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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Printausgaben

Ludwig, Egon: Música Latinoamericana

Gabriele Töpferwein | | Artikel drucken
Lesedauer: 4 Minuten

Aus 50.000 lexikalischen Einheiten hat Egon Ludwig 6.000 Stichworte für sein Lexikon Música Latinoamericana ausgewählt. Herausgekommen ist ein Wälzer mit immerhin 710 Seiten, der die lateinamerikanische Musik von ihren Anfängen bis zur Gegenwart dokumentieren soll. Was ja nun ein sehr großer Anspruch ist. Das Buch ist zwar schwer, aber leicht zu lesen. Und man liest sich auch leicht fest. Der Leser findet eine Fülle von Interpreten, Musikstilen, Instrumenten, Tänzen, die wahrlich unüberschaubar erscheint. Insofern ist das Buch eine Fundgrube für allgemein an lateinamerikanischer Musik Interessierte. Man freut sich, daß endlich ein Lexikon zum Thema erschienen ist, und ist nach erster Lektüre seltsam frustriert. Warum will eigentlich keine rechte Begeisterung aufkommen?

Nun, es ist z.B. einfach nicht festzustellen, nach welchem Prinzip die 6.000 Stichworte ausgewählt wurden. Es wäre schon hilfreich gewesen, wenn der Autor zunächst erklärt hätte, was er unter lateinamerikanischer Musik versteht, schon um eine ganze Reihe von Stichworten zu begründen: Reggae, Steel Band, Country und Western Music, Caterina Valente, Joan Serrat, Joan Baez etc. Mitunter ist da zumindest Irritation angebracht. Etwas irritierend ist auch die bisweilen gestelzte Sprache – muß man unbedingt schüttelidiophones Musikinstrument schreiben? Wirklich problematisch wird es aber hinsichtlich der ausgewählten Künstler: Hier sind die Angaben nicht selten ungenau, veraltet und die Auswahl ist generell lückenhaft und mitunter einfach nur unverständlich im gegebenen Zusammenhang (s.o.).

Illustrieren wir das Ganze an einem mehr oder weniger überschaubaren Beispiel, das mit einer kleinen Internet-Recherche leicht zu überprüfen war: den Parras aus Chile. Allein neun Einträge finden sich zu dieser Familie, von Ángel Parra Cereceda bis zu Peña de Los Parra. Von diesen neun sind zwei (Los Parra de Chile und Hermanas Parra) als eigenständige Stichworte schlicht überflüssig, eine Information bei den jeweiligen Künstlern hätte ausgereicht.

Also, da wären zunächst die Alten: Nicanor Parra Sandoval, Roberto Parra León (Sandoval?), Violeta Parra Sandoval (nebst Hermanas Parra). Der Dichter Nicanor ist der Bruder von Violeta, nicht der Neffe, wie im Lexikon behauptet. Er wurde als Textautor aufgenommen. An Autoren findet man z.B. auch Nicolás Guillén und José Martí, nicht aber Pablo Neruda, Gabriela Mistral oder José Fernández, um nur die zu nennen, die im Buch immerhin erwähnt werden.

Die zweite Generation ist vertreten durch die Geschwister Ángel und Isabel, die Kinder von Violeta. Die heißen übrigens beide Cereceda Parra, aber das nur am Rande. Isabel und Ángel sind seit langem als Solisten, Duo und als Mitglieder verschiedener Formationen bekannt, von denen Los Parra de Chile die wohl beständigste ist. Das Stichwort zu dieser Gruppe ist nicht nur nichtssagend, sondern auch noch weitgehend falsch. Als die Geschwister 1964 die Peña de Los Parra gründeten, war ihre Mutter Violeta noch in Europa (sie gründete später ihre eigene Peña). Unter Ángel Parra Cereceda finde ich: „trat im In- und Ausland auf Konzerten und Festivals auf“. Ja, hat er sich von der Bühne zurückgezogen, ist er nicht mehr am Leben?

Mit Cristina „Tita“ Parra hat Ludwig auch die dritte Generation der „irren Familie“ (Poli Délano) aufgenommen. Tita ist die Tochter von Isabel. Sie hatte schon als Kind mit Mutter, Onkel und ihrer berühmten Großmutter auf der Bühne gestanden und war irgendwann in den Siebzigern auch in der DDR aufgetreten. Daher kennt der Autor sie vermutlich.

Nicht in der DDR oder in Deutschland aufgetreten sind Ángel Parra jr. und Javiera Parra. Die Kinder von Ángel (Cereceda) Parra sind aber, will man den chilenischen Medien glauben, in der aktuellen Rock- und Jazzszene Chiles höchst angesagte Musiker. Im Lexikon finde ich sie allerdings nicht.

Und das, so denke ich, ist das größte Manko des vorliegenden Lexikons: Es ist veraltet. Die wenigen aktuellen Einträge – wie Buena Vista Social Club, Santana, Ricky Martin etc. – ändern nichts an der Tatsache, daß die aktuelle Popmusik Lateinamerikas (Rock, Jazz) im Lexikon faktisch nicht existent ist. Aufgenommen wurde im Prinzip nur das, was auch in der westlichen Popszene bekannt ist; wohl mehr als Alibi, um die Fans nicht ganz zu enttäuschen. Schließlich bezieht man sich ja ausdrücklich auf den Latino-Boom. Die Informationen zu Musikern, Stilen etc. hören im allgemeinen spätestens in den achtziger Jahren auf. Das illustriert sehr anschaulich die Diskographie im Anhang, wo sich neuere Aufnahmen kaum finden (Nicaragua fehlt dort völlig). Generell sind Musiker, die nach 1960 geboren wurden, die absolute Ausnahme.

Vielleicht sollte man den Untertitel um den Zusatz „bis 1980“ (oder so) ergänzen. Von Vorteil wäre auch ein guter Lektor, um die Verwirrung bei den Namen (siehe Familie Parra) und die ärgerlichen Tippfehler zu beseitigen (wurden Los Lobos wirklich schon 1947 gegründet?).

Übrigens: Im Internet findet man eine Fülle von Informationen zum Thema (z.B. auf den Homepages von Musikern), die einer Aktualisierung des Lexikons sehr dienlich wären.

Egon Ludwig
MÚSICA LATINOAMERICANA
Lexikon der lateinamerikanischen Volks- und Populärmusik
Schwartzkopf & Schwartzkopf Verlag, Berlin 2001

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