Ricardo de la Fuente ist Schriftsteller – und Migrant. Was liegt also näher, als dass er eine Geschichte über Migration schreibt, den Millionen Menschen gewidmet, die an einem anderen Ort sterben werden als an dem, an dem sie geboren wurden. „Tagua. Una historia de ultramar“ (auf deutsch: „Tagua. Eine Geschichte aus Übersee“) ist eine solche Erzählung, angesiedelt in der Provinz Manabí in Ecuador, der neuen Heimat des Fremden.
Im Mittelpunkt steht aber die Tagua-Palme, deren Früchte ein pflanzliches Elfenbein abgeben. Die Pflanze ist begehrt, vor allem bei der Textilindustrie, denn sie liefert den Rohstoff zur Herstellung von Knöpfen aller Art. Und als Deutschland sich anschickt, Europa zum zweiten Mal im 20. Jahrhundert mit einem furchtbaren Krieg zu überziehen, braucht man viele Knöpfe, um die Uniformen zusammenzuhalten.
Das Buch beginnt denn auch in Deutschland, wo sich Rudi, Klaus und Hans auf eine Anzeige hin für „eine interessante Aufgabe in Übersee“ verpflichten, vor der Arbeitslosigkeit und den bis in die Familien hineinreichenden politischen Debatten des Jahres 1936 flüchtend. Sie reisen ins Blaue und erfahren erst bei ihrer Ankunft in Manta, dass sie in der Casa Tagua arbeiten werden. Fortan sammeln, sortieren und verschiffen sie Tagua-Früchte ins Reich.
Nach diesen Ereignissen in Deutschland und Ecuador führt Ricardo de la Fuente den Leser mit einem Zeitsprung ins Jahr 1858 nach Mailand. Protagonisten sind jetzt die Familienangehörigen der Zanchettis, übrigens keine Migranten, sondern Ur-Italiener und seit Generationen im Gewerbe der Knopfmacher tätig. Sie fertigen aus allen Materialien Knöpfe, neuerdings auch aus pflanzlichem Elfenbein, dem wundervollsten Werkstoff von allen: leicht zu bearbeiten, trotzdem fest und haltbar, zudem billig – ja, wenn es ihnen nicht einige halsabschneiderische Deutsche zu Monopolpreisen verkaufen würden. An den Deutschen ging aber kein Weg vorbei, da nur sie wussten, wo die Taguanüsse in Natura zu finden waren.
Diese einzelnen Erzählstränge finden zunächst nur schwer zueinander. Von den drei deutschen Emigranten entwickelt sich Rudi von Anfang an zur Schlüsselfigur, während die beiden anderen blass und Beiwerk bleiben. Auch der historische Ausflug nach Italien steht ziemlich lange isoliert. Als der Autor diesen Teil der Geschichte wieder aufgreift, sind so viele Seiten gelesen, dass man als Leser zurückblättern muss, um sich das Geschehen wieder ins Gedächtnis zu rufen. Trotzdem bildet diese Erzählung innerhalb der Handlung später einen gut konzipierten runden Rahmen.
Der Alltag der drei Migranten in der Casa Tagua ist geprägt von ihrer neuen, ungewohnten Umgebung in der Ferne. Viel Zeit für Entdeckungen oder Reisen bleibt ihnen aber nicht. Erst als Rudi und sein Vorgesetzter Manta eines Tages verlassen, um sich auf die Suche nach neuen Lieferanten der Tagua-Frucht zu begeben, nimmt die Handlung abrupte Wendungen. Wie anders ist doch das Leben inmitten der Selva, wo Schwärme von mosquitos die Reisenden damals wie heute piesacken. Rudi gefiel dieses grüne Paradies trotzdem. Und er verfiel den weiblichen Schönheiten des Dschungels. Aber die Zeit war noch nicht reif für eine inter-nationale Liebe, für eine Liebe zwischen einer selvática und einem Deutschen, einem Deutschen zudem, der durch seinen Chef auch in Ecuador die Reichweite der Rassegesetze zu spüren bekam, einem Deutschen, für den das Konzept des Ariers etwas vollkommen Irrsinniges war, einem Deutschen, der nicht über seinen Schatten springen konnte. Dieser Strang der Handlung schwebt inhärent über dem Rest der Erzählung: Werden Rudi und Ligia den Umständen zum Trotz zusammen finden?
Ein Jahr später wagt es Rudi, auf eigene Faust und ohne Erlaubnis seiner Vorgesetzten, zurückzukehren in die Selva. Auch wenn sich die äußeren Umstände geändert haben, die amouröse Verbindung zwischen Rudi und Ligia ist fester denn je. Aber der heimliche Ausflug hat für den Protagonisten schlimme Folgen. Nicht einmal der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges macht bei seinen Vorgesetzten dieses Vergehen vergessen. Es kommt zum Zerwürfnis. Rudi flieht und geht den Weg des Zufalls. Er lernt zu überleben in einer neuen Welt, isoliert von Fortschritt und „Zivilisation“, die sich noch über Jahre im Krieg befinden sollte. Neue Freunde helfen ihm. Neue Feinde trachten ihm nach dem Leben. Das Gesetz des Dschungels allein entscheidet, ob er noch einmal den Weg zurück zu Ligia findet, ob er ein neues Dasein als Migrant mit Familie auf fremden Boden beginnen kann.
Doch der Weg zurück zur Casa Tagua ist ein für allemal verschlossen. 1942, nachdem der 2. Weltkrieg auch die USA und den lateinamerikanischen Kontinent erreicht hatte, landen sowohl die deutsche Tagua-Exportfirma als auch ihre inzwischen etablierte italienische Konkurrenz auf der „schwarzen Liste“. Schließlich, ohne Abnehmer ihrer Produkte, gehen beide Handelshäuser bankrott. Und auch für die Deutschen, Italiener und Japaner im Land bedeutet der Krieg ihrer ursprünglichen Heimatländer bald Gefangenenlager in der Fremde. Kann sich Rudi all dem entziehen?
Ricardo de la Fuente ist mit „Tagua. Una historia de ultramar“ eine spannende Geschichte gelungen, die Regionales mit dem Weltgeschehen verknüpft, Menschenschicksale verwebt, die Zufälle der Migration offenbart. Ja, es ist ein Appell für Völkerverständigung.
Angesichts dessen schaut man als Rezensent gern über die kleineren Schwachpunkte des Buches hinweg. Trotzdem reibt man sich als deutscher Leser des spanischen Originals immer wieder die Augen: Der Autor hat mit Vorliebe einige deutsche Wörter in die Erzählung einfließen lassen, sie aber mehrheitlich in Schreibform oder gemäß ihrer Aussprache (manchmal beides) dem Spanischen angepasst. Das sieht lustig aus. Für eine weitere Auflage sollte jedoch dringend eine Korrektur erfolgen.
An einer Stelle macht Ricardo de la Fuente auch stilistisch einen ungewollten Zeitsprung. Als Rudi im Jahr 1936 einen dicken Geographieband in der Hand hält, kann er die Hauptstadt Ecuadors wegen der „Schriftgröße 6“ (Computersprache!) kaum lesen (S. 21). Zudem passiert ihm ein historischer Lapsus bei der deutschen Nationalflagge, die 1936 bereits drei Jahre lang nicht mehr schwarz-gelb(??)-rot(??) war (S. 39).
Abgesehen von diesen Kleinigkeiten ist es ein gelungenes Buch. Den Leser erwartet eine facettenreiche Entführung in die Provinz Manabí und ins Ecuador im zweiten Viertel des 20. Jahrhunderts. Und er erfährt, wie verschlungen die Wege der Migration sein können.
Vielleicht gibt es das Buch bald auch auf deutsch. Eine Übersetzung liegt bereits vor. Derzeit sucht der Autor einen Verlag in Deutschland. Die Geschichte des Migranten Rudi käme dann an ihren Ausgangspunkt zurück.
Bildquelle: Quetzal-Redaktion, am
Ricardo de la Fuente
Tagua. Una historia de ultramar
Manta/Ecuador, 2010