Ein Prozent der brasilianischen Bevölkerung, wenn es hoch kommt, sind heute noch Indianer. Ihre Zahl ist über die Jahrhunderte kontinuierlich gesunken. Sie verteilen sich, entgegen weitverbreiteten Annahmen, über das ganze Land, leben nicht etwa nur in der ansonsten menschenleeren nördlichen Landeshälfte der „Amazônia legal“, des gesetzlich umschriebenen Amazoniens. Sogar in São Paulo, dem am höchsten industrialisierten und am dichtesten besiedelten Bundesstaat, gibt es noch über 3.500 von ihnen. Hier, wie in anderen Bundesländern außerhalb Amazoniens, machen sie allerdings nur einen Prozentsatz von 0,1% der Bevölkerung aus, im Norden dagegen 10%. Welche Rolle spielt diese Minderheit in der Gesellschaft, in welchem Zusammenhang tritt sie in der Öffentlichkeit in Erscheinung und von wem wird sie unterstützt? Dieser Frage widmet sich der erste Teil des folgenden Textes; der zweite Teil vertieft und hinterfragt einen der vorgefundenen Aspekte des indianischen „Image“: den des Naturhüters; der dritte Teil schließlich zeichnet ein kurzes Bild des diesbezüglichen Rechts.
Es scheint eine ambivalente Rolle zu sein, die den Indianern zukommt, eine ungeliebte und doch zugleich respektierte. Das hartnäckige Festhalten an ihrer traditionellen Lebensweise und Kultur und deren beharrliche Verteidigung gegen die übermächtige Zivilisation macht sie unbequem und lässt sie andererseits Bewunderung und begeisterten Fürspruch ernten. Für die meisten Brasilianer sind die indianischen Kulturen ein identitätsstiftendes und wesentliches Charakteristikum ihrer Nation, ebenso wie die natürliche Vielfalt in den fünf geografischen Großräumen des Landes.
Zunächst einmal erscheinen sie in den Medien und der öffentlichen Diskussion am spektakulärsten im Zusammenhang mit „Minderheitenschutz“, mit „indianischen Rechten“, vor allem mit dem Recht auf Land. Hier ist es immer wieder die Demarkierungsproblematik indianischer Gebietsgrenzen, sind es immer wieder Landkonflikte zwischen ihnen und Siedlern, Goldsuchern, Holz- und Erdölfirmen, über die Meldungen zu hören sind.
Außerdem, und das ist natürlich verknüpft mit dem eben Genannten, werden sie im Zusammenhang mit der Regenwaldproblematik, mit Regenwaldschutz genannt. Die Medien beschwören sie oft als Anwälte der Natur, als ein vorbildhaftes Beispiel für den nachhaltigen Umgang mit biotischen Ressourcen und fragilen tropischen Ökosystemen, als Vorbild für ein Leben in Harmonie mit der Natur. Manche modernen sozialen und grünen Bewegungen wie „Vida Verde“ im Nordosten Brasiliens, in Recife, entwerfen neue Konzepte des (Zusammen-) Lebens, die an die Lebensweise der „Nicht-Zivilisierten“ gemahnen: man strebt eine stärkere Rückbesinnung auf die Natur und auf die Werte eines engen Gemeinschaftslebens in der Nachbarschaft an, versucht, Werte der modernen Konsumgesellschaft durch ethische Leitlinien wie Respekt vor der Schöpfung und erhöhte Bewusstheit im Umgang mit dem Nächsten zu ersetzen. Es soll übrigens auch Behörden geben, welche Indianer zur Beratung für Nachhaltigkeitsstrategien heranziehen, die im Rahmen der Agenda 21 seit Rio-92 von Brasilien zu entwickeln sind. Dazu zählt die gezieltere und umfassendere Nutzung der biologischen Vielfalt des Regenwaldes, der als Verbund extrem störanfälliger Ökosysteme herkömmliche, aus Europa importierte Nutzungsformen nicht erlaubt.
Die Fürsprecher und Sympathisanten der Indianer setzen sich, entsprechend den beschriebenen „öffentlichen Rollen“, aus mehreren Gruppen zusammen. Die erste Gruppe sind die bereits erwähnten sozialen Bewegungen, die nach Alternativen zu dem als überwiegend negativ empfundenen Leben im globalisierten Kapitalismus suchen; zu ihr gehören auch Menschenrechtler. Die zweite Gruppe sind Naturschützer, die dritte sind „Kulturschützer“. Alle Gruppen sind heterogen, die beiden letzten setzen sich nicht nur aus praktisch tätigen Leuten, sondern auch aus Wissenschaftlern wie Anthropologen, Ethnologen, Biologen und Humanökologen zusammen. Sie sind auch nicht scharf trennbar, die Zwecke und Ziele durchmischen sich. Dafür ein Beispiel: Einerseits werden vielfältige Kulturvarianten wie die der amazonischen Indianer von Anthropologen schon an sich und ohne weiteres als Wert angesehen und das zu beobachtende, allmähliche Verschwinden dieser Kulturen „vielleicht [als] eine der größten Tragödien unserer Zeit“ bezeichnet; andererseits führt man an, dass der Indianer ein „wahrer Ökologe“ sei, der den Wald verehrt und Ehrfurcht vor ihm hat. Hier kommt abermals das Argument des Nachahmens und Lernens vom Indianer ins Spiel: „Der Indianer kennt den Wald, wie kein moderner Ökologe ihn möglicherweise kennen wird, deshalb ist es wichtig, von ihm lernen zu können; dies wiederum setzt voraus, dass seine Kulturen erhalten werden.“ [1] Die Kenntnisse der Urbevölkerung im Umgang mit der Natur werden als notwendig erachtet, um den Prozess der Genesung der Umwelt in Gang zu setzen und den Diversitätsreichtum Amazoniens mit mehr Wissen zu handhaben. Ein sehr wichtiges Stichwort in diesem Zusammenhang ist Anpassung (adaptação). Die Anpassungsmechanismen von indigenen Gesellschaften an ihre natürliche Umwelt zu erforschen, ist z.B. ein Ziel der Humanökologie. Denn die Anpassungsstrategien dieser Gesellschaften bieten Lösungen für das Problem an, wie man die konfligierenden Ziele „Erhaltung“ und „Entwicklung“ des Regenwaldes verbinden und miteinander vereinbaren kann.“ Die zivilisierten Menschen können also von den Indianern einen schonenden Umgang mit der Natur lernen. Diese haben ein angemessenes Verhältnis zur Natur aufgebaut, das für jene unter ökologischen Gesichtspunkten nachahmenswert ist. Die Rolle des Indianers als Vorbild für Umgang mit der Natur wird immer gewichtiger, je weiter und stärker das Umweltbewusstsein in Brasilien um sich greift.
Man erkennt zunehmend, dass der Umgang der Kolonisatoren mit der amazonischen Natur durch die Jahrhunderte hindurch und noch heute ökologisch unangemessen war und ist. Was das bedeutet, erläutert ein Vertreter der Humanökologie: Gegenwärtig wird Amazonien mit Methoden der Nutzung ausgebeutet, die aus anderen Gegenden stammen und häufig seiner Charakteristik nicht gerecht werden. Die Natur in der Region ist von einer ungeheuren Komplexität und Heterogenität geprägt, die der Indianer besser erfassen kann als der Einwanderer. In der Tat spiegelt die Vielfalt der zahlreichen Indianerstämme die natürliche Heterogenität wider und lässt auf eine optimale Anpassung schließen. Amazonien ist, ökologisch wie ethnologisch gesehen, keine homogene Region. Sie ist ein ökologisches Mosaik aus vielen interdependenten Ökosystemen. Ebenso vielfältig und verschieden wie die Natur sind ihre Bewohner. Deren kulturelle und technische Verschiedenheit rührt einerseits von der Anpassung an ihre jeweilige Umwelt, andererseits von verschiedenen historisch-kulturellen Unterschieden her. [2]
Das Recht spiegelt die ambivalente Rolle der indianischen Minderheit in der Gesellschaft wider: gleiche Rechte wie allen Bürgern (zumindest potenziell, zu den Bedingungen siehe weiter unten), Respekt vor ihren Sprachen, Kulturen und Sitten sowie Besitzrecht an ihren angestammten Gebieten (und zwar unabhängig von der vieldiskutierten „Demarkierung“) sichern ihnen die Bundesverfassung und viele Landesverfassungen zu; andererseits ist Ziel des „Indianerstatuts“ von 1973, des Haupt-Regelungswerks im Zusammenhang mit den Ureinwohnern, die Indianer nach und nach in die Zivilisation zu integrieren, ihnen Häuser und Schulen zu bauen und sie an den Vorzügen der modernen Lebensweise teilhaben zu lassen. Man gewinnt das Gefühl, der Souverän habe sich der Kontrolle über die Außenseiter versichern wollen, wie eine ängstliche Mutter, die dazwischen schwankt, ob sie dem Freiheitsdrang ihres widerborstigen Kindes nachgibt oder dem eigenen Bedürfnis nach Sicherheit. Manche der Bürgerrechte wie Prozessfähigkeit vor Gericht, aber auch Subventionen des Staats knüpfen an ein Mindestmaß von „Integriertheit“ an. Zu diesem Zweck unterscheidet das Gesetz drei sukzessive Stufen der Integration, wobei jeweils eine Überführung in die nächsthöhere Stufe der Integration angestrebt werden soll.
Im Gegensatz zu dem oben nachgezeichneten Bild der Medien, die die Indianer als Hüter der Natur und vor allem des tropischen Waldes darstellen, stehen Meldungen über Konflikte zwischen Ureinwohnern und Naturschutzbehörden, etwa über die Vertreibung indianischer Gruppen aus Naturschutzgebieten durch das staatliche Naturschutz-Institut IBAMA [3]. Der rechtliche Zusammenhang zwischen Indianern und Naturschutz ist also nicht etwa klar und eindeutig. Denn das Institut IBAMA beruft sich bei seinen Aktionen auf Bestimmungen des nationalen Naturschutzrechts und macht geltend, dass manche Naturschutzgebietstypen von Rechts wegen jegliche menschliche Besiedlung verböten – auch die durch Indianer. Das Recht ist also gekennzeichnet durch eine innere Spannung, die sich an einem der wichtigsten Rechte der Indianer, dem Landrecht, gut nachvollziehen lässt: Indianerschutz und Naturschutz greifen einerseits ineinander, wenn von Indianern traditionell und rechtmäßig besiedelte Gebiete von jeglicher Nutzung durch nicht-indigene Bevölkerungsgruppen ausgenommen werden und etwa die Ausbeutung von Bodenschätzen und biotischen Ressourcen durch Nicht-Indianer verboten wird (diese Regelung zur Sicherung indigener Landrechte hat einen stark naturschützerischen Nebeneffekt). Andererseits kollidieren die Interessen der Ureinwohner am ungestörten Besitz ihres Landes in der oben genannten Weise mit Naturschutzregelungen. Abgesehen von der rechtlichen Lage und praktisch betrachtet, fragt es sich freilich angesichts knapper personeller und technischer Ressourcen der staatlichen Organe zur Überwachung von Naturschutzgebieten, ob die Behörde nicht klüger daran täte, sich die Anwesenheit von indigenen Gruppen in einem naturbelassenen Gebiet zunutze zu machen und mit ihnen zu kooperieren, indem sie ihnen die Kontrolle des Gebiets überlässt – Arbeitsteilung gewissermaßen. Dagegen scheinen Studien zum Einfluss indianischer Besiedlung auf die Biodiversität in Waldgebieten zu sprechen, die zu dem Ergebnis gekommen sind, dass die Artenvielfalt durch Indianer auch bei traditioneller Lebensweise dezimiert wird. Und die Erhaltung der Artenvielfalt ist ein gesetzlich erklärtes Ziel, nicht erst seit Übernahme des internationalen Übereinkommens über die biologische Vielfalt („Biodiversitätskonvention“) ins nationale Recht Brasiliens im Jahr 1994. Angesichts der zu befürchtenden möglichen Alternative, nämlich gar keine oder unzureichende Kontrolle der Gebiete und ungehemmter Raubbau mit der Folge einer viel größeren Dezimierung und Zerstörung, ist es im Ergebnis klüger, den vergleichsweise geringen Artenverlust durch Indianer hinzunehmen.
[1] so der ehemalige brasilianische Umweltminister José Lutzenberger
[2] Morán, Emílio F: A Ecologia das Populações Humanas na Amazônia, 1990, S. 1
[3] Instituto Brasileiro do Meio Ambiente e dos Recursos Naturais