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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Printausgaben

Boris, Dieter: Soziale Bewegungen in Lateinamerika

Peter Gärtner | | Artikel drucken
Lesedauer: 5 Minuten

„Kleine“ Leute und „große“ Politik

Das 1998 beim Hamburger VSA-Verlag erschienene Buch des Marburger Lateinamerikawissenschaftlers Dieter Boris wendet sich einem Thema zu, das derzeit zwar keine Hochkonjunktur hat, deshalb aber nicht weniger wichtig und interessant ist. „Soziale Bewegungen in Lateinamerika“ schwimmt gewissermaßen gegen den (Main-)Strom und will ein doppeltes Defizit überwinden helfen. Erstens fehlt im deutschsprachigen Raum – aber nicht nur dort – ein Gesamtüberblick zu diesem Thema. Zweitens sollen hier jene hör- und sichtbar gemacht werden, die allzu oft überhört oder übersehen werden. Der Einfluß der „kleinen Leute“ auf die „große Politik“ ist immer noch ein Feld, dem – abgesehen von den „konjunkturellen“ Höhepunkten revolutionärer Massenbewegungen – die gebührende Aufmerksamkeit verwehrt bleibt. Die Bedeutung des Themas und der hohe Anspruch des Autors machen neugierig, wie beidem entsprochen wird. Das Buch gliedert sich in eine Einleitung (9-37), in der die Grundlinien der Argumentation vorgestellt und einige wichtige Querschnittsfragen behandelt werden, sowie neun Kapitel, die jeweils einer sozialen Bewegung gewidmet sind. Diese werden – jede auf ca. 20 Seiten – sowohl in ihrer kontinentalen Einordnung als auch anhand eines besonders relevanten Länderfalles beschrieben. Dieses Vorgehen hat zwar den Vorteil, daß der Leser die große Breite und Vielfalt der sozialen Bewegungen gut überschauen kann und zugleich ein Höchstmaß an Informationen vermittelt bekommt. Dadurch gewinnt das Buch fast den Charakter eines Überblicks- und Nachschlagewerkes, ohne an Lebendigkeit und Facettenreichtum zu verlieren. Dieses Vorgehen hat jedoch auch Nachteile. Zum einen geht die Zergliederung des Gegenstandes in neun soziale „Teil-Bewegungen“ zu Lasten der Zusammenhänge und Gemeinsamkeiten zwischen ihnen. In ihrer Unvermitteltheit erscheinen Auswahl und Reihenfolge zudem ungewollt willkürlich. Aber gerade Breite und Vielfalt des vorgestellten Spektrums hätten es erfordert, die Kriterien der Auswahl vorzustellen und zu erläutern. Bei den „klassischen“ sozialen Bewegungen (Arbeiter-, Campesino-, Frauenbewegungen) scheint dies nur auf den ersten Blick überflüssig. Relevant werden jedoch auch bei diesen Bewegungen zumindest Kriterien der Abgrenzung, wenn ihr Verhältnis zu „benachbarten“ alten oder neuen Bewegungen geklärt werden muß. Dies gilt zum Beispiel für das Verhältnis zwischen Guerilla-, Campesino- und religiös-sozialen Bewegungen, die oft fließend ineinander übergehen, ohne deckungsgleich zu sein. Es gibt die Möglichkeit des partiellen und temporären Zusammengehens ebenso wie des Formenwechsels von sozialen Bewegungen. Wo ordnet man zum Beispiel die Zapatisten der 90er Jahre ein? Immerhin bieten sich in diesem Fall, der bei Boris bedauerlicherweise nur am Rande Erwähnung findet, drei Möglichkeiten an: Campesino-, indigene und Guerillabewegung. Denkbar wäre auch, daß die viel beschriebene Neuartigkeit dieser Bewegung aus der Zusammenführung der verschiedenen Teilbewegungen resultiert, die vielleicht einen völlig neuen Typus von sozialer Bewegung hervorgebracht hat.

Ein weiteres Manko der Darstellung besteht darin, daß wichtige theoretische Fragen, die in der Einleitung angerisssen werden, nicht systematisch weiterverfolgt werden. Dies betrifft den Zäsurcharakter der neoliberalen Anpassung oder das Verhältnis von Struktur und Akteur. Von besonderem Interesse wäre eine theoretische Bewertung der vielfach (120, 132, 148, 150, 179ff) erwähnten Lernprozesse gewesen. Ein Plus der Arbeit ist zweifellos die durchgängige Auseinandersetzung mit der in der Einleitung aufgeworfenen zentralen Frage nach dem Verhältnis von sozialen Bewegungen und Demokratisierungsprozeß. Die dort vom Autor verschlagene Dreier-Typologie (27ff) wird in den neun Kapiteln über die verschiedenen sozialen Bewegungen detailliert unterlegt und anhand konkreter Länderfalle spezifiziert. Diese sind so ausgewählt, daß mit Brasilien (3x), Mexiko, Chile, Argentinien, Peru, Ekuador und Nikaragua ein repräsentatives Bild der sozialen Bewegungen in ihrer kontinentalen Vielfalt entsteht. Beim Leser taucht mit fortschreitender Lektüre jedoch die Frage auf, warum im kontinentalen Vergleich bestimmte Länder besonders „sozial bewegt“ sind und warum der Typus der sozialen Bewegung, die jeweils als die mächtigste und einflußreichste Widerstandskraft gilt, von Land zu Land wechselt: in Brasilien stellt die Landlosenbewegung die zentrale und konsequenteste Opposition gegen die neoliberale Politik dar (55, 57); Ekuadors Indianer werden als die „ bedeutendste soziale Bewegung des Landes (und vielleicht auch als die politisch stärkste indigene Bewegung des Subkontinents)“ (79) angesehen; Chiles Frauen gelten im historischen Vergleich als emanzipierter und organisierten sich schon früher als die Frauen in den anderen süd-amerikanischen Ländern (175). Ähnliches ließe sich hinsichtlich der Entstehungsbedingungen (bei Boris: Determinanten) der verschiedenen sozialen Bewegungen feststellen: So sind die Menschrechtsbewegungen im wesentlichen Produkt der Militärdiktaturen (109), während die lateinamerikanische Arbeiterbewegung ein „Kind des Weltmarktes“ (82) ist. Die Entstehung einer Guerilla hängt von einer „Kombination von Bestimmungsfaktoren“ (125) ab, ebenso wie die Herausbildung einer „Kirche der Armen“ als religiös-soziale Bewegung neuen Typs „auf ein komplexes Gefüge von Determinanten zurückgeht. Langfristigstrukturelle neben kurzfristig-akzidentiellen Faktoren sind hierbei ebenso wie innerkirchlich-geistige und gesellschaftlich-sozialstrukturelle Momente zu unterscheiden …“ (146). Der interessierte Leser vermißt hier leider eine vergleichende Bewertung der verschiedenen Ebenen und Felder der „Determinanten“ für das Entstehen und Wirken sozialer Bewegungen. Boris selbst verweist in der Einleitung besonders auf drei: Militärdiktaturen, Scheitern eines Entwicklungsmodells und Veränderungen in der Sozialstruktur. Es wäre auch hinsichtlich der weiter vorn aufgeworfenen Fragen hilfreich gewesen, das Buch in Auswertung der neun vorgestellten sozialen Bewegungen mit einer theoriegeleiteten Zusammenfassung abzuschließen. Vielleicht könnte dies in einer zweiten Auflage nachgeholt werden. Alles in allem liegt mit „Sozialen Bewegungen in Lateinamerika“ von Dieter Boris eine Arbeit vor, die einen zentralen Gegenstand der (vergleichenden) Sozialforschung in einer Breite vorstellt, die alle wichtigen sozialen Bewegungen umfaßt. Diese werden vom Autor sowohl in ihrer kontinentalen Dimension als auch – für je einen repräsentativen Fall – in ihrer länderspezifischen Ausformung kompetent beschrieben. Der interessierte Leser findet in dem vorgestellten Buch einen gelungenen Gesamtüberblick zu einem leider allzu oft vernachlässigten Thema, durch den eine Lücke geschlossen wird.

Dieter Boris: Soziale Bewegungen in Lateinamerika, VSA-Verlag Hamburg 1998

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