In Lateinamerika heißt es, es sei, neben der französischen, vor allem die deutsche Philosophie, die dort besonders tiefe Spuren hinterlassen hat. Doch in der Überschrift zu diesem Aufsatz ist ganz bewusst von deutschen Philosophen die Rede und nicht von deutscher Philosophie. Das heißt, zwei Missverständnisse sollten nicht aufkommen: Erstens: Hier geht es zwar auch, aber nicht vor allem und schon gar nicht systematisch um die lateinamerikanische Rezeption deutscher Philosophie, erst recht nicht um die, die man „klassisch“ nennt. Und selbst ein Carlos Marx, der ganz zweifellos zu diesen Klassikern gehört, kommt hier nicht vor, auch wenn er in die Spanne von der frühen Aufklärung bis zum kritischen Realismus fällt, die den zeitlichen Bogen dieses Aufsatzes bildet. Gegenüber Lateinamerika hat er sich ja ohnehin weitgehend ignorant verhalten, sieht man von seinen – umstrittenen – Ausführungen zu Simón Bolívar ab. Zu einer systematischen Analyse von Philosophie würde es profunde wissenschaftliche Forschung brauchen, die der „Quetzal“ nicht leisten kann, zumal er sich hier ausschließlich auf Sekundärquellen stützt. Deshalb ist auch nur die Rede von Vignetten. Zweitens, und das mag noch stärker verwundern: Nimmt man den breit, aber bestenfalls im weiten Sinne philosophisch „aufgestellten“ Alexander von Humboldt aus, der kein Philosoph war und sich auch selbst nicht als solcher bezeichnen wollte, hat kein klassischer philosophischer Denker aus Deutschland Lateinamerika je aufgesucht. Und trotzdem soll es da Neues zu berichten geben? Bei ihrer diesbezüglichen Spurensuche betrat die Autorin unübliche Pfade. Zumindest für sich selbst konstatierte sie dabei Erstaunliches.
Das Lateinamerika-Bild derer, die nie dort waren: Gottfried Wilhelm Leibniz und Georg Friedrich Hegel
Der gebürtige Leipziger Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) ist nicht nur Philosoph, sondern auch Mathematiker, Jurist und Historiker, kurzum ein Universalgelehrter. Er gilt, zumindest seit seinen letzten Lebensjahren, als „politscher Berater der frühen Aufklärung“. Damit gehört er zu den Philosophen, die die Brücke zwischen Barock und Aufklärung schlugen.
Was nun (Latein)Amerika betrifft, ist er allerdings nur wenig „aufgeklärt“, was auch der „Ungnade“ seiner „frühen Geburt“ und einem zu seiner Zeit noch allenthalben obwaltenden Eurozentrismus geschuldet sein mag. Das geht damals in Deutschland, mit der bedingten Ausnahme Johann Gottfried Herders, allen Philosophen so. Nach Leibniz‘ Ansicht – hauptamtlich beschäftigt er sich da gerade mit den Bergwerken im Harz und den Welfen – haben die Ureinwohner Amerikas eine eher tierische denn menschliche Natur entwickelt, und ihre Grausamkeiten würden manchmal sogar die der Tiere übertreffen. Doch hätten sie auch „gute Einrichtungen“ und „Sitten“, wobei die Einwohner der Karibik sogar „viel Wert und sogar Verstand“ besäßen, die Paraguayos aber ein Leben lang „Schulkinder“ blieben (Leibniz: Allgem. polit. u. histor. Schriftwechsel, zitiert in Wimmer 2003). Doch auch sie, die amerikanischen Ureinwohner, seien Menschen, schreibt Leibniz, da sie ja Vernunft besitzen. Die Mestizen aber sollten doch lieber Spanien statt Lateinamerika bevölkern, weil sie, als Feinde der Spanier, in Amerika ohnehin nie zu „Ämtern“ kämen (Leibniz: Gedancken zum Entwurf der teutschen Kriegsverfassung, zitiert in Wimmer 2003). Zu Leibniz‘ Gunsten muss an dieser Stelle Erwähnung finden, dass er seine wichtigsten philosophischen Werke – zur Monadentheorie und Theodizee – erst später verfasst und als „Aufklärer“ wohl auch nicht früher gezählt werden darf.
„In der kalten und in der heißen Zone kann der Boden weltgeschichtlicher Völker nicht sein“, ja „physisch und geistig ohnmächtig hat sich Amerika immer gezeigt (…), und noch lange wird es dauern, bis die Europäer dahin kommen, einiges Selbstwertgefühl in sie zu bringen. Die Inferiorität dieser Individuen selbst in Hinsicht ihrer eigenen Größe gibt sich in allen zu erkennen.“ (Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, zitiert in Werz 1991, 255) Der das – in seiner abwertenden Diktion fast so wie Leibniz – schrieb, ist der große deutsche Idealist und Dialektiker Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831). In seiner Beschreibung von (Latein)Amerikas Bewohnern konstatiert er weiter: „Sanftmut und Trieblosigkeit, Demut und kriechende Unterwürfigkeit gegen einen Kreolen und mehr noch gegen einen Europäer sind dort der Hauptcharakter der Amerikaner, und es wird noch lange dauern, bis die Europäer dahin kommen, einiges Selbstgefühl in sie zu bringen. Die Inferiorität dieser Individuen in jeder Rücksicht, selbst in Hinsicht der Größe (…) gibt sich in allem zu erkennen … Als die Jesuiten und die katholische Geistlichkeit die Indianer an europäische Kultur und Sitten gewöhnen wollen …, begaben sie sich unter sie und schrieben ihnen, wie Unmündigen, die Geschäfte des Tages vor, die sie sich auch, wie träge sie auch sonst waren, von der Autorität der Väter gefallen ließen.“ (Hegel: Philosophie der Geschichte, zitiert in Wimmer 2003). Heute würde man eine solche Position wohl als rassistisch bezeichnen.
In Lateinamerika, zu seinen Lebzeiten, ist Hegel kaum bekannt. Doch verwundert es angesichts des oben Zitierten ebenso wenig, dass er dort später, insbesondere mit seiner „Geschichte der Philosophie“, als Denker einer „imperialen Philosophie“ eingeschätzt wird. Dabei ist doch dieser Hegel anders als Leibniz, weil später geboren, schon Zeitzeuge lateinamerikanischer Unabhängigkeitsrevolutionen! Doch bezieht er Lateinamerikas Streben nach Unabhängigkeit ausschließlich auf die (dort geborenen) Kreolen, nicht auf die Ureinwohner, die auch er noch als „Tiere“, wiewohl „höheren Ranges“, bezeichnet. Hegel beklagt zwar ausdrücklich die gewaltsame Unterwerfung des Subkontinents durch die Spanier, aber die dort ansässigen Völker nennt er „geschichtslos“ und „schwach gebildet“. Sie „verlieren sich in der Berührung mit höher gebildeten Völkern von intensiverer Bildung mehr und mehr“ (Hegel: Die Vernunft in der Geschichte/Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, zitiert in Wimmer 2003), so der Denker. Dabei weiß Hegel durchaus um die Hochkultur zumindest von Inkas und Azteken, doch, wie er meint, „davon haben wir zwar Nachrichten, aber bloß die, daß dieselbe eine ganz natürliche war, die untergehen mußte, sowie der Geist sich ihr näherte“ (ebd.). Und nur der Geist, so lässt der Meister verlauten, ist die Wahrheit: Nur er macht etwas vom „An sich“ auch zum „Für sich“.
Sollte es uns, die wir nun von Lateinamerika mehr wissen als Hegel, ihm gegenüber in Hochmut versetzen? Schließlich bleibt doch die Frage: Wie viel klüger kann man sein als alle Zeitgenossen, zumal für einen so fernen politischen Kontext? Und auch dazu kann man, hier nun nicht ohne Ironie, den Altmeister selbst zitieren: „Nur wo es das absolute Wahre gibt, kann man auch irren“. Aber zu ebendieser Wahrheit gehört genauso, dass beispielsweise ein Herder, obgleich früheren Datums, in Bezug auf Lateinamerika durchaus Europa-kritischer war, wenngleich auch er paternalistisch die „kindliche Unschuld“ seiner Ureinwohner betont.
Die liebe (?) Verwandtschaft in Lateinamerika: Immanuel Kant und Friedrich Nietzsche
Lateinamerika ist auch dem anderen der beiden wichtigsten deutschen Philosophen-Klassiker, Immanuel Kant (1724-1804), kaum bekannt. Und, auch dies wie Hegel, in Lateinamerika ist er es ebenso wenig. Erst mit seiner „Kritik der reinen Vernunft“, insbesondere als Ideengeber für den dort stark vertretenen Positivismus (Gabino Barreda, Valentín Letelier, José Ingenieros usw.), wird er es. Da ist er dann auch für lateinamerikanische Philosophie ähnlich befruchtend wie Leibniz mit seiner „neuen“ Logik in den „Grundlagen des logischen Kalküls“. Später kommen noch seine ethischen Gedanken zur „praktischen Vernunft“ hinzu und überstrahlen, so wohl nur in Lateinamerika, gar seine Gnoseologie, am Ende auch seine Transzendentalphilosophie.
Was nun Kants Sicht auf (Latein)Amerikas Ureinwohner angeht, so hat auch er den Aufklärungsradius auf sie nicht ausgeweitet. Die amerikanischen „indios“ sind für ihn, wenngleich hier nun immerhin innerhalb der menschlichen Gattung, eine eigenständige, mithin die „(kupfer)rote Rasse“. Und Hautfarbe sieht Kant stets als Hinweis auf die Fähigkeit oder Unfähigkeit eines Volkes, ein moralisches Wesen auszubilden: „Die Menschheit ist in ihrer grössten Vollkommenheit in der Rasse der Weissen. Die gelben Indianer haben schon ein geringeres Talent. Die Neger sind weit tiefer, und am tiefsten steht ein Theil der amerikanischen Völkerschaften“ (Kant: Physische Geographie, zitiert online). Damit ordnet Kant die „indios“ in das moralisch Primitivste ein, in das „Gestern der Unmündigkeit“ statt das „Heute der Aufklärung“, denn Aufklärung ist ja nach ihm „der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Anleitung eines anderen zu bedienen. Selbst verschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“ (Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, zitiert online). Insofern ist Kants Philosophie zwar in sich konsistent, aber ebenso eurozentristisch wie die von Leibniz oder Hegel.
Bei allen dreien geht also „Aufklärung“ zumindest nicht so weit, dass sie sie auch auf die lateinamerikanischen Ureinwohner bezögen. Gleichwohl ist Kant in seiner diesbezüglichen Sicht doch zumindest etwas weniger apodiktisch als seine „Klassiker-Brüder“ Hegel und Leibniz, denn wenn er allen Menschen dasselbe Weltbürgerrecht zuerkennt, bezieht er das letztlich auch auf die „indios“. Außerdem distanziert er sich ja auch vom Begriff der Rasse, wenn er diese ausdrücklich nicht „in einem System der Naturbeschreibung“ identifizieren will. Zudem lässt er offen, ob die „Amerikaner“ eine „in ihren Geistesanlagen unter die übrigen Glieder der Menschheitsrasse gesunkene Rasse sind“ oder aber, „was ihre Naturanlage betrifft, jedem anderen Weltbewohner gleich zu schätzen sind“, indem er beides mit dem „Anschein baufälliger Systeme“ quittiert (Kant: Rezensionen zu Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, zitiert in Wimmer 2003). Insofern kann der auch Kant gegenüber erhobene Vorwurf des Rassismus nicht ungeteilt bleiben.
Wie dem auch sei: An dieser Stelle soll es ja gar nicht so sehr um Kants Bild von Lateinamerika gehen, sondern lediglich um die Bedeutung seiner „buckligen“ Verwandtschaft für diese Erdenregion. Verwandtschaft? Ist nicht dieser Kant, der fast nichts als seine Philosophie kennt, ein unverbesserlicher Hagestolz (für die Jüngeren unter den Lesern: ewiger und bei Kant auch unfreiwilliger Junggeselle)? Richtig. Aber Verwandtschaft kann er ja trotzdem haben, zum Beispiel Geschwister. Und da sind wir, wer hätte das gedacht, an einem auch für Lateinamerika spannenden Punkt:
Immerhin hat Immanuel Kant, der Königsberger, dessen Ahnen-Wurzeln eher in Nürnberg bzw. im ostpreußischen Memelland liegen, insgesamt neun Geschwister, darunter auch einen einzigen, jüngeren Bruder, den im kurländischen Altrahden predigenden Pfarrer und späteren Rektor der Stadtschule in Mitau Johann Heinrich Kant, geboren 1735. Dessen Frau Marie Kant schenkt einem Friedrich Wilhelm Kant das Leben, späterhin Kaufmann, Spediteur und Inhaber des Konfektionsgeschäfts Kant & Schlegel in Mitau. Und sein Sohn Julius Wilhelm Martin Kant wiederum wird zuerst in Riga Eisenbahnbeamter und dann auch selbst Kaufmann. Später siedelt er nach Reval (Tallinn) über. Von seiner Frau geschieden, soll er am Ende in ärmlichen Verhältnissen leben. Damit kommen wir nun auch endlich zu dem für Lateinamerika entscheidenden Familienmitglied, zum Sohn von Martin und Urenkel von Immanuels jüngerem Bruder: dem 1864 in Reval geborenen Christian Eduard Albert Kant. Der hat in Lateinamerika gelebt und ist dort auch gestorben:
Gelinde gesagt, ist sein Leben recht unstet. Obwohl, anfangs läuft es für ihn noch ausgesprochen gut: In Dorpat (Tartu) studiert er ein paar Semester Medizin, ist aber mehr auf dem Fechtboden als im Hörsaal zu finden. Später dient er als „Einjähriger“ in einem Kavallerieregiment dem russischen Zaren. Und, ganz so wie man es aus einschlägigen russischen Romanen kennt, stößt er da bei einem Ball mit einem Offizier „tätlich“ zusammen. Das Unglück nimmt seinen Lauf: Um nicht nach Sibirien verschickt zu werden, geht er zunächst zum Zirkus Salomonski nach Moskau. Später, in Turkestan, will er sogar mit einem Tiger gekämpft haben. Im Jahr 1884 landet er bei den Petroliumwerken Öhlrich & Co in Baku. Über Asien emigriert er schließlich, 1887, zuerst nach Nordamerika und dann nach Costa Rica, wo er, nun als Eisenbahningenieur, für Keith Minor, dem Begründer der United Fruit Company, arbeitet. Ein Zufall ist es letztendlich, der ihn nach Panama und dort nach Alto Lino/Boquete in der Provinz Chiqurí führt. Doch an diesem Ort geht es ihm, nach eigenem Erzählen, gar nicht so gut: „Der kategorische Imperativ peitschte und trieb ihn von Misserfolg zu Misserfolg“ (Lutz 1920, 4), schreibt daher einer, der ihn kennt. Zunächst besitz Christian Eduard auch nur 5.000 Kaffeesträucher, die ihn und seine Familie kaum ernähren. Erst durch die Hilfe anderer kann er seine Kaffeeplantage auf über 30.000 Sträucher erweitern. In Alto Lino stirbt er 1927, wovon sogar „Chicagoer Abendpost“ berichtet.
Kaffee, und zwar Arabica, wird noch immer im panamaischen Boquete produziert und, auch nach Deutschland, exportiert. Er soll nach Schokolade und Karamell schmecken. Don Emilio, wie sich Christian Eduard in Panama nannte, hinterlässt mindestens acht Kinder, drei Söhne und fünf Töchter, die aber inzwischen alle verstorben sind. Doch sorgen sie zu ihren Lebzeiten dafür, dass der Familienname Kant in Panama auch noch heute breit gestreut ist. Einige von ihren Nachkommen wohnen weiterhin in Boquete. Stilecht verfasst auch eine Kant ihre Abschlussarbeit zum Kaffee(Museum) in dieser Region. Manche der panamaischen Kants kann man sogar in einschlägigen sozialen Netzwerken finden. Doch ob sie auch die Werke ihres berühmten Urahnen aus Königsberg kennen?
Von diesem Urahn aber wissen wir: Bis auf das letzte Jahr seines Lebens trinkt er nie Kaffee, da er das „Öl des Kaffees“ für schädlich hält, aber vor allem, weil man immer so lange warten müsse, bis er fertig ist. Und Warten, das hasst der überpünktliche Philosoph ja bekanntermaßen ganz besonders. Insofern wird ihm auch der Spruch zugeschrieben: „Nun, darüber kann ich sterben; und in jener Welt will ich keinen Kaffee trinken.“ Wenn man sich nun aber vorstellte, dass der Immanuel „dort oben“ ja wenigstens ab und zu seinen panamaischen Ururgroßneffen treffen müsste, dann fragt man sich doch: Was mögen sie dabei trinken?
Friedrich Nietzsche (1844 – 1900), der Immanuel Kant nachgerade hasst und ihm, vor allem in seiner Moralphilosophie, philosophisch antagonistisch gegenübersteht, will sich ausdrücklich „Jenseits von Gut und Böse“ stellen, wie der Titel eines seiner Werke lautet. Kants „kategorischer Imperativ“? Für ihn kontraproduktiv! Und auch nur Kant hat ein systematisches Philosophie-Modell entworfen, Nietzsche hingegen argumentiert aphoristisch. Seine Idee vom „Wille(n) zur Macht“ und mehr noch die des „Übermenschen“, beide von ihm in den Mund des prophetischen Weisen Zarathustra gelegt, lassen sich hier einordnen. Der Nationalsozialismus hat bekanntermaßen alle zwei Begriffe „(un)trefflich“ genutzt. Ob das wiederum Nietzsche, der sich selbst ja radikal gegen jeden Antisemitismus gewandt hat, gefallen hätte, kann auch bezweifelt werden. Hierzu gibt es in der Literatur widersprüchliche Positionen, und wahrscheinlich ist die Charakterisierung als „gespaltener Philosoph“ (Schenkel 2019) am ehesten zutreffend.
Bei seiner Schwester jedoch, Elisabeth Förster-Nietzsche (1846-1935), der Hitler sogar einmal Blumen überreicht, ein Geschenk, das sie ihrerseits mit einem Spazierstock erwidert, ist die Affinität zum Nationalsozialismus mehr als offensichtlich. Sie ist „eine Antisemitin und Nationalistin ohnegleichen, hat ihren Bruder für den Faschismus aufbereitet, als sie seine Schriften herausgab. Sie hat dabei Stellen (darunter 30 Briefe) verfälscht und ihn schon im Ersten Weltkrieg propagandistisch missbraucht (…).“ (ebd.) So ist das obige Fragezeichen hinter „lieber“ (Verwandtschaft) sicherlich mehr als nur opportun. Friedrich Nietzsche selbst ist, was seine Schwester betrifft, hin- und hergerissen: Er liebt sie sehr, und doch sieht er in ihr auch eine „Höllenmaschine“ und bezeichnet sie schon einmal als „rachsüchtige antisemitische Gans“.
Und erst hier, mit dieser Schwester, kommt nun auch bei Nietzsche Lateinamerika ins Spiel, hat doch er selbst, ganz ähnlich wie sein Intimfeind Kant, zu Lateinamerika keinerlei Bezug (sieht man einmal von seinem eher merkwürdigen Columbus-Gedicht ab), wohingegen seine Schwester genau das nicht nur für sich selbst, sondern auch für ihren „Herzensfritz“ sehr will: Zwischen 1888 und 1993 begründet sie, zusammen mit ihrem Ehemann Bernhard Förster, einem zutiefst antisemitischen Deutsch-Nationalen, in Paraguay, an der Flussgabelung von Aguaray-Mi und Aguaray-Guazu, die deutsche „Siedlungskolonie“ Nueva Germania, wo sie die „deutsche Herrenrasse“ züchten will. Kolportiert wird, die Idee stamme ursprünglich von beider Freund Richard Wagner. Auch ein Josef Mengele, Kriegsverbrecher und Lagerarzt im KZ Auschwitz-Birkenau, soll sich in dieser Siedlungskolonie aufgehalten haben.
Förster-Nietzsche wollte auch ihren Bruder in dieses „Paradies“ („Italien ist nichts dagegen“) holen, dessen stiller Teilhaber der ja ist. Und Bruder Friedrich hat das zunächst auch für sich überlegt, „nicht ohne den Hintergedanken, ob sich daselbst nicht auch für mich sich ein Asylon fände“. Er verwarf diesen Gedanken aber sogleich wieder, aus „klimatischen Gründen“, wie er schreibt, und weil da „nicht einmal eine gute Bibliothek zu finden ist“ (alle Zitate Nietzsche: Kritische Gesamtausgabe, zitiert in Schneppen 2001, 254). Später begründet er das aber auch damit, dass ihn die Gesinnungen seines Schwagers noch fremder seien als Paraguay und fügt gegenüber seiner Schwester sarkastisch hinzu: „Mein Wunsch ist zuletzt, daß man Euch deutscherseits etwas zu Hilfe käme und nämlich dadurch, daß man die Antisemiten nötigte, Deutschland zu verlassen (…).“ (Ebd. 251) Man höre: die Antisemiten, nicht die Juden! Doch seine Schwester lässt in ihrem Drängen nie nach, bis es ihr klar wird, dass die von ihr so sehr erhoffte Schiffsreise des Bruders ohnehin nicht mehr möglich sein würde, weil der da schon längst in die geistige Umnachtung driftet.
Die Siedlungskolonie, mit ihrem Zentrum „Försterrode“, ist damals übrigens eine – höchst sumpfige, brütend heiße und weitgehend unfruchtbare – Hölle im Dschungel, wohin zu gelangen, es von der Hauptstadt Asunción acht Tage dauert, was auch nur per Flussfahrt und nicht bei Trockenheit möglich ist. Die paraguayische Regierung will, dass sich dort, auf 20.000 qm, insgesamt 140 deutsche Siedler ansiedeln. Am Ende sind es 26. Das Projekt scheitert, Bernhard Förster nimmt sich das Leben, wonach seine Frau, Nietzsches Schwester, das Anwesen für 15.500 Mark an einen Baron von Frankenberg-Lüttwitz verkauft und wieder nach Deutschland zurückkehrt. Den anderen 26 Siedlern ist Gleiches nicht vergönnt: Für eine Schiffspassage sind sie zu arm. Zurzeit sollen in dieser Kolonie noch 100 bis 200 – auch ihrerseits völlig verarmte – Menschen leben, darunter vier bis fünf deutsche Familien. Von den früheren Häusern sei nichts mehr da. Solcherart Kolonien, gerade in Paraguay, zählen übrigens noch immer als Auswanderer-Paradies der Deutschen, insbesondere wenn zum „rechts(esoterischen)“ Spektrum gehörend. Aktuell sind sie ein besonders beliebter Anlaufpunkt für Impfgegner und Querdenker.
In Deutschland eher „peripher“, in Lateinamerika „zentral“: Karl Christian Friedrich Krause und Nicolai Hartmann
Der Thüringer Karl Christian Friedrich Krause (1781 – 1832), Zeitgenosse Kants und nicht Nietzsches, hat persönlich gar nichts, nicht einmal familiär, mit Lateinamerika zu tun. Der Schüler von Fichte und Schelling, deren Nachfolger im Professorenamt in Jena er gern geworden wäre, was er jedoch nicht schafft, lebt Zeit seines Lebens in äußerst ärmlichen Verhältnissen. Auch philosophisch hat er nichts mit den – auch nicht den hier erwähnten – Granden der klassischen deutschen Philosophie gemein und nur wenig mit Fichte: Bei ihm bestimmt das Sein das Bewusstsein. Das „Wesen“, was jedem „Ding“ das „Sein“ verleiht, sei der zentrale Begriff von „Denken“ und „Schauen“. Und ja, anders als es Kant gesagte hätte: Dieses Wesen könne man erkennen. Nein, bei Marx „kommt“ er trotzdem nicht „an“, weil Krauses Wesenslehre eine Theodizee ist. Schließlich sei Gott der höchste Wesens- und Seinsgrund. Gemeint ist damit aber kein Gott im katholischen Sinne, denn zu Krauses Gott gelangt man nicht über den Glauben, sondern nur über den Verstand. Für ihn aber symbolisiert, dies gewiss anders als bei Hegel, nicht einmal der Staat die Anwesenheit Gottes in der Welt. Karl Christian Friedrich Krause selbst verortet sich zwischen Pantheismus und Theismus – und prägt dafür den Begriff „Panentheismus“.
Der Thüringer Philosoph liefert einen „harmonischen Realismus“: zum einen vermeidet er jegliche Extreme und zum anderen läuft bei ihm auch die menschliche Entwicklung auf eine vollkommene Harmonie hinaus. O.k., Marxismus ist das nicht, aber ein wenig utopischer Sozialismus klingt da schon an, noch mehr aber (liberales) Freimaurertum. Was seine politische (Rechts)Philosophie betrifft, offeriert Krause fast so etwas Ähnliches wie Rechtsstaatlichkeit und sogar, würde man es modern ausdrücken, so etwas wie „governance“: Bei ihm ist der Staat nicht nur nicht gottgleich, er dominiert auch nicht die Gesellschaft, sondern regiert im Einklang mit ihr. Krause entwickelt auch Ideen zu Frauenrechten, zum ethisch-neuen Menschen und zum Völkerbund. In Deutschland aber bleibt seine Philosophie sekundär oder eben „peripher“, sitzt er mit ihr doch zwischen allen philosophischen „Stühlen“. Aber wie kommt es, dass diese dennoch (oder deshalb?) gerade auf dem fernen Subkontinent so überaus beliebt wird?
Der Weg dazu führt zunächst über Belgien (dank dem deutschen Philosophen Heinrich Julius Ahrens und dem belgischen Guillaume Tiberghien) und dann Frankreich (dank François Guizot). Dort, in Paris, studieren viele Spanier und Lateinamerikaner, die den deutschen Philosophen, da ins Französische übersetzt, erstmals zur Kenntnis nehmen können. Der wichtigste Ursprung des „Krausismo“ aber liegt zweifellos in Spanien und hier bei Julián Sanz del Río. Der eignet sich Krauses Lehre direkt in Deutschland, an der Universität Heidelberg, an, etwa ein Jahrzehnt nach dessen Tod, und passt sie an die spanische Kultur an. In dieser „Verarbeitung“ wird Krauses Lehre schließlich zum „Krausismo“. Wie hoch der Grad dieser Anpassung tatsächlich ist, gilt als umstritten.
Von Spanien wird sogar behauptet, kein anderer deutscher Denker habe dort mehr Widerhall gefunden als dieser Krause. Dies gilt insbesondere, wenn auch nicht ohne – radikale – Unterbrechungen, für die Zeit zwischen 1844 und 1939 und darin wiederum vor allem für die der ersten spanischen Republik. Es mag zunächst rätselhaft erscheinen, warum eine in der Kolonialmacht so populäre Theorie dann auch und gerade in deren Kolonie Furore macht, und dies auch noch im Kontext einer Unabhängigkeitsrevolution! Doch die „Krausisten“ in Spanien sind insbesondere als Spanien sein Interesse an dem Subkontinent weitgehend verliert diejenigen, die sich dem Subkontinent – natürlich auf andere Weise als die früheren Kolonialherren – wieder zuwenden: Sie wollen eine geistige Kommunikation mit Lateinamerika herstellen, bewusst den eigenen „individuellen Stolz opfernd“. Nach 1939 werden die „Krausisten“ in Spanien politisch verfolgt. Heute wird auch dort der „Krausismo“ wieder neu entdeckt.
Nach Lateinamerika kommt der „Krausismo“ über drei Kanäle: 1) die spanischsprachigen Übersetzungen von Krauses Texten, 2) lateinamerikanische Studierende in Spanien und 3) die Emigration spanischer „Krausisten“ in die „neue Welt“, hier vor allem nach Costa Rica, Argentinien, Cuba, Mexiko, Ecuador und Brasilien. Genau das, was Krause in Deutschland zwischen die „Stühle“ getrieben hat, wird in Lateinamerika zu seiner besonderen Legitimation: Krause negiert nicht Wissen noch Wissenschaft und ist trotzdem kein Positivist oder Materialist, sondern bleibt gottestreu. Eben diese Mischung macht insbesondere die karibischen Unabhängigkeitshelden, den Kubaner José Martí (für ihn ist Gott „das Gute“) und den in der Dominikanischen Republik wirkenden Puertoricaner Eugenio María de Hostos, zu seinen Verfechtern, die beide auch ihrerseits in Spanien mit dem „Krausismo“ in Berührung kommen:
José Martí befindet sich zu einem Zeitpunkt im spanischen Exil, als die Propagierung von Krauses Ideen durch den Spanier Sanz del Río ihren Höhepunkt erreicht. Beim Studium in Madrid und Zaragoza wird er mit ihnen konfrontiert. Er sucht da gerade nach Visionen zu einer Harmonie im Universum und nach noblen Ideen, die er zuvor, in den USA, nicht gefunden hat. Erst bei Krause wird er fündig, und das, obwohl er doch grundsätzlich den lateinamerikanischen Universitäten und nicht den europäischen den Vorrang gibt. Lange Zeit heißt es, Martí habe sich nur für die Ethik Krauses interessiert, doch spätere Biographen finden heraus, dass ihn die dem Panentheismus innewohnende Idee der „philosophischen Harmonie“ ebenso fasziniert. Über Porträtphotos ist verbürgt, dass Martí sogar in seiner Kleidung dem Ideal der spanischen „Krausisten“ folgt: Wie sie trägt er in der Öffentlichkeit immer einen schwarzen Frack. Im Übrigen sollen sich auch ein Fidel Castro und Che Guevara für Krauses Ideen begeistert haben (Gott 2002, 11 f.). Was dieser, der Pfarrersohn aus dem beschaulichen Thüringer Holzland, wohl selbst dazu gesagt hätte, dass seine Ideen am Ende gar gewaltsame Revolutionen inspiriert haben könnten?
Nicolai Hartmann (1882 – 1950) indes kann nicht einmal indirekt in den Verdacht geraten, linke Politiker und Politik beflügelt zu haben. Er wird als durch und durch politisch konservativer Denker bekannt. Manche ordnen ihn sogar noch weiter „rechts“ als „nur“ konservativ ein. Aber dabei scheiden sich die Geister. Auch ist Hartmann in Deutschland weniger „peripher“ als Krause. Der Kolumbianer Paulo Cruz Vélez (2016, 458) bezeichnet seine Philosophie sogar als die bedeutendste seiner Zeit. Immerhin wird Hartmann im Gegensatz zu Krause auch, und das, natürlich nacheinander, an gleich drei Orten, Ordentlicher Professor. In Lateinamerika wiederum ist er etwas weniger „zentral“ als Krause, dennoch hat er die lateinamerikanische Philosophie nicht wenig beeinflusst.
Geboren in Riga, damals Gouvernement Livland im Russischen Kaiserreich, und zur deutschsprachigen baltischen Minderheit gehörend, studiert Hartmann in Dorpat, hier noch Medizin, und dann Philosophie in Petersburg (von dort aus flieht er vor der Revolution 1905, die ihn beim Studieren „stört“) und auch in Marburg. Ist Krause Urheber und Verfechter eines „harmonischen“ Realismus‘, wird Hartmann zu einem des „ontologischen“ und „kritischen“ Realismus. Gleichwohl gibt es gewisse Ähnlichkeiten zwischen den beiden, denn auch letzterem geht es um die Koordination zwischen Subjekt und dem – von diesem außerhalb befindlichen – Objekt. Auch er will zu den „Sachen selbst“, zum „factum“, zurückkehren und nicht bloß deren Interpretation besorgen. Doch wenn er das dem Objekt immanente „Ding an sich“ für erkennbar hält, muss er sich zugleich vom in Marburg üblichen idealistischen Neukantianismus abwenden, allerdings auch von Hegel und den Phänomenologen: Für Hartmann ist Erkenntnis ontologisch und Metaphysik gnoseologisch. Besonders richtet sich der Deutschbalte auch – und das hat an Aktualität wohl nicht viel verloren – gegen ein „zu“ systematisches Denken. Damit meint er ein Denken, das, über die Antizipation eines schon vorab gebildeten philosophischen Systems, bereits bei der Forschung alles beiseitelegt, von dem es glaubt, es lasse sich in dieses System (heute vielleicht eher „Modell“) nicht eingliedern.
Wenn man so will, überwindet Hartmann damit alle zugleich: Kant, Marx, die Phänomenologie und letztlich auch, wenn auch weniger, Hegel. Das tut er, indem er alles – phänomenologisches, aporetisches und systematisches Denken – als drei in dieser Reihenfolge unverzichtbare Schritte ansieht, von denen keiner weggelassen werden darf. Mit Heidegger, den er zuvor noch als Assistenzprofessor zu sich nach Marburg gerufen hat, ist er schlussendlich in „herzlicher“ Antipathie verbunden. Doch da der, selbst eher „hermeneutisch-historisch“ vorgehend, seine (existenzialistische) Philosophie im Besonderen mit Hartmanns „historischer Ontologie“ im Hinterkopf verfasst, ist letztlich auch er auf ihn verwiesen.
Allein, noch bevor das passieren kann, hat Hartmann, im Ersten Weltkrieg, dem deutschen Geheimdienst und Obersten Heeresleitung als Übersetzer bei den Verhandlungen um den Frieden von Brest-Litowsk gedient und dafür, als Offizier, das Eiserne Kreuz erhalten. Als er dann – nach einem Intermezzo in Köln (womit er Heidegger in Marburg das Feld überlässt) – Professor für Theoretische Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin wird, schreibt man das Jahr 1931. Da wird ein Adolf Hitler gerade das erste Mal von Reichspräsident Hindenburg empfangen. Hartmanns Verhältnis zum Nationalsozialismus ist verschieden interpretiert worden: Während ihm die einen (wie Wolfgang Fritz Haug) antisemitische Einstellungen und überdies zuschreiben, er habe implizit den Nazis geholfen und den NS „mitgebildet“, weil er den „geistigen“ Eliten zugeredet habe, ihn als das „vom Geist unbewusst Gewollte“ anzunehmen, womit er seine Philosophie „mit den neuen (nationalsozialistischen – H.Z.) Verhältnissen kompatibel“ (Haug 1989) gemacht habe, sehen das andere (wie Wolfgang Harich) völlig anders: Hartmanns sei politisch abstinent, seine Akten seien „blütenrein“ „(N)ennenswerte nationalsozialistische Elemente“ könne man „in dessen Denken und Handeln nicht feststellen“ (Harich, zitiert in Gerratana 1990), und philosophisch sei er sogar nahe bei Marx.
Auch bei Hartmann, ganz wie bei Krause, ist der Vermittler zur lateinamerikanischen Philosophie ein Spanier, bei ihm José Ortega y Gasset, mit dem er sich während beider Studienzeit in Marburg eng befreundet hat. (Er wird von der Marburger Universität später auch zum Ehrendoktor ernannt.) Beide bewundern einander gegenseitig. Und Ortega y Gasset, der Lateinamerika mehrfach bereist, hat dabei auch immer Hartmanns Philosophie im Gepäck. Es stört ihn dabei nicht, dass er selbst ja Phänomenologe ist. Doch nicht nur auf diese Weise gelangen Hartmanns Ideen auf den Subkontinent: Ortega y Gasset gründet 1923 die Zeitschrift „Revista de Occidente“, deren Direktor er bis 1936 bleibt. Mehr als die Hälfte der Auflage dieser Zeitschrift geht nach Lateinamerika. Und während des spanischen Bürgerkriegs fliehen auch einige seiner Schüler sowie Assistenten nach Lateinamerika, insbesondere nach Mexiko, und nehmen Ortegas Ideen, einschließlich Hartmanns Philosophie, mit. Schließlich gibt es auch Publikationen, die Hartmann direkt nach Lateinamerika, beispielsweise an einen Philosophie-Kongress in Mendoza/Argentinien, schickt.
Auf besonders fruchtbaren Boden scheinen Hartmanns Ideen bei den folgenden lateinamerikanischen Philosophen zu fallen: José Vasconcelos (der Begründer der „kosmischen“ Rasse), Antonio Caso (der Wissenschaft mit Moral und Kunst verbindet und sich, sie objektiv interpretierend, vor allem für soziale Werte interessiert) und Eduardo García Máyenez (ein Moral- und Rechtsphilosoph, der Hartmanns Ideen besonders extensiv verbreitet) (alle Mexiko). Hinzu kommen Alejandro Korn (der, selbst Nachkomme eines Deutschen, nicht nur das Objekt, sondern auch das – erkennende – Subjekt als reales Faktum begreift), dessen Lieblingsschüler Francisco Romero (der in seinem „Problematisieren statt Systematisieren“ vielleicht am nächsten an Hartmann „dran“ ist, ansonsten aber zu ihm Distanz hält) und Carlos Astrada (der hat Hartmann bei seinem Studium in Berlin 1932/1933 sogar noch selbst gehört) (alle Argentinien). Schließlich sind zu nennen: Alejandro O. Deústua (Peru) (ein Ästhetiker mit gegenüber den indígenas klar rassistischen Ansichten, bei dem jegliche moralische Werte aus dem Ästhetischen, Emotiven und Religiösen entspringen), und letztlich sogar – hier aber vermittelt über Heidegger und den „idealistischen“ Marxisten Lukács – der unorthodoxe Marxist José Carlos Mariátegui (Peru).
Es sind sie, die sich, so verschieden sie allesamt philosophisch und vor allem politisch sein mögen, für Lateinamerika als die „generación de forjadores“ (Miró Quesada) herausheben lassen. Insbesondere in Abgrenzung vom philosophischen Positivismus haben sie sich um die Entwicklung einer authentischen, von Europa weitgehend unabhängigen lateinamerikanischen Philosophie, einer Philosophie „desde América Latina“, verdient gemacht. Die Tragweite ihrer Ideen reicht bis mindestens in die 1960er Jahre. Das besonders Erstaunliche an Hartmanns Philosophie ist, dass sie – jenseits von Positivismus, Neokantianismus und Phänomenologie – derart verschiedene Philosophen und Philosophien in Lateinamerika zu inspirieren weiß, darunter auch solche, die ihm, denkt man insbesondere an Maríategui, als politisch dezidiert Konservativem „gegen den Strich“ gegangen sein müssen.
An dieser Stelle muss nun die Suche nach den Verknüpfungen von Hartmanns Denkgebäude und lateinamerikanischer Philosophie abgebrochen werden – zu viel wäre da noch zu erforschen. Eines scheint klar zu sein: Die genannten lateinamerikanischen Philosophen, die, ganz so wie Hartmann, die „Realität“ nicht als – positivistisch-naives – System noch als Identität von Geist und Sein denken wollen, sondern als philosophisches Problem, stützen sich bei Hartmanns Ideen insbesondere auf dessen „objektivistische“ Ontologie und Wertephilosophie, auch Axiologie genannt. Hartman ist, so wie auch ein Krause, gewiss kein Klassiker der deutschen Philosophie und doch höchst eigenständig in seinem Philosophieren. Aber anders als Krause beeinflusste er die lateinamerikanische Philosophie nicht als jemand, der zwischen allen Stühlen sitzt, sondern als einer, dessen Schriften in sich so integriert und nach außen so integrativ sind, dass sie zu einer der Wurzeln einer ganzen Strömung lateinamerikanischer Philosophie haben werden können, einer Strömung, die auf dem Subkontinent eine völlig neue Philosophen-Generation schmiedete.
Schluss
Freilich, die soeben vorgestellten Doppel-Vignetten durchbrechen jedwede philosophische Systematik. Mit ihnen ist vielmehr in drei Schritten vorgegangen worden: zuerst wurde, durch die „Brille“ deutscher Philosophen der Aufklärung, auf Lateinamerika „von außen“ geschaut. Dann ist – wenn die deutschen Philosophen schon nicht persönlich Lateinamerika die Ehre erwiesen haben – ihren dorthin ausgewanderten Familien(Mitgliedern) „nachgegangen“ worden, um schließlich den Weg einiger, vergleichsweise weniger bekannter, deutscher Philosophie-Texte nach Lateinamerika zu verfolgen und zu prüfen, wie man diese dort aufnahm. Die darauf geworfenen Schlaglichter wurden bewusst bunt – zwischen konservativ, liberal bis marxistisch – gehalten. Die Vignetten verorten sich zwischen Philosophie und Genealogie und sind, in ihren inhaltlichen Diktionen und/oder Facetten, für die deutsche Philosophie-Community auch nicht nur ehrenhaft. Das Wenige, was sie, im Guten wie im Schlechten, eint, ist das Fehlen von Positivismus, Romantik und Idealismus.
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Zitierte Literatur:
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