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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Dokumentation zu lateinamerikanischen Literaturnobelpreisträgern

René Ceballos | | Artikel drucken
Lesedauer: 18 Minuten

Spätestens seit dem sogenannten literarischen „Boom“ in den 60er Jahren wurde in Europa die lateinamerikanische Literatur zur Kenntnis genommen. Natürlich hängt die literarische Entwicklung Lateinamerikas auf keinen Fall von dem Phänomen ab, daß verschiedene Verleger in Europa wagten, die bis dahin fremd gebliebene Literatur zu veröffentlichen. Dennoch war diese Literatur, zumindest in literarischen Kreisen, nicht ganz unbekannt: man denke zum Beispiel an Ruben Dario, dessen Beiträge über den Modernismo eine große Rolle für die europäische Literatur – vor allem die spanische und französische – am Anfang diesen Jahrhunderts gespielt haben.

Wir wollen in dieser Dokumentation eine kleine Übersicht über die Literaturnobelpreisträger aus Lateinamerika geben, darüber hinaus sollen wichtige Autoren, die diesen Preis nicht (oder noch nicht) gewonnen haben, erwähnt werden. Obwohl, wie gesagt, es manche gibt, die dieser Ehre noch nicht gewürdigt worden sind, verdienen sie einen Platz in jeder Aufzählung lateinamerikanischer Autoren, da ihre literarischen Einflüsse die Grenzen des amerikanischen Kontinents längst überschritten haben. Andererseits können wir des Platzmangels wegen keine genaue und lückenlose Bestandsaufnahme der neueren lateinamerikanischen Literatur bieten. Das Hauptaugenmerk richtet sich in dieser Dokumentation auf die spanischschreibenden Autoren.

Obwohl die lateinamerikanische Literatur im „Boom-Jahrzehnt“ zwischen 1960 und 1970 internationale Anerkennung fand, der eine breite Rezeption folgte, lassen sich die Anfänge der neuen Literatur am Ende des 19. Jahrhunderts bei Jose Marti finden, der eine kulturelle Unabhängigkeit des Kontinents forderte, sowie zu Beginn des 20. Jahrhunderts bei Rüben Dario mit seiner „modernistischen“ Lyrik und Prosa und auch bei Octavio Paz, der den Begriff der Literatura de Fundación (Gründungsliteratur) prägte [1]. Europas avantgardistische Bewegung der 20er Jahre dehnte sich auch auf Lateinamerika aus. Die Poesie fängt an, neue Züge zu gewinnen, während die Prosa noch an traditionellen Mustern haftet. Als Erneuerer oder Begründer der neuen Lyrik werden folgende Autoren genannt: Jorge Luis Borges (Argentinien), Vicente Huidobro (Chile), Cesar Vallejo (Peru), Pablo Neruda (Chile) und Octavio Paz (Mexiko). Später, während ihres Aufenthaltes in Paris, übte der Surrealismus einen großen Einfluß auf die Autoren Miguel Angel Asturias (Guatemala) und Alejo Carpentier (Kuba) aus. Mit dem Vorwort seines Romans El Reino de este Mundo (1949; dt. Das Reich von dieser Welt, 1964) eröffnet letzterer eine neue Sicht auf die „magische lateinamerikanische Wirklichkeit“: er prägt den Begriff des „real maravilloso“ (des „wunderbar Wirklichen“). Zugleich steht neben ihm auch der Begriff des „Realismo mágico“ (des „magischen Realismus“), den man im Zusammenhang mit der Literatur von Miguel A. Asturias häufig in der Sekundärliteratur findet. Von diesem Zeitpunkt an werden diese Begriffe häufiger im Zusammenhang mit der lateinamerikanischen Literatur ge-
braucht [2] und als Teil einer spezifischen literarischen Konzeption betrachtet.

Einige der Romane, die zwischen 1960 und 1970 erschienen, zählen heute zu den „Klassikern“ der lateinamerikanischen Literatur. Dennoch waren sie zur Zeit ihrer Erstveröffentlichung „wahre Neuigkeiten“, deren Erfolg sich zunächst in hohen Auflagezahlen zeigte. Die Erneuerungen bei den Romanciers dieser Zeit sind vor allem in der Struktur und in dem Spiel mit der Form des Romans zu finden; sie bilden gleichzeitig das wichtigste Charakteristikum dieser Romane. Diese Behauptung kann man – zum Teil – mit folgenden Romanen, alle in dieser Dekade veröffentlicht, belegen:

  • Carlos Fuentes La región mas transparente (1958; dt. Landschaft in klarem Licht, 1974); La muerte de Artemio Cruz (1962; dt. Nichts als das Leben, 1964, später als Der Tod des Artemio Cruz)‘, Cambio de piel (1966; dt. Hautwechsel, 1969)
  • Ernesto Säbato Sobre heroes y tumbas (1961; dt.Über Helden und Gräber, 1967)
  • Juan Carlos Onetti El astillero (1961; dt. Die Werft, 1976)
  • Alejo Carpentier El Siglo de las luces (1962; dt. Explosion in der Kathedrale 1964); El acoso (1956; dt. Finale auf Kuba, 1960, oder Die Hetzjagd bzw. Die Verfolgung, 1977)
  • Julio Cortazar Rayuela (1963; dt. Rayuela. Himmel und Hölle, 1981)
  • Mario Vargas Llosa La ciudad y los perros (1963; dt. Die Stadt und die Hunde, 1966); La casa verde (1966; dt. Das grüne Haus, 1968)
  • Jose Lezama Lima Paradiso (1966; dt. Paradiso, 1979)
  • Guillermo Cabrera Infante Tres tristes tigres (1967; dt. Drei traurige Tiger, 1987)
  • Gabriel Garcia Marquez Cien años de soledad (1967; dt. Hundert Jahre Einsamkeit, 1970)
  • Manuel Puig La traición de Rita Hayworth (1968; dt. Verraten von Rita Hayworth, 1976); Boquitas pintadas (1969; dt. Der schönste Tango der Welt, 1975)
  • Adolfo Bioy Casares Diario de la guerra del cerdo (1969; dt. Der Schweinekrieg, 1971)
  • Jose Donoso El obsceno pajaro de la noche (1970; dt. Der obszöne Vogel der Nacht, 1975)

Wie bereits erwähnt, gab es vor dieser Dekade des internationalen Erfolges wichtige Veröffentlichungen, die bereits auf das Kommende verwiesen. Zu diesen Autoren zählt Juan Rulfo (1918-1986). Sein Werk besteht hauptsächlich aus zwei Büchern: dem Erzählband El llano en Hamas (1953; dt. Der Llano in Flammen, 1964) und dem Roman Pedro Páramo (1955; dt. Pedro Paramo, 1958). Dennoch ist sein Einfluß für die gesamte mexikanische und neue lateinamerikanische Literatur sehr groß. Seine literarische Erzähltechnik wird durch eine Verschachte-lung unterschiedlicher Stimmen und die Überlagerung verschiedener Zeiten und Erzählebenen gekennzeichnet. Die Dialoge und Monologe sind von einer gespenstischen Atmosphäre umgeben, in der schwer zu erkennen ist, wer zu wem oder wer überhaupt spricht.

Der nächste Autor, den wir erwähnen möchten, ist Julio Cortazar (1914-1984). Das Werk Cortazars umfaßt Romane, Erzählungen, Theaterstücke, Lyrik, Essays und Kurzprosa. Seine ersten Erzählungen sind in dem Band Bestiario (1951; dt. Bestiarium, 1979) gesammelt. In diesen Erzählungen verlaufen die Handlungen am Anfang unkompliziert und augenscheinlich „normal“, das heißt, sie weisen keine Spuren von phantastischen Elementen auf, bis sich die scheinbar gewöhnliche Atmosphäre auf eine überraschende Weise, von den Lesern fast unbemerkt, in eine phantastische Welt umwandelt. Sein erster veröffentlichter Roman, Los premios (1960; dt. Die Gewinner, 1966), stellt das Chaotische und Unerklärliche der menschlichen Existenz dar. Der Roman Rayuela wird bei manchen Kritikern als Cortazars Hauptwerk bezeichnet. Er ist als „Anti-Roman“ konzipiert, obwohl er auf eine Handlung nicht verzichtet. Vom Leser wird erwartet, daß er als „Komplize“ des Autors agiert, um diesem durch die Labyrinthe der verschiedenen Szenarien, romantheoretische Überlegungen, Zitate und Reflexionen folgen zu können. Dieser Roman ist im Sinne Umberto Ecos ein offenes Kunstwerk.

Der Lyriker, Essayist und Erzähler Jörge Luis Borges (1899-1986) erweist sich bei der ersten Lektüre für manche Leser als ein schwer zu verstehender Autor. Seine Schreibweise, präzis und brilliant, durch intertextuelle Verfahren – manchmal auch durch Zitate oder Verweise auf fiktive Quellen – gekennzeichnet, hat ihm ermöglicht, eine eigene und charakteristische literarische Erzähltechnik zu schaffen. Es gibt Literaturkritiker, die Borges als Autor phantastischer Erzählungen klassifizieren. Wenn man diese Klassifikation akzeptiert, dann könnte man ebenfalls sagen, Borges sei ein Philosoph. Denn Borges selbst hat in einer seiner Erzählungen die Philosophie als „einen Zweig der phantastischen Literatur“ bezeichnet. Gewiß findet man in seinen Essays und Erzählungen viele Andeutungen und Anspielungen auf verschiedene Philosophen, wie z.B. Descartes, Spinoza, Schopenhauer, Leibniz, etc., aber Borges bleibt Borges:, Er selbst ist ein Produkt seiner literarischen Technik, er hat sich selbst erfunden indem er schrieb. Borges Anregungen und literarische Einflüsse findet man sowohl in der Philosophie, zum Beispiel bei Michel Foucaults Les mots et les choses, als auch in den Arbeiten von Umberto Eco; denn er hat längst in der Weltliteratur einen wichtigen Platz eingenommen.

Das literarische (Evre des mexikanischen Schriftstellers Carlos Fuentes (geb. 1928) nimmt langsam Balzacsche Ausmaße an. Die Hauptthematik seiner Romane ist die gesellschaftliche Entwicklung Mexikos. In ihnen findet man nicht nur eine Art Gesellschaftskritik, sondern vor allem auch eine meisterliche Beherrschung verschiedener sprachlicher Varietäten, welche dem Leser einen klaren Eindruck der mexikanischen Eigentümlichkeit und ihres Wortschatzes vermitteln. Die Romanstrukturen sind durch eine Verflechtung von Historischem, Realem, Irrealem, Mythischem und Symbolischem gekennzeichnet. Eine der thematischen Linien oder Leitmotive ist die Präsenz der aztekischen Vergangenheit in der Gegenwart Mexikos. Fuentes‘ erstes Buch war Los dias enmascarados (1954), ein Erzählband, der auf die fünf letzten Tage des aztekischen Jahres [3] anspielt. Ihm folgte der Roman La región más transparente. Der Erzähler dieses Romans, Ixca Cienfuegos, ist eine geheimnisvolle Gestalt. Während er die anderen Figuren über ihre Aktivitäten und ihr Handeln befragt, schafft er gleichzeitig eine Brücke zwischen dem Mexiko von 1951 und jener präkolumbischen Vergangenheit des Landes. Sie ist das kritische Gewissen der Stadt. Diese Figur ist durch eine Vielseitigkeit charakterisiert, welche das facettenreiche moderne Mexiko darstellt. Die Suche nach einer eigenen Identität kann man auch als eines der Themen in den Romanen von Carlos Fuentes bezeichnen. Weitere wichtige Werke des Autors sind: Zona sagrada (1967), Terra Nostra (1975; dt. Terra Nostra, 1979), La cabeza de la hidra (1978; dt. Das Haupt der Hydra, 1983), Cristobal Nonato (1987; dt. Christoph, ungeboren, 1991), La campaña (1990; dt. La Cam-paña, 1990) u. a.

Vielleicht der bekannteste Schriftsteller Perus ist Mario Vargas Llosa (1936). Die Erzähltechnik seiner Romane ist meist charakterisiert durch die Verschachtelung von verschiedenen räumlichen und zeitlichen Handlungsebenen. Vargas Llosas erster Roman war La ciudad y los perros. Die dualistischer Struktur (zwei große Erzählebenen) dieses Romans wird von dem ihm folgenden, La casa verde, völlig übertroffen: Es gibt fünf Geschichten innerhalb des Ganzen, fünf Hauptpersonen und etwa dreißig Nebenfiguren. Später erscheinen: der monumentaler Roman Conversación en la catedral (1969; dt. Gespräch in der Kathedrale, 1976), der die politische Situation Perus während der Regierung des Generals Odria (1948-1956) behandelt; Pantaleon y la visitadoras (1973; dt. Der Hauptmann und seine Frauenbataillon, 1974), eine tragikomische Geschichte; La tia Julia y el escribidor (1977; dt. Tante Julia und der Lohnschreiber, 1979, später unter dem Titel Tante Julia und der Kunstschreiber, 1988), ein Roman, in dem sich z. T. biographische Daten des Autors mit der Entwicklung eines Schreibers von Radio-Fortsetzungsgeschichten abwechseln; La guerra del fin del mundo (1981; dt. Der Krieg am Ende der Welt, 1982); Historia de Mayta (1984; dt. Maytas Geschichte, 1986); Elogio de la madrastra (1988; dt. Lob der Stiefmutter, 1989) u. a. Neben Romanen hat Vargas Llosa auch Theaterstücke und Erzählungen wie Los jefes (1959), Los cachorros (1967; dt. Die jungen Hunde, 1975) geschrieben.

Nach dieser knappen Vorstellung einiger der nach unserer Meinung wichtigsten Autoren wollen wir uns den Literaturnobelpreisträgern aus Lateinamerika widmen. Wir folgen hier keiner willkürlichen, sondern einer chronologischen Reihenfolge.

Gabriela Mistral ist am 7.4.1889 in Vicuna (Chile) geboren und starb am 10.1.1957 in Hempstead/New York. Eigentlich hieß sie Lucila Godoy Alcayaga. In ihrem Pseudonym versteckt sich eine Verehrung für D’Annunzio [4] und den provenzalischen Lyriker Fredreric Mistral [5]. 1914 nahm sie in Santiago an einem Dichterwettbewerb teil und mit „Los sonetos de la muerte“ gewann sie den ersten Preis. Bereits ihre erste Gedichtssammlung Desolación (1922) vermittelt einen großen Eindruck von ihrer poetischen Gabe und der Einsamkeit ihrer Seele. Die Gedichte dieser Sammlung erzählen von der Eifersucht, Angst, Demut und Scham einer Liebe, die nie kommt. Danach erscheint die Wiegen- und Kinderliedersammlung Ternura (1924). Als ihr größtes Werk wird Lagar (1954) angesehen, dessen letzte Gedichte die Erschütterungen des Weltkrieges und des Selbstmordes eines mit ihr befreundeten Ehepaares wiederspiegeln. Ihr umfangreiches Prosawerk ist nur zum Teil editiert worden. 1945 erhielt sie als erster lateinamerikanischer Autor den Nobelpreis für Literatur.

Miguel Angel Asturias wurde in Guatemala-Stadt am 19.10.1899 geboren und starb in Madrid am 9.6.1974 an einer Krebserkrankung. Asturias studierte an der San Carlos Universität zunächst Medizin und dann Jura. 1923 promovierte er mit der Dissertation El problema social del indio. Obwohl Asturias‘ Weltruhm auf seinem Prosawerk beruht, begann er seine literarische Laufbahn als Dichter mit Rayito de estrella (1929). Wegen der Darstellungstechnik seiner Prosa hat sein Werk das Etikett „magischer Realismus“ bekommen. In diesem findet man eine starke Hinwendung zur Literatur der Mayas, insbesondere der Quiches. Ein Charakteristikum von Asturias‘ Werk ist, daß die Ebenen der Realität und einer imaginären Welt nebeneinander stehen, bei einem fast unbemerkten Verschwinden ihrer Grenzen. Ein Beispiel dafür stellt sein erstes Prosawerk dar: Leyendas de Guatemala (1930; Legenden aus Guatemala, 1960). Der französicher Dichter Paul Valery schrieb in einem Brief an Francis de Miomandre über die Legenden folgendes: „[…] sie haben mich ganz berauscht. Nichts erschien mir fremdartiger – ich will sagen, fremder für meinen Geist, meine Fähigkeit, Unverhofftes zu gewärtigen -als diese Geschichten – Träume – Gedichte, wo die Glaubensdinge, die Sagen und die Bräuche aller Zeitalter eines vielschichtigen Volkes so anmutig miteinander verschmelzen […]. Meine Lektüre war wie ein Zaubertrank, denn dieses – wenn auch kleine – Buch trinkt man mehr, als man es liest.“ Im Roman El señor presidente (1946; dt. Der Herr Präsident, 1957) wird die Diktatur Estrada Cabreras satirisch geschildert. Es ist der Roman der Degradierung und des Verlustes der Authentizität durch Angst. Der Autor übernimmt die Stimmen unseres unbestechlichen Gewissens und bringt die Deformation der menschlichen Persönlichkeit sowie ihre kalkulierend versteckte Heuchelei ans Tageslicht. Für manche Kritiker gilt Hombres de maiz (1949; dt. Die Maismänner, 1983) als Asturias‘ Hauptwerk. Es handelt sich um einen in sechs Teilen gegliederten Roman, welcher eine außergewöhnliche sprachliche und symbolkräftige Komplexität darstellt. Weitere Werke dieses 1967 mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Autors sind: Viento fuerte (1949; dt. Sturm), El papa verde (1954; dt. Der grüne Papst, 1968) , Los ojos de los enterrados (1960; dt. Die Augen der Begrabenen, 1971), Weekend en Guatemala (1956), El alhajadito (1961; dt. Don Nino oder Die Geographie der Träume, 1969), Mulata de tal (1963; dt. Mulata de tal. Eine gewisse Mulattin, 1964), Maladron (1969; dt. Der böse Schacher, 1969), Viernes de Dolores (1972), Clarivigilia primaveral (1965), La audiencia de los confines (1957), u. a.

Pablo Neruda wurde 1904 als Sohn eines Eisenbahners geboren. Er starb 1973, 12 Tage nach dem gewaltsamen Sturz Allendes in Chile. Sein eigentlicher Name war Neftali Ricardo Reyes. Neruda hatte verschiedene diplomatische Ämter in Indien, Spanien und Mexiko auszuüben. Aufgrund seiner politischen Engagements in der kommunistischen Partei mußte er während der Regierung von Gonzalez Videla (1946-1952) ins Exil gehen. Wegen seiner umfangreichen Veröffentlichungen im Bereich der Lyrik gilt Neruda als einer der wichtigsten Dichter im gesamten spanischsprachigen Raum. Die dichterische Originalität Nerudas ist bei seiner ersten Gedichtssammlung Crepusculario (1923) noch nicht sichtbar. Seme bekannten Veinte poemas de amor y una canción desesperada (1924; dt. Zwanzig Liebesgedichte und ein Lied der Verzweiflung, 1958) sind von den literarischen Strömungen des Jahrhundertbeginns geprägt: Modernismus, Neoromantik. Neben der melancholischen Grundstimmung der Gedichte muß man die in ihnen enthaltene Erotik und die Hinwendung an einer Geliebte, welche zugleich sexuelles Objekt der Begierde und Zuflucht ist, beachten. Als das Hauptwerk seiner zweiten Schaffensperiode wird Residencia en la tierra (1933 erweitert 1935, 2 Bde.; dt. Aufenthalt auf Erden, 1960, 1979) angesehen. In diesen Gedichten widmet sich Neruda der Welt der anorganischen Dinge, dennoch finden auch hier die Sexualität und die Kraft der Natur ihren Platz. Das lyrische Ich verliert seine Konturen und sieht sich dem unterdrückenden Kosmos hilflos ausgeliefert. Die Existenz wird zur Qual und ist von Ängsten und Einsamkeit erfüllt. España en el corazón (1937; dt. Spanien im Herzen, 1956) entsteht als Reaktion auf den spanischen Bürgerkrieg und stellt gleichzeitig den Beginn einer neuen Schaffensperiode dar. Das politische Engagement Nerudas wird mit diesem Gedichtband deutlicher und führt zum Canto general (1950; dt. Der große Gesang, 1953), einem in 16 Teile gegliederten lyrischen Zyklus. Um die elementare Daseinswirklichkeit des Menschen dargestellt aus der Sicht des lebenserfahrenen Autors, geht es in den Büchern Odas elementales (1954), Nuevas odas elementares (1956) und Tercer libro de las odas (1957; dt. Elementare Oden I-III). Pablo Neruda, der 1971 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, veröffentlichte noch zu Lebzeiten den Gedichtband Incitación al nixonicidio y alabanza de la revolución chilena (1973). Später erschienen verschiedene Sammlungen von Jugendschriften und Briefen sowie seine Autobiographie Confieso que he vivido. Memorias (1974; dt. Ich bekenne, ich habe gelebt. Memoiren, 1974), die, nach den Worten von Siegfried Lenz der „Gesang einer Biographie“ ist.

Gabriel Garcia Marquez, 1928 in Aracataca (Kolumbien) geboren, schrieb zunächst Filmdrehbücher und Reportagen, später Erzählungen und Romane. Garcia Marquez studierte Jura, wurde Journalist und war, bevor er 1982 den Nobelpreis erhielt, schon ein lebender Mythos. In seinem Werk vermischen sich meisterhaft Alltägliches und Mythisches, Zärtlichkeit und Grausamkeit, dargestellt mit Mitteln des Barock und Realismus, der Ironie und Groteske, der Tradition und einem eigenen literarischen Stil, der ihn unverwechselbar macht. Mit der Veröffentlichung seines Romans Cien anos de soledad wuchs das internationale Interesse an der lateinamerikanische Literatur. Dieser Roman wurde zum Bestseller in zahlreichen Ländern, da er die Bedürfnisse viele Lesern erfüllte und diverse Lesarten ermöglichte. Die einen lesen ihn als eine „Heimatgeschichte“, die anderen schreiben ausführliche Analysen über ihn. In der Tat stellt dieser Roman ein Werk der Superlative dar: ein inzwischen zu Weltliteratur gewordene Roman, in dem eine Fülle von Figuren, Namen, Schauplätzen, realen und mythischen Ereignissen und symbolhafte Darstellungen nebenaneinder stehen. Dazu kommt noch, daß die auf verschiedene Erzählebenen angesiedelten Handlungen die hundertprozentige Aufmerksamkeit des Lesers, seinen Verstand und seine Vorstellungskraft in Anspruch nehmen. Dennoch können Themen und Motive dieses Romans in den vorausgegangenen Werken zum Teil schon gefunden werden. Zum Beispiel ist Macondo bereits in G. Marquez‘ erstem Roman La hojarasca (1955; dt. Laubsturm, 1975) Schauplatz der Ereignisse. Obwohl nicht namentlich erwähnt, ist die Fiktion von Macondo auch in La mala hora (1962, autorisierte Fassung 1966; dt. Unter dem Stern des Bösen, 1966) enthalten. Weitere wichtige Werke des Autors sind: El coronel no tiene quien le escriba (1958 in der Zeitschrift ‚Mito‘ erschienen, 1961; dt. Kein Brief für den Oberst, 1968, später Der Oberst hat niemand, der ihm schreibt, 1976), El otono del patriarca (1975; dt. Der Herbst des Patriarchen, 1978), Crónica de una muerte anunciada (1981; dt. Chronik eines angekündigten Todes, 1981), El amor en los tiempos del colera (1985; dt. Die Liebe in den Zeiten der Cholera 1987), El general en su laberinto (1989; dt. Der General in seinem Labyrinth, 1989).

Octavio Paz wurde 1914 in Mexiko-Stadt geboren. Seine ersten Veröffentlichungen erfolgten 1931 in verschiedenen literarischen Zeitschriften. Zwischen 1945 und 1968 gehörte er dem diplomatischen Dienst Mexikos (in Paris, Tokio, Mexiko-Stadt) an. Der Verleihung des premio Cervantes 1981 und des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1984 folgte 1990 die Auszeichnung für sein literarisches Werk mit dem Nobelpreis. O. Paz lehnte von Anfang an sowohl die Idee einer sich selbst genügenden Kunst sowie die Forderung nach einer Vermittlung der institutionalisierten Weltanschauungen durch die Literatur ab. Sein poetisches Werk umfaßt die Bücher Libertad bajo palabra (1935-1957; dt. Freiheit, die sich erfindet 1971), Salamandra (1962), Ladere Este (1969), Vuelta (1976) y Arbol Adentro (1987) -Libertad bajo palabra ist ein Buch, das aus bereits veröffentlichten Werken zusammengestellt wurde und das Paz zufolge „allmählich entstand, über Jahre hinweg, ohne einen festen Plan“, und man kann es als das Buch der künstlerischen Entwicklung des Dichters betrachten. Es enthält neben anderen Texten Bajo tu clara sombra (1935), Aguila o sol? (1951; dt. Adler oder Sonne, 1991) Piedra de sol (1957; dt. Sonnenstein, 1977), La estación violenta (1958)-. O. Paz, der sich vor allem als Dicher versteht, hat ein umfassendes essayistisches Werk verfaßt, das nicht von seinem dichterischen Werk zu trennen ist. Beide bilden eine kritische Einheit: seine Dichtkunst ist eine Kritik an die Sprache, und seine Essays sind eine Kritik an der Welt. Zu seinen Essaybänden gehören u.a.: El laberinto de la soledad (1959; dt. Das Labyrinth der Einsamkeit, 1970), eine Charakterisierung der Mexikaner; El arco y la lira (1956; dt. Der Bogen und die Leier, 1983), Überlegungen über die Dichtung, ihren Platz in der Geschichte und in unserer Zeit; Claude Levi-Strauss o el nuevo festin de Esopo (1967), eine Einführung in den Strukturalismus und eine Auseinandersetzung Paz‘ mit dessen Gedanken über die Sprache; Sor Juana Ines de la Cruz o las trampas de la fe (1982; dt. Sor Juana Ines de la Cruz oder die Fallstricke des Glaubens, 1991), ein Buch, das einhundert Jahre der Forschung über Sor Juana kritisch beleuchtet und das einen Höhepunkt seiner Überlegungen über die Poesie und ihren Ort in der Gesellschaft darstellt, und das gleichzeitig sein ambitioniertestes Werk ist – es ist ein Beitrag zur Geschichte Mexikos und zur hispanischen Literatur, wie auch zur Geschichte der Frau. Posdata (1970) enthält Gedanken zu den Ereignissen in Mexiko 1968 und stellt eine Erweiterung von Das Labyrinth der Einsamkeit dar; La otra voz. Poesia y fin de siglo (1990, Die andere Stimme. Dichtung und Jahrhundertende) umfaßt Aufsätze über Natur und Geschichte des Langgedichts sowie Studien zur Moderne, zum Mythos und zur Revolution in ihren jeweiligen Beziehungen zur Lyrik; und La llama doble. Amory erotismo (1993; dt. Die Doppelte Flamme Liebe und Erotik, 1995), ein Essay, in dem er ausgehend von der engen Verbindung der drei Bereiche Sexualität, Erotik und Liebe eine Kulturgeschichte der Liebe entwickelt. O. Paz ist ein hispanoamerikanischer Poet, der Lateinamerika die Türen zur Weltliteratur endgültig geöffnet hat.

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[1] Cfr. Strausfeld, Michi (Hrsg.): Lateinamerikanische Literatur. Suhrkamp. 1989 S. 9-26.

[2] Der Ausdruck „magischer Realismus“ entstammt der Kunstgeschichte. Er wurde in der sogenannten Malerei der „Neuen Sachlichkeit“ angewandt, um die „magische Dimension“, die überpräzise Darstellung der Realität zu bezeichnen. Es ist der Punkt, wo man eine Parallelität zur lateinamerikanischen Literatur findet: Hinter einer alltägliche Realität befindet sich eine zweite, mythische oder magische Wirklichkeit.

[3] Das aztekische Año Solar („Sonnenjahr“) zählte 360 plus 5 Tage. Die Azteken haben den Wechsel von einem Zyklus in den anderen als das Ende eines Lebenszyklus und den Anfang des nächsten verstanden.

[4] Gabriel D’Annunzio (1863-1938), italienischer Dichter, Romancier und Dramaturg.

[5] Fredreric Mistral (1830-1914). Er bekam 1904 zusammen mit dem Spanier Jose Echegaray den Nobelpreis für Literatur.

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