes im Inneren der Mine und die Bergleute setzen all ihre Hoffnung in ihn.

Du hast eine Statuette des Tío zu Hause, und sie begleitet dich seit vielen Jahren in Schweden. Könnte man sagen, dass du eine sehr emotionale und starke Bindung zu el Tío hast?

Ja, auch wenn es seltsam erscheinen mag, ich habe eine sehr besondere Beziehung zu el Tío. Das geht sogar so weit, dass es mir nicht genügte, ihn zu einer der Hauptfiguren meines Werkes zu machen, sondern ich musste mir auch eine Statuette von el Tío aus Bolivien schicken lassen. Vielleicht, um eine emotionale oder existenzielle Leere zu füllen. Er steht jetzt in meinem Haus, wo ich ihm mindestens einmal im Monat Zigaretten, Koka und Alkohol darbringe. El Tío trat an dem Tag in mein Leben, als mir mein Großvater mütterlicherseits , während über den Hügeln ein schreckliches Unwetter niederging, zum ersten Mal die Legende von el Tío erzählte: „Man sagt, dass der Teufel in einer Gewitternacht zu den Minen kam”, sagte er, während ich ihm mit Staunen und Entsetzen lauschte. Seitdem verfolgt mich el Tío, wohin ich auch gehe. El Tío de la mina ist Teil meines Lebens und meines Werkes. Manchmal habe ich das Gefühl, dass er in mir lebt, als wäre er mein eigener Geist. Denn es gibt Nächte, in denen ich ihm sogar im Labyrinth der Albträume begegne und er mich auffordert, ihn nicht zu vergessen und eine Geschichte mit ihm als Hauptfigur zu schreiben. Wie findest du das?

Auch andere sehr wichtige Symbole der Bergarbeiterkultur wie Koka und Karneval spielen in „Cuentos de la mina“ entscheidende Rollen. Den Karneval beschreibst du als sehr alten Ausdruck einer synkretistischen Kultur. Warum?

Weil es die Wahrheit ist. Es ist richtig, dass ich in meinen „Cuentos de la mina” neben der Schilderung der tragischen Situation der Arbeiter und ihrer Familien mehrere Symbole des andinen Weltbildes und einige der am tiefsten verwurzelten Traditionen der bolivianischen Folklore aufgreife. Wie den prächtigen Karneval von Oruro, dessen Ursprung bis in die Kolonialzeit zurückreicht, als die Bergarbeiter – oder die mitayos von damals – beschlossen, sich zu Ehren von el Tío als Teufel zu verkleiden. Danach tanzten sie als Handlung der Unterwerfung und Verehrung in Gegenwart der Candelaria – oder Virgen del Socavón -, die der Legende nach auf wundersame Weise in einer Höhle des Cerro Pie de Gallo erschien, den Tanz der Diablada. Der bolivianische Karneval, der noch gewisse Reminiszenzen an das mittelalterliche Europa hat, zeichnet sich dadurch aus, dass er die kulturelle Vermischung und den religiösen Synkretismus zwischen dem monotheistischen Katholizismus und dem Polytheismus der präkolumbischen Zivilisationen darstellt. Daher ist es kein Zufall, dass die Teufel, die in ihrem Aussehen und Verhalten el Tío darstellen, als eine Art der Verehrung für die Virgen del Socavón tanzen. Es scheint ein Widerspruch zu sein, aber beim Karneval verschmelzen der Teufel und die Jungfrau wie zwei Elemente, die sich trotz ihrer Unterschiede im Modus vivendi der Bewohner des bolivianischen Hochlandes vereinigen.

Obwohl du seit 1977 in Schweden lebst, findet sich die Bergbauthematik in vielen deiner Bücher wieder. Ist sie deine Verbindung zu Bolivien?

Tatsächlich, obwohl ich seit vielen Jahren in Schweden lebe, habe ich niemals aufgehört, an Bolivien zu denken. Und ein großer Teil meiner Literatur porträtiert neben der Thematik des Bergbaus die Tausend Gesichter dieses vielseitigen Landes, wo sich die politischen Prozesse mit dem alltäglichen magischen Realismus verbinden. Mehr noch, ich sage immer, dass ich ein Bolivien in mir trage und es überallhin mitnehme, als wäre es ein tragbares Land. In diesem Sinne stellt die Literatur meine Verbindung zum Land dar, wenn auch nur durch das Schreiben und die Vorstellungskraft.

Bist du der einzige Schriftsteller, der sich der Thematik des Bergbaus widmet, oder gibt es in Lateinamerika eine Bergbau-Literatur?

Víctor Montoya: Cuentos de la minaIn Lateinamerika gibt es mehrere Schriftsteller, die, schon lange bevor man das System der kapitalistischen Produktion kannte, über die Thematik des Bergbaus geschrieben haben. In Bolivien existieren wie wohl in keinem anderen Land des Kontinentes Romanautoren, Geschichtenerzähler und Dichter, die sich von der dantesken Realität der Minen inspirieren ließen, um ihre Werke zu schaffen. Interessant daran ist, dass die Mehrheit dieser Schriftsteller in ihrem Streben, die sozialen Ungerechtigkeiten anzuprangern und die Rechte der Arbeiter einzufordern, Werke im Rahmen des sogenannten „sozialen Realismus” geschaffen haben. Ohne jedoch den Mythen und Legenden, die gerade das sind, was ich versucht habe, in meinem Werk zu bewahren, größere Bedeutung einzuräumen. Dieses Interesse, mich dem magischen und mythischen Universum der Minen anzunähern, ist es, was mich vom Rest der bolivianischen und lateinamerikanischen Autoren unterscheidet.

Bolivien hat sich in den letzten Jahren sehr verändert. Verfolgst du die Geschehnisse in Bolivien?

Ja. Dank der Medien – Zeitungen, Radio, Fernsehen und Internet -, wo man eine beeindruckende Menge an Informationen über Bolivien finden kann, bin ich auf dem Laufenden. Ich habe den Eindruck, dass wir, die wir im Ausland leben, oftmals besser informiert sind, als die Personen, die im Land leben. Also, es stimmt, dass es in den letzten Jahren grundlegende Veränderungen zugunsten der verarmten und ausgegrenzten Mehrheit gegeben hat. Die simple Tatsache, dass es zum ersten Mal in der Geschichte einen Präsidenten indigener Abstammung gibt, ist für ein Land wie Bolivien, wo die Indigenen seit der Kolonialzeit immer im Dienst einer privilegierten Minderheit von Kreolen und Mestizen, die aufgrund eines göttlichen Mandats die wirtschaftliche und daher die politische Macht kontrollierten, standen, sehr bedeutsam.

Gibt es für dich mehr als ein Bolivien? Ein Bolivien deiner Erinnerungen und ein gegenwärtiges mit all den Veränderungen, die sich gerade ereignen?

Das Bolivien meiner Erinnerungen, das ich vor mehr als dreißig Jahren, als ich ins Exil ging, zurückließ, unterscheidet sich ziemlich vom gegenwärtigen Bolivien. Es gibt keine Militärdiktatur mehr und das Volk erlebt dank der Sozialkämpfe der Arbeiter, Studenten und Landwirte einen revolutionären und demokratischen Prozess. Dieser politische Prozess, der nicht wie zuvor die Indigenen und die verarmten Teile des Landes und der Städte ausschließt, setzt alles daran, eine andere Nation zu schmieden als die, die ich aus der Vergangenheit in Erinnerung habe. Die gegenwärtige Regierung, die von den Wählern wiedergewählt wurde, holt sich die natürlichen Reichtümer aus den Händen des Imperialismus zurück und formt einen Nationalstaat, der die direkte Partizipation der Bürger erlaubt, die entscheiden müssen, welche Richtung das Land in Zukunft einschlagen soll. Ich hoffe, dass sich dieser bahnbrechende Prozess verfestigt, das große Privateigentum abgeschafft, die Ausbeutung des Menschen durch andere Menschen verboten und eine Gesellschaft geschaffen wird, wo alle dieselben Rechte und Pflichten haben.

Womit beschäftigst du dich momentan und über welche Themen schreibst du?

Seit einigen Jahren widme ich mich ausschließlich der Literatur. Ich habe aufgehört, als Dozent zu arbeiten, um mich der Literatur zu widmen, obwohl ich wusste, dass es nicht leicht sein würde, von diesem Beruf zu leben. Momentan habe ich verschiedene Projekte im Kopf, und die Bergbauthematik ist nach wie vor einer der Hauptpfeiler meines literarischen Schaffens. Ich habe weder aufgehört über die Bergleute noch über el Tío zu schreiben, der eine der faszinierendsten Figuren meines Werkes ist. Es wäre nicht verwunderlich, wenn el Tío eines Tages ein Eigenleben entwickeln und sich wie jeder leibhaftige Sterbliche bewegen würde. So wie so viele literarische Figuren, die, nachdem sie der Fantasie eines Schriftstellers entsprungen waren, einen privilegierten Platz unter uns eingenommen haben, als hätte es sie tatsächlich gegeben.

Jede Kultur leistet einen Beitrag. Welcher wäre der Beitrag Boliviens zur Welt und welcher der der Welt für Bolivien?

Es steht außer Frage, dass Bolivien als multikulturelles Land, das reich an Folklore und natürlichen Ressourcen ist, der Welt viel zu bieten hat. Man muss dieses magische und geheime Land entdecken, um zu begreifen, dass es eine uralte Tradition besitzt, die in den offiziellen Geschichtsbüchern nicht vorkommt, aber im kollektiven Gedächtnis und der mündlichen Überlieferung bewahrt wird. Bolivien ist ein Land gewesen, das im lateinamerikanischen und weltweiten Kontext ungerechterweise zurückgeblieben ist, obwohl es immer schon, seit Zeiten der spanischen Eroberung, die Welt im Gegenzug für Armut mit Reichtümern versorgt hat. Trotzdem hat Bolivien nach wie vor viel zur weltweiten Wirtschaft und Kultur beizutragen. Im Integrationsprozess der Völker des Kontinents ist es ebenso bereit, Beiträge (bei sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Themen) der anderen Länder in dieser zunehmend globalisierten Welt zu übernehmen, jedoch unter der Bedingung, dass seine kulturelle Vielfalt und nationale Souveränität respektiert wird. Ich denke, dass jedes Land viel geben und nehmen kann, sofern dieser Austausch gerecht ist und abseits der schäbigen Interessen der großen imperialistischen Monopole und der vorherrschenden kapitalistischen Kulturen, die im Guten oder im Bösen eine Denkweise und Lebensform aufzwingen wollen, stattfindet.

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Die Originalversion auf Spanisch findet sich hier.

Übersetzung aus dem Spanischen: Monika Grabow

Bildquelle: Jean-Claude Wicky_. Fotos veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von Víctor Montoya.

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