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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Plurinationales Argentinien? Indigene Renaissance vs. weißen Gründungsmythos

Peter Gärtner | | Artikel drucken
Lesedauer: 5 Minuten

Argentinien: Indigene in Quebrada de Humahuaca - Foto: Quetzal-Redaktion, mgArgentinien gilt als das am stärksten europäisch geprägte Land Lateinamerikas. Dies zeigt sich sowohl im Selbstverständnis der meisten Argentinier als auch in der Fremdwahrnehmung seiner Nachbarn. Wer die Hauptstadt Buenos Aires als Tourist besucht, fühlt sich eher in Südeuropa als in Südamerika. Das Spanisch der Argentinier bezeugt den starken Einfluss italienischer Immigranten, die – wie andere Europäer auch – den Grundstock einer „weißen Nation“ bilden sollten. Dies war das erklärte Ziel der staatlich forcierten Einwanderungspolitik, die seit den 1870er Jahren damit warb, dass riesige, unbewohnte Landflächen auf ihre Besiedlung warteten. Bis zu Beginn des Ersten Weltkrieges 1914 folgten dem über fünf Millionen Menschen, von denen fast drei Millionen blieben und zu neuen Argentiniern wurden. Gegenüber 1880 verdreifachte sich die Bevölkerung des Landes auf 8.253.097 Einwohner. Die boomende Agrarexportwirtschaft und britisches Kapital machten Argentinien zu einem „reichen Land“, das den Vergleich mit den wohlhabenden europäischen Nationen nicht zu scheuen brauchte.

Dies war aber nur die eine, helle Seite der Medaille. Die dunkle Seite des nationalen Gründungs­mythos Argentiniens bildet der Völkermord an den ursprünglichen Bewohnern des Landes. Mit der „Eroberung der Wüste“ begann ab 1876 die militärische Unterwerfung der indigenen Bevölkerung sowohl der Pampa und Patagoniens im Süden als auch des Chaco im Norden, die 1884 mit dem Sieg der argentinischen Armee endete. Wer seitens der Verlierer nicht gleich getötet worden war, fiel später Hunger, Durst, Krankheiten, Zwangsarbeit, der Kälte oder den Vertreibungen zum Opfer. 3.000.000 km² „freies“ Land konnten nun erschlossen werden, wovon vor allem die Großgrundbesitzer profitierten. Im nationalen Bewusstsein kamen die Ureinwohner fortan nicht mehr vor, zumal die Überlebenden des Genozids sich angesichts der staatlichen Übermacht als „Unsichtbare“ bessere Chancen ausrechneten. Noch immer wissen 80 Prozent der Argentinier nicht, dass in ihrem Land heute auch indigene Völker leben.

Das 1985 gegründete staatliche Instituto Nacional de Asuntos Indígenas (INAI) hat offiziell 31 indigene Völker „registriert“. Beim letzten Zensus 2010 wurde die Zahl der indigenen Bevölkerung mit 955.032 angegeben, das entspricht 2,4 Prozent der Gesamtbevölkerung von über 40 Millionen. Die Mapuche (205.009), die Toba (126.967) und die Guaraní (105.907) sind mit jeweils über 100.000 Angehörigen die drei größten indigenen Ethnien des Landes. Über vier Fünftel der argentinischen Indigenen leben im urbanen Milieu. Mit der Verfassungsreform von 1994 wurde die ethnische und kulturelle „Vorexistenz“ der indigenen Völker endlich konstitutionell anerkannt. Im Jahr 2000 folgte dann die Ratifizierung der Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), die wichtige Rechte der indigenen Völker beinhaltet. Dieser Wandel der staatlichen Politik von der Ignoranz zur Akzeptanz ist jedoch nicht vom Himmel gefallen. Er war einerseits das Ergebnis des kontinentalen wie internationalen Kampfes der indigenen Völker um Anerkennung, andererseits das Resultat des politischen Handelns der argentinischen Indigenen selbst.

Nach ersten ethno-politischen Organisationsversuchen, die 1968 begannen, kam es am 12. Mai 2003 im Rahmen der allgemeinen sozialen Mobilisierung der argentinischen Bevölkerung gegen die Wirtschafts- und Finanzkrise und unterstützt vom Fondo Indígena zur Gründung der Organización Nacional de Pueblos Indígenas de Argentina (ONPIA). Daneben bestehen noch andere Organisationen wie die 1975 gegründete Asociación Indígena de República Argentina (AIRA). Einen Höhepunkt politischer Mobilisierung bildete der Zusammenschluss im Consejo Plurinacional Indígena de Argentina (CPIA) am 20. Mai 2010, der von 30.000 Indigenen, die aus Anlass des 200. Jahrestages der Unabhängigkeit aus allen Teilen der Landes in die Hauptstadt marschiert waren, begeistert begrüßt wurde. Damals hatte Präsidentin Cristina Kirchner unter anderem versprochen, das indigene Gemeinschaftseigentum mit einem speziellen Gesetz juristisch anzuerkennen. In Zusammenhang mit einer Reform des Zivilrechts werden nun stattdessen die indigenen Rechte derart eingebunden und verwässert, dass der CPIA erneut zum Widerstand aufruft. Andere Konfliktfelder sind die Abholzung der Wälder, die Expansion der Sojamonokultur, der Raubbau an den natürlichen Ressourcen durch transnationale Bergbaukonzerne und Megaprojekte. Die indigenen Völker fordern zwar vehement die Einhaltung und Umsetzung ihrer Rechte ein, müssen aber zusehen, wie diese ausgehöhlt und in „tote Buchstaben“ verwandelt werden. Ähnlich wie im Nachbarland Chile soll ein „Anti-Terror-Gesetz“ den Widerstand brechen. Vorangetrieben wird die Aushebelung der indigenen Rechte durch die Provinzen, die dabei oft die Unterstützung der Zentralregierung finden.

All dies zeigt, dass der Gründungsmythos Argentiniens von der „weißen Nation“, deren Wurzeln in Europa liegen und deren „zivilisatorische Mission“ in der Urbarmachung einer menschenleeren „Wüste“ bestand, weiter fortwirkt. Seine stärkste Infragestellung erfährt dieser durch den zähen Widerstand der indigenen Völker, die einerseits darauf pochen, dass sie bereits Jahrtausende vor dem argentinischen Staat existierten, und die daraus andererseits ihre Forderung nach Mitsprache und gleichberechtigter Teilhabe ableiten. Dazu bedarf es jedoch eines grundsätzlichen Identitätswandels der Mehrheitsbevölkerung. Neben der Anerkennung der Existenz der mehr als 30 indigenen Völker, die innerhalb der argentinischen Grenzen leben, erfordert dies seitens des Staates und der Gesellschaft, die Verantwortung für den Völkermord zu übernehmen. Dass daran kein Weg vorbeiführt, belegen nicht nur die Neu-Gründung eines plurinationalen Staates im Nachbarland Bolivien, sondern auch die politischen Debatten um die nationale Identität in den Siedlerstaaten der „Anglosphäre“ (Australien, Kanada, Neuseeland), denen sich inzwischen selbst die USA nicht mehr entziehen können. Vielleicht findet sich dann in der nächsten Auflage von „Argentinien heute“ auch ein Beitrag über die indigenen Völker des Landes.

Bildquelle: Quetzal-Redaktion, mg

2 Kommentare

  1. Carlos sagt:

    …und was machen Eure Nazis in Sachsen ? Der Teutsche steckt seine Nase immer gerne in exotische Gebiete – wo man ihm aber gar nicht mag!

  2. El Cher sagt:

    Schöner Artikel, hier lässt sich noch der rechte neue Dokumentarfilm Awka Liwen zum selben Thema erwähnen.

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