Dieter Boris ist am 21. November 2024 im Alter von 81 gestorben. Für den 7. März 2025 ist in Frankfurt a. M. eine Gedenkveranstaltung geplant, auf der Weggefährten und Freunde noch einmal an das Leben und Werk des bekannten Soziologen und Lateinamerikawissenschaftlers aus Marburg erinnern wollen. Auch wir, die Quetzal-Redaktion, möchten dies zu Anlass nehmen, um Dieter Boris an dieser Stelle zu würdigen.
Der erste – indirekte – Kontakt reicht in eine Zeit zurück, als es noch die DDR gab. Diejenigen von uns, die heute zur „alten Garde“ des QUETZAL gehören, hatten Anfang der 1980er Jahre unser Studium an der Karl-Marx-Universität gerade abgeschlossen. Kuba, Che, Chile und dann auch die Sandinistas in Nicaragua hatten uns politisiert. Mir selbst bot sich durch einen glücklichen Umstand die Möglichkeit, bei Jürgen Kübler (1931-2009) an einer Dissertation über die guatemaltekische Revolution 1944-1954 arbeiten zu können. Der von Dieter Boris und Renate Rausch 1983 herausgegebene Sammelband über Zentralamerika stand bei der deutschsprachigen Literatur ganz oben auf meiner Liste. Er bot einen kompetenten Überblick über eine Region, die sich – beflügelt vom Sieg der Sandinisten – im revolutionären Aufbruch befand. Auch wenn die Ereignisse im Fortgang eine andere Richtung genommen haben, lohnt es sich auch heute noch, dort nachzuschlagen.
Damals habe ich mir nicht vorstellen können, dass mich das Thema „Zentralamerika“ fast 40 Jahre später noch einmal mit Dieter Boris zusammenführen sollte. 2020 war mein Buch „Zwischen zwei Kontinenten. Geschichte und Gegenwart Zentralamerikas“ beim Aschendorff Verlag erschienen. Dieter und ich waren uns zwischenzeitlich zwar mehrfach persönlich begegnet und hatten über den QUETZAL Arbeitskontakte geknüpft. Allerdings umfasste das Spektrum der von uns diskutierten Themen zumeist Entwicklungen, die den ganzen Kontinent betrafen. Ich war deshalb überrascht, als mir Dieter Boris anbot, mein Zentralamerika-Buch zu rezensieren.[i]
Für mich schloss sich damit ein Kreis – allerdings auf paradoxe Weise: Als Dieter Boris und Renate Rausch ihr Buch beim Pahl-Rugenstein Verlag herausbrachten, stand ich am Beginn meines akademischen Lebens und Zentralamerika war hierzulande – obwohl politisch in allermunde – wissenschaftlich kaum erschlossen. 2020 war es umgekehrt. Nun gab es zwar eine „hervorragende Studie“ (D. Boris), aber nur noch wenige interessierten sich für die Region.
Für den QUETZAL begann die Zusammenarbeit mit Dieter Boris 1993. In unserer dritten Nummer, die wir unter dem Schwerpunkt „Demokratisierung in Lateinamerika – Illusion oder Hoffnung?“ herausgebracht haben, hat er den einleitenden Hauptartikel geschrieben. Obwohl wir noch am Anfang standen und als „Ostprodukt“ in mehrfacher Hinsicht ein Novum waren, hatte er es sich nicht nehmen lassen, für uns zu schreiben. Seitdem blieben wir im Kontakt. Persönlich trafen wir uns schließlich 2008 auf dem Lateinamerika-Kongress, den Attac vom 31. Oktober bis 2. November in Mannheim organisiert hatte.
Zwischenzeitlich und dann auch später haben wir die Arbeiten von Dieter Boris mit Rezensionen begleitet. Im Rahmen des Arbeitskreises „Lateinamerika“ der Rosa-Luxemburg-Stiftung diskutierten wir zusammen mit anderen über die Errungenschaften und Defizite der „Linkswende“, die den Kontinent im Gefolge der „Bolivarischen Revolution“ in Venezuela erfasst hatte. Die zum Teil kontrovers geführten Debatten, die – neben Dieter Boris – maßgeblich auch von Klaus Meschkat, Joachim Wahl und Helma Chrenko geprägt waren, boten allen Teilnehmern die Möglichkeit, sich anhand der laufenden Prozesse eine fundierte Meinung zu bilden.
Als das Pendel in Lateinamerika dann in Richtung „Rechtswende“ umschlug, gehörte Dieter Boris zu jenen, die den Gründen dafür konsequent nachspürten, ohne dabei in Besserwisserei oder Resignation zu verfallen. In einem seiner letzten Artikel, der 2024 im Prokla-Heft 215 erschienen ist, analysiert er mit Patrick Eser den „rätselhaften Aufstieg“ von Javier Milei – wiederum ein Thema von unmittelbarer Aktualität und großer politischer Reichweite.
Als Marxist hatte Dieter Boris das unschätzbare Talent, neue Bewegungen und Prozesse in einer Weise zu analysieren, die in die Tiefe gingen. Sein umfangreiches und in zahlreichen Diskussionen geschärftes Fachwissen verband sich mit der Empathie für die Kämpfe „von unten“. Daraus hat Dieter Boris eine Synergie gewonnen, aus der er nicht nur persönlich immer wieder Kraft schöpfen konnte. Er hatte die Gabe, das große Ganze zu sehen, ohne zu vergessen, dass das scheinbar Kleine am Beginn jedes Neuen steht. Sein Werk ist und bleibt ein Fundus und Vorbild für die schöpferische Auseinandersetzung mit der Entwicklung eines Kontinents, der immer wieder neue Überraschungen bereithält.
Dieter Boris: Auswahlbibliographie
Boris, Dieter: Die politische Soziologie im Spätwerk Karl Mannheims. Dissertation, Marburg 1969
Boris, Dieter: Krise und Planung: Die politische Soziologie im Spätwerk Karl Mannheims. Metzler, Stuttgart 1971
Boris, Dieter/ Boris, Elisabeth/ Ehrhardt, Wolfgang: Chile auf dem Weg zum Sozialismus. Pahl-Rugenstein, Köln 1971
Boris, Dieter/ Hiedl, Peter: Argentinien. Geschichte und politische Gegenwart. Pahl-Rugenstein, Köln 1978
Boris, Dieter/ Rausch, Renate (Hrsg.): Zentralamerika. Guatemala, El Salvador, Honduras, Nicaragua, Costa Rica. Pahl-Rugenstein, Köln 1983
Boris, Dieter/ Biver, Nico/ Imbusch, Peter/ Kampmann, Ute (Hrsg.): Schuldenkrise und Dritte Welt: Stimmen aus der Peripherie. Pahl-Rugenstein, Köln 1987
Boris, Dieter: Arbeiterbewegung in Lateinamerika. Marburg 1990
Boris, Dieter (Hrsg.): Keiner redet vom Sozialismus, aber wir: die Zukunft marxistisch denken. In memoriam Kurt Steinhaus. Pahl-Rugenstein, Bonn 1992
Boris, Dieter: Mexiko im Umbruch: Modellfall einer gescheiterten Entwicklungsstrategie. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1996
Boris, Dieter: Soziale Bewegungen in Lateinamerika. VSA-Verlag, Hamburg 1998
Boris, Dieter (Hrsg.): Finanzkrisen im Übergang zum 21. Jahrhundert – Probleme der Peripherie oder globale Gefahr? Metropolis-Verlag, Marburg 2000
Boris, Dieter: Zur Politischen Ökonomie Lateinamerikas: Der Kontinent in der Weltwirtschaft des 20. Jahrhunderts. VSA-Verlag, Hamburg 2001
Boris, Dieter/ Sterr, Albert: FOXtrott in Mexiko. Demokratisierung oder Neopopulismus? Neuer ISP Verlag, Köln 2002
Boris, Dieter/ Schmalz, Stefan/ Tittor, Anne (Hrsg.): Lateinamerika: Verfall neoliberaler Hegemonie. VSA-Verlag, Hamburg 2005
Boris, Dieter/ Tittor, Anne: Der Fall Argentinien: Krise, soziale Bewegungen und Alternativen. VSA-Verlag, Hamburg 2006
Boris, Dieter (Hrsg.): Sozialstrukturen in Lateinamerika: Ein Überblick. VS Wiesbaden 2008
Boris, Dieter: Im Labyrinth von „Post-Entwicklung“ und „Buen Vivir“, in: LuXemburg 2/2013, S. 115–120.
Eser, Patrick/ Jenss, Alke/ Schulten, Johannes/ Tittor, Anne (Hrsg): Globale Ungleichgewichte und soziale Transformationen. Beiträge von Dieter Boris aus 50 Jahren zu Lateinamerika, Klassenanalyse und Bewegungspolitik. Mandelbaum Verlag, Wien/ Berlin 2018
Boris, Dieter/ Eser, Patrick: Der rätselhafte Aufstieg des „Messias“ Milei, in: Prokla 215, 54 (Juni 2024) 2, S. 325-350
Dieter Boris als Autor des QUETZAL
Neoliberale Strukturreformen und Demokratisierungsprozesse im Lateinamerika der 80er und 90er Jahre, QUETZAL Nr. 3, August 1993, S. 2-5
Argentinien: Ende der Ära Kirchner? Versuch einer Bilanz, 30. November 2010 (unter: https://quetzal-leipzig.de/lateinamerika/argentinien/argentinien-ende-der-ara-kirchner-versuch-einer-bilanz)
Rezensionen zu Büchern von Dieter Boris
Gärtner, Peter: Mexiko im Umbruch. Überlegungen zu Dieter Boris: Mexiko im Umbruch, Modellfall einer gescheiterten Entwicklungsstrategie. Darmstadt 1996, in: Asien-Afrika-Lateinamerika 1998, vol. 26, S. 110-117
Boris, Dieter: Soziale Bewegungen in Lateinamerika, Rezension von Peter Gärtner, QUETZAL Nr. 27, Frühjahr 2000 (unter: https://quetzal-leipzig.de/rezension-buch-literatur/dieter-boris-soziale-bewegungen-in-lateinamerika)
Gärtner, Peter: Sammelrezension zu „Bolivars Erben“ – Wer sind sie? Wo wollen sie hin?, 30. Mai 2016 (Besprechung von fünf Büchern, darunter: Boris, Dieter: Bolívars Erben. Linksregierungen in Lateinamerika. PapyRossa Verlag, Köln 2014; Boris, Dieter/ Gerstenlauer, Therese/ Jenss, Alke/ Schank, Christy/ Schulten, Johannes (Hrsg.): Sozialstrukturen in Lateinamerika. Ein Überblick. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2008 (https://quetzal-leipzig.de/rezension-buch-literatur/bolivars-erben-wer-sind-sie-und-wo-wollen-sie-hin)
Gärtner, Peter: Von links nach rechts – und zurück? Erklärungsversuche zur Rechtswende in Lateinamerika, 5. Februar 2021 (Besprechung des Buches von Patrick Eser / Jan-Henrik Witthaus (Hrsg.): Rechtswende in Lateinamerika. Politische Pendelbewegungen, sozio-ökonomische Umbrüche und kulturelle Imaginarien in Geschichte und Gegenwart, Mandelbaum Verlag, Wien/ Berlin: 2020 mit einem Beitrag von Dieter Boris, S. 32-67
[i] Zur ersten Fassung vgl. „junge Welt“ vom 22. Februar 2021, S. 15; vgl. zum Wortlaut außerdem: https://www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org/archiv/we-archiv-2021/Produkte/zwischen-zwei-kontinenten-zentralamerika/DE20210325-Art.03.01-2021
Bildquellen: [1-2] CoverScans