Eigener Herd ist Goldes wert?
Vilas miserias, favelas, poblaciones, barriadas – die Bezeichnungen sind Legion, ebenso wie die Träger dieser Bezeichnungen Legion sind: Elendsviertel in Lateinamerika. Etwa die Hälfte der Bevölkerung lateinamerikanischer Metropolen lebt in Elendsquartieren, mitunter sind es auch mehr. Allein in den letzten vierzig Jahren hat sich die Zahl der Bewohnerinnen dieser Viertel mehr als verdoppelt, und ein Ende dieser Entwicklung ist nicht abzusehen. Wie überall in der Dritten Welt treibt es die anderswo „überflüssig“ Gewordenen in die Städte, vor allem in die Großstädte, in der vagen Hoffnung, wenigstens dort einen Platz zum Leben, eine Existenz zu finden, sei diese auch noch so bescheiden. Den Zuwanderern bleibt in der Regel nur, irgendwo ein Stück Land zu besetzen und sich eine Hütte zu bauen, ohne auf den Segen der Behörden zu warten. Gelingt ihnen das, dann sind sie bereits privilegiert, es gibt genug Menschen in diesen auswuchernden Städten, denen nicht einmal das gelingt. Die wilden Viertel werden aus „kosmetischen“ Gründen regelmäßig abgerissen und entstehen meist unmittelbar darauf an anderer Stelle neu. Wo sollten ihre Bewohnerinnen sonst auch hin? Ein Kreislauf ohne Ende, die berühmte Katze, die sich in den Schwanz beißt. Abhilfe schafft hier nur die Bereitstellung von regulärem Wohnraum für die Betroffenen. Das können und wollen die Regierungen dieser Länder aber nicht leisten. Weil es den armen Ländern der Dritten Welt an Geld fehlt, sind sie nicht in der Lage, ausreichend Wohnraum für alle zur Verfügung zu stellen. Zudem widerspräche das den Gesetzen der Marktwirtschaft, wo der Wohnungsmarkt nicht zuletzt vor allem über das Geld gesteuert wird. Und wer das nicht hat, bleibt eben draußen. In einigen Metropolen des lateinamerikanischen Subkontinents bleiben inzwischen die meisten draußen.
Nun ist es nicht so, als würden die Regierungen des Kontinents (und der Dritten Welt überhaupt) überhaupt nichts unternehmen, um dieses Problem zu lösen. Solche Versuche, so belegen Mathéys Untersuchungen, blieben aber bisher im allgemeinen erfolglose Unterfangen. Spätestens seit Kennedys alliance for progress versuchen auch immer wieder westliche Industriestaaten, bestimmte Auswüchse des Elends zu beseitigen; die Weltbank macht es sich zur Aufgabe, Selbsthilfe-Projekte in der Dritten Welt zu fördern. Der Fehlschlag der alliance (gedacht als Gegengewicht zur kubanischen Revolution) ist Geschichte und im Zusammenhang mit den Weltbank-Projekten sprechen Experten inzwischen von „notorisch verfehlten Zielgruppen“. Nicht die Ärmsten der Armen kommen in den Genuß der Förderung, sondern ohnehin Aktive und zumindest über geringe finanzielle Mittel Verfügende können sich mit Hilfe von Projekten ein bescheidenes Heim bauen. Die dabei erreichte punktuelle Sanierung der Slums soll hier nicht abgewertet werden, für viele Betroffene ermöglicht das die Schaffung wenigstens annähernd menschenwürdiger Behausungen. An der Wurzel wird das Problem damit nicht gepackt, alle bisher durchgeführten Projekte erwiesen sich als wenig effektiv. Aber genau darum geht es dem Architekten, Stadtplaner und Soziologen Mathéy. Bei seinen Forschungen stellte er sich vor allem die Frage nach den Folgen solcher Projekte, einerseits für die Betroffenen und andererseits für die generelle Lösung des Problems. Als Modellfall dient ihm Kuba. Das sozialistische Kuba, gleichermaßen gelobt und beschimpft, nimmt eine Sonderstellung in Lateinamerika ein, nicht zuletzt auch im Wohnungsbau. In Kuba heißen die Elendsquartiere barrios insalubres, unsaubere Viertel. Ja, es gibt sie auch in Kuba, die informellen Wohngebiete, mit einfachsten Mitteln gebaut und mit primitivsten hygienischen Standards. Sie sind Relikte der Batista-Zeit (Alt-Havanna) bzw. „Ergebnis“ des staatlichen Wohnungsbaus, der es einfach nicht schafft, genügend Wohnungen in den rasch wachsenden größeren Städten (z.B. Havanna, Santiago, Vila Clara) zu bauen. Also helfen sich die neuen Bewohnerinnen selbst, wie in anderen Städten Lateinamerikas auch. Aber, genau besehen ist hier doch alles ganz anders. In Havanna z.B. leben lediglich 2,5% der Bevölkerung in barrios insalubres. Unterscheiden sich die Wohnstandards nicht wesentlich von denen ähnlicher Viertel in Caracas oder Bogota, so sind die betroffenen Kubaner vollständig in die soziale Infrastruktur einbezogen und genießen eine gleichwertige gesundheitliche Betreuung. Wie Mathey feststellte, haben barrio-Bewohnerlnnen unter Umständen sogar eine höhere Qualifikation und verfügen über ein höheres Einkommen als die Durchschnitts-Kubanerlnnen. „Nur“ eine Wohnung haben sie nicht. Wohnungsnot kennt man auch in Kuba. Um hier Abhilfe zu schaffen, schließlich gilt die Wohnung in Kuba als ein soziales Gut, wird zur Selbsthilfe gegriffen. Mathéy unterscheidet drei Formen des Selbsthilfe-Wohnungsbaus auf der Insel: die informelle Selbsthilfe („Landbesetzungen“), die staatlich geförderte Selbsthilfe und die micros. Vor allem die dritte Form interessiert ihn, da sie im Unterschied zu den beiden erstgenannten im wesentlichen eine kubanische Erfindung ist. Micros sind Baubrigaden, deren Mitglieder entweder von ihren Betrieben für einen bestimmten Zeitraum freigestellt werden (bei voller Bezahlung) oder neben ihrer regulären Berufstätigkeit nach Feierabend und an den Wochenenden auf dem Bau arbeiten.
Micros bauen Wohnungen für sich und für die Allgemeinheit. Einzig geltende Kriterien bei der Wohnungsvergabe sind die Bedürftigkeit und die gesellschaftliche Leistung des Antragstellers. Darüber wird demokratisch abgestimmt, ich betone: demokratisch, nach oft höchst langwierigen Diskussionen. Die Arbeit der micros ist sehr effektiv, effektiver als der staatliche Wohnungsbau, was für diesen nicht ohne Folgen bleibt (nicht unbedingt im positiven Sinne). Die Wohnstandards sind, im Gegensatz zu Selbsthilfe-Projekten anderer lateinamerikanischer Staaten, nicht geringer als im staatlichen Sektor.
Mit einem umfangreichen empirischen Material unterlegt, versucht Mathey, die kubanischen Microbrigaden und ihre Tätigkeit einer gründlichen Prüfung zu unterziehen, und zwar anhand der in der Literatur bisher für oder gegen Wohnungsbau-Selbsthilfe-Projekte vorgebrachten Argumente. Ist das Modell der micros bzw. Teile desselben in der Dritten Welt (und darüber hinaus) einer Verallgemeinerung würdig und fähig?
Dient der Selbsthilfe-Wohnungsbau der Disziplinierung und „Einpassung“ marginalisierter Schichten in das bestehende gesellschaftliche System? Oder führt er zu einer neuen, sozialeren Lebensweise? Führen Selbsthilfe-Projekte auch in Kuba zwangsläufig zu einer Kommodifizierung? Hilft diese Form des Wohnungsbaus, Kosten zu senken und die Eintönigkeit des staatlichen Wohnungsbaus zu durchbrechen? Welche generellen sozialen Auswirkungen haben solche Projekte in einem Entwicklungsland?
Die Antworten auf diese Fragen können hier nicht referiert werden, das würde den Rahmen einer Rezension sprengen. Dem Leser sei die eigene Lektüre empfohlen. Verraten sei noch, daß die Antwort Mathéys weitestgehend zugunsten der micros ausfällt, ohne ihre Nachteile zu verschweigen. So wie das Buch überhaupt voller Sympathie für das kubanische Experiment ist; wobei das nicht als Vorwurf verstanden werden soll, zumal sich Mathéy jeder Lobhudelei enthält. Lesenswert ist das Buch auch mit Blick auf den deutschen Wohnungsmarkt, wo man versucht, der Wohnungsnot mit Selbsthilfe und Privatisierung beizukommen. Nicht eben erfolgreich. Mathéys Buch zeigt, daß es auch anders geht. Das ist zumindest bedenkenswert.
Bei so viel Lob sei jetzt auch noch eine Kritik erlaubt: fehlende Buchstaben und Wörter gestalten das Lesen des ansonsten (m.E. auch für Nichtsoziologen und -architekten) interessanten und lesenswerten Buches stellenweise zu einer Kunst und zwingen gelegentlich zur Deutung einzelner Passagen.
Kosta Mathéy
Kann Selbsthilfe-Wohnungsbau sozial sein?
Erfahrungen aus Cuba und anderen Ländern Lateinamerikas.
LIT-Verlag Hamburg und Münster 1993.