Quetzal Vogel
News Icon
Quetzal

Politik und Kultur in Lateinamerika

Template: single_normal
Artikel

Bolivien 1964 – Schlusspunkt einer unvollendeten Revolution

Peter Gärtner | | Artikel drucken
Lesedauer: 19 Minuten

Am 3. November 1964 putschte die Armee in Bolivien gegen die Regierung von Victor Paz Estenssoro, der ein halbes Jahr zuvor zum dritten Mal zum Präsidenten des Landes gewählt worden war. Dieser Staatsstreich fällt in mehrfacher Hinsicht aus dem Rahmen des üblichen Geschäfts der lateinamerikanischen Militärs. Worin die Spezifik des bolivianischen Falls liegt, soll im Folgenden erörtert werden. Ausgehend von der Revolution 1952 wird das Augenmerk auf drei Punkte gerichtet: Erstens die Rolle der USA, zweitens die Haltung der Armee bis zum Putsch, drittens dessen Ergebnisse und Folgen.

Der Ausgangspunkt: Die Revolution von 1952

Mitte des vorigen Jahrhunderts war die Situation im bolivianischen Agrarsektor durch die Konzentration großer Ländereien in wenigen Händen (span.: latifundios) gekennzeichnet. Der Zensus von 1950 nennt dazu folgende Zahlen: Sechs Prozent der Landeigentümer, die über eine Fläche von 1.000 ha oder mehr verfügten, kontrollierten 92 Prozent des kultivierbaren Bodens, wobei auf diesen Latifundien im Durchschnitt nur 1,5 Prozent des Landes tatsächlich landwirtschaftlich genutzt wurden. Auf der anderen Seite verfügten jene 60 Prozent der Landeigentümer mit fünf Hektar oder weniger Fläche (span.: minifundios) nur über 0,2 Prozent der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche. Im Durchschnitt wurden diese Minifundien zu 54 Prozent agrarisch genutzt. Die extreme Polarisierung des Landbesitzes und die Fragmentierung der Minifundien bildeten die Basis für eine Regime der Schuldknechtschaft (Pongueaje), das den Großgrundbesitzern – als Gegenleistung für die Überlassung kleiner Pachtflächen – dazu diente, massenhaft billige Arbeitskräfte auszubeuten. Dies änderte sich mit der Revolution von 1952. (Klein 2022, S. 210)

In blutigen Kämpfen gegen die Armee, die am 9. April begannen und drei Tage andauerten, eroberte eine heterogene Koalition aus putschenden Polizisten, bewaffneten Arbeitern und mobilisieren Aktivisten des Movimiento Nacionalista Revolucionario (MNR) die Macht. Neben der Nationalisierung der Zinnminen und der Einführung des allgemeinen Wahlrechts bildeten die Zerschlagung der Latifundien und die Verteilung des Landes an die – zumeist indigenen – Bauern die wichtigsten Errungenschaften der Revolution. Nachdem die Armee durch die Aufständischen zerschlagen worden war, traten die radikalisierten Bauern ab Mitte 1952 in Aktion. Mit bewaffneter Gewalt wurden die Latifundien besetzt und die Großgrundbesitzer verjagt. Als die Agrarreform am 3. August 1953 per Dekret offiziell verkündet wurde, war dies lediglich ein Akt, mit dem vollendete Tatsachen im Nachhinein bestätigt wurden.

Vom April 1952 bis zum Putsch 1964 bildete der MNR die Regierung: 1952-1956 und 1960-1964 unter der Präsidentschaft von Victor Paz Estenssoro, 1956-1960 mit Hernán Siles Zuazo als Präsident. Das neue Regime stand vor einer grundsätzlichen Herausforderung: Einerseits musste es den neuen machtpolitischen Kräfteverhältnissen Rechnung tragen und Wege finden, um die bewaffneten Arbeiter und Bauern einzubinden; andererseits galt es, ein Wirtschaftsmodell zu entwickeln, das eine Stabilisierung von Staat und Gesellschaft ermöglichte. Um letzteres zu erreichen, gab es für den MNR nur zwei Wege – erstens die Modernisierung des Bergbausektors, der die wichtigsten Exportgüter produzierte und damit die Haupteinnahmequelle des Staates darstellte, und zweitens die Neugestaltung des Agrarsektors, wobei die indigene Bauernschaft im Hochland bereits vollendete Tatsachen in ihrem Sinne geschaffen hatte. Sich mit dieser anzulegen, verbot sich aus machtpolitischen Gründen von selbst. Aus dieser Konstellation ergab sich für den MNR ein Dilemma. Einerseits erzwang die schlechte Wirtschaftslage die zügige Modernisierung des Bergbausektors, anderseits war damit der Konflikt mit den gut organisierten und bewaffneten Bergarbeitern, die sich im Zuge der Revolution zahlreiche Rechte erkämpft hatten, vorprogrammiert. Durch den Sieg der kubanischen Revolution 1959 erhielt die Frage, auf welchem Weg die bolivianische Revolution weiterzuführen sei, sowohl für Präsident Paz Estenssoro als auch für die Hegemonialmacht USA eine zusätzliche – geopolitische – Dimension und Brisanz. Aus dieser Gemengelage entwickelte sich eine Dynamik, die schließlich zum Putsch vom November 1964 führte. Seine Besonderheit besteht darin, dass die Armee gegen einen Präsidenten putschte, der den Segen Washingtons hatte. Warum sie dies tat und warum die USA dies akzeptierten, sind zwei Fragen, die es zu beantworten gilt. Zuvor muss jedoch geklärt werden, warum die USA – die ansonsten jeden Versuch einer Revolution in ihrem lateinamerikanischen Hinterhof bekämpfen – sich mit der Revolution von 1952 arrangiert haben.

Warum arrangiert sich Washington mit einer sozialen Revolution im eigenen Hinterhof?

Wenn von Revolution(en) in Lateinamerika die Rede ist, dann muss man zunächst klären, wovon die Rede ist. Zum einen gilt der Kontinent seit Beginn des 20. Jahrhunderts als eine Region, die sich in besonderem Maße durch revolutionäre Erschütterungen und Aktivitäten auszeichnet. Zum anderen gibt es nur drei Fälle, die unbestritten als soziale Revolutionen bezeichnet werden können – die mexikanischen Revolution 1910, die bolivianische Revolution 1952 und die kubanische Revolution 1959. In diesen Revolutionen gelang es den politisch mobilisierten Volksmassen, die bestehende Gesellschaft tiefgreifend und dauerhaft umzuwälzen, wobei neben den politischen Machtverhältnissen die Agrarfrage im Zentrum der mit bewaffneter Gewalt ausgetragenen Kämpfe stand. Daneben gibt es Revolutionen, in denen ernsthaft versucht wurde, die alte Ordnung zu stürzen, die aber am Gegenangriff konterrevolutionärer Kräfte unter Führung der USA gescheitert sind. In diese Kategorien fallen die guatemaltekische Revolution 1944-1954, der Versuch 1970-1973 in Chile, auf friedlichem Weg zum Sozialismus zu gelangen, und die sandinistische Revolution in Nicaragua 1979-1990, die in einem Krieg „niederer Intensität“ besiegt wurde. Die bolivarische Revolution (1), die unter der Präsidentschaft von Hugo Chávez 1999-2013 in Venezuela angestoßen wurde, repräsentiert einen Sonderfall. Bei den anti-imperialistischen Guerillabewegungen im Gefolge der kubanischen Revolution handelt es sich um Versuche, die politische Macht mit bewaffneter Gewalt zu erobern, was jedoch keiner dieser Bewegungen gelang.

Um die Frage zu beantworten, warum die USA ausgerechnet die bolivianische Revolution von ihrer schwarzen Liste gestrichen und sogar mit dem Revolutionsführer Paz Estenssoro eng zusammengearbeitet haben, ist ein Vergleich mit zwei anderen lateinamerikanischen Revolutionen sinnvoll, die sich mit Bolivien 1952-1964 zeitlich überlappen. Es handelt sich einmal um die guatemaltekische Revolution 1944-1954, zweitens um die kubanische Revolution, die 1959 den Sturz Batistas herbeigeführt hatte. Guatemala weist zahlreiche Ähnlichkeiten mit Bolivien auf. In beiden Fällen handelt es sich um ein agrarisch geprägtes Land mit einer indigenen Bevölkerungsmehrheit, die mittels der Schuldknechtschaft (peonaje) als billige Arbeitskräfte auf den Latifundien ausgebeutet wurde. Die kleinbürgerliche Revolutionsführung verfolgte hier wie dort ein Projekt der nationalen kapitalistischen Modernisierung, für dessen Umsetzung die Agrarreform zentral war. Die Armee galt sowohl in Bolivien als auch in Guatemala lange als Fürsprecher der Revolution, wandte sich aber letztlich per Putsch gegen sie.

Daneben gibt es drei entscheidende Unterschiede. Während erstens in Bolivien die US-Interessen von den beiden sozioökonomischen Haupterrungenschaften der Revolution – Nationalisierung und Agrarreform – nicht berührt wurden, war dies in Guatemala sehr wohl der Fall. Hier war die UFCO, ein US-amerikanischer Bananenmulti und größter Landeigentümer, unmittelbar und in großem Umfang von den Landenteignungen der Agrarreform von 1952 betroffen. Zweitens ging dieser Agrarreform keine Welle bäuerlicher Landbesetzungen voraus, wie es in Bolivien der Fall gewesen war. Als die Konterrevolution in Guatemala im Juni 1954 siegte und die Agrarreform mit brutaler Repression rückgängig gemacht wurde, gab es keinen effektiven Widerstand dagegen. In Bolivien war die soziale Basis der Revolution deutlich stärker und selbstbewusster. Der dritte Unterschied bestand darin, dass Washington – nicht zuletzt wegen der Teilenteignung der UFCO – im Falle Guatemalas die „rote Gefahr“ am Werk sah, während der MNR seine antikommunistische Grundhaltung glaubhaft unter Beweis stellen konnte.  

Die drei genannten Unterschiede haben in ihrer gegenseitigen Verschränkung bewirkt, dass sich die USA mit der bolivianischen Revolution arrangiert haben. In Guatemala und Kuba war das Gegenteil zu beobachten. In beiden Fällen bekämpfte Washington die Revolution aufs schärfste – in Guatemala mit Erfolg, in Kuba bislang vergeblich. Alle drei US-Präsidenten, die in der Zeit von 1952 bis 1964 im Amt waren – Dwight D. Eisenhower (1953-1961); John F. Kennedy (1961-1963) und Lyndon B. Johnson (1963-1969) – haben im wohlverstandenen Eigeninteresse mit dem MNR und vor allem mit dessen Führungsfigur Víctor Paz Estenssoro zusammengearbeitet, weil sie sich sicher waren, dass dies der beste Weg war, die „rote Gefahr“ zu bannen – dazu zählte Washington im konkreten Fall nicht nur den 1950 gegründeten PCB (Partido Comunista de Bolivia), sondern auch den trotzkistischen POR (Partido Obrero Revolucionario;  gegründet 1935) und den marxistisch orientierten PIR (Partido de Izquierda Revolucionaria; gegründet 1940) sowie den linken Flügel des MNR unter Führung des Gewerkschaftsführers Juan Lechín.

Es gehört zu den Ironien der Geschichte, dass die kubanische Revolution, die 1961 ihren sozialistischen Charakter proklamiert hatte, der Zusammenarbeit zwischen Washington und Paz Estenssoro einen zusätzlichen Schub verlieh. Um ein zweites Kuba zu verhindern, hatte US-Präsident Kennedy im März 1961 die „Allianz für den Fortschritt“ (eng.: Alliance for Progress – AfP) ins Leben gerufen. Dazu wurde eine Doppelstrategie entworfen, die den revolutionären Bewegungen den Nährboden entziehen sollte. Neben Reformen, die auf die (kapitalistische) Modernisierung der Wirtschaft in den lateinamerikanischen Ländern zielten, waren zivile und militärische Maßnahmen der Aufstandsbekämpfung (eng.: Counterinsurgency – CI) vorgesehen.

Bereits zwei Jahre nach dem April-Aufstand 1952 hatte Washington begonnen, per Entwicklungshilfe seinen Einfluss auf den Verlauf der bolivianischen Revolution geltend zu machen. Von 1954 bis 1963 wurden dem Andenland Hilfsgelder in Höhe von 292 Mio. US-Dollar zur Verfügung gestellt – das entsprach dem höchsten Pro-Kopf-Betrag, der im entsprechenden Zeitraum von den USA in Lateinamerika geleistet wurde. Bei der Planung und Umsetzung der AfP fiel Bolivien eine Schlüsselrolle zu. Washington hoffte, die Errungenschaften der Revolution von 1952 als anti-kommunistisches Gegenstück zur sozialistischen Revolution in Kuba in Stellung bringen zu können.

Warum putscht die Armee gegen einen Präsidenten, der den Segen der USA hat?

Konkret fußte die Umsetzung der AfP in Bolivien auf einer Doppelstrategie, die einerseits die Modernisierung der nationalisierten Zinnminen und andererseits ein spezielles CI-Programm zur Einbindung der Landbevölkerung vorsah. Beide Vorhaben führten dazu, dass sich die Armee zu einem Akteur entwickelte, auf den sowohl Paz Estenssoro als auch Washington in immer stärkerem Maße angewiesen waren. Die damit einhergehende Militarisierung geschah in vollem Einklang mit den Prinzipien der AfP. 

Kennedy selbst hatte im National Security Action Memorandum (NSAM) 88 vom 5. September 1961 verlangt, dass sich die lateinamerikanischen Streitkräfte auf ihren künftigen Einsatz gegen Unruhen, Streiks und Guerilla-Aktivitäten besser vorbereiten müssten (Field 2014, S. 36). Bei einem Treffen mit lateinamerikanischen Offizieren, dass im Juli 1962 in Panama stattfand, verweis der US-amerikanische Präsident auf die „konstruktive Rolle, die die Armeen bei der Verteidigung der Ziele der Allianz für den Fortschritt spielen können“. Teodoro Moscoso, Kennedys AfP-Beauftragter, erklärte ein Jahr später, dass das Militär in Hinblick auf die ökonomische Entwicklung eine spezielle Verantwortung trage, da es die Interessen einheimischer wie ausländischer Investoren vor gewalttätigen Angriffen schütze. (ebenda, S. 81 – Übersetzung P.G.)

In Bolivien stieß die Umsetzung der Richtlinien des NSAM 88 in besonderem Maße auf Schwierigkeiten, was sich besonders anschaulich am Beispiel der „Operation Triangular“ illustrieren lässt. Dabei handelte es sich um eine konzertierte Aktion unter Führung Washingtons zur Modernisierung der nationalisierten Zinnminen, an der außerdem die Inter-Amerikanische Entwicklungsbank (IDB) und Westdeutschland beteiligt waren. Neben der technischen Erneuerung beinhaltete das Projekt, für das Investitionen in Höhe von 40 Mio. US-Dollar vorgesehen waren, verschärfte Arbeitsbedingungen und die Entlassung von einem Fünftel der Bergarbeiter. Angesichts der Stärke der Gewerkschaften und des von ihnen geleisteten Widerstands entwickelte sich die „Operation Triangular“ zu einem Kräftemessen zwischen Washington und Paz Estensorro einerseits und der bolivianischen Arbeiterbewegung andererseits. Sein Ausgang war zugleich entscheidend für das Schicksal der Revolution von 1952. Damit wurde Bolivien für Washington im doppelten Sinne zum Testfall – erstens in Hinblick auf die Verhinderung weiterer Revolutionen in Lateinamerika und zweitens bezüglich der Umsetzung der AfP in einem Land, das trotz – oder: wegen? – seiner eigenen Revolution gegen das Beispiel Kubas in Stellung gebracht werden sollte.

Der Putsch vom 3. November 1964 liefert einen widersprüchlichen Befund für den bolivianischen Testfall. Zum einen setzt er einen Schlusspunkt hinter die Revolution von 1952, die damit in doppelter Hinsicht unvollendet bleibt (dazu später); zum anderen machte er es möglich, dass die ländliche Bevölkerung nicht nur gegen Guerilla-Aktivitäten immunisiert, sondern auch zur sozialen Basis des Militärregimes wird. Der Putsch selbst ist in zweifacher Hinsicht erklärungsbedürftig, denn er lag weder im Interesse Washingtons noch ließ das Kräfteverhältnis von 1961 ein solches Ereignis erwarten.

Beginnen wir mit letzterem. Zu diesem Zeitpunkt hatte die bolivianische Armee eine Stärke von lediglich 7.500 Soldaten, während die Arbeiter- und Bauernmilizen insgesamt 16.000 Mitglieder hatten. Die Bergarbeiter galten aufgrund ihres Zugangs zu Sprengstoff als besonders schlagkräftig. Laut CIA stellten die von Kommunisten geführten Milizen des Bergwerks „Siglo XX“ die „größte einzelne Bedrohung für die Stabilität des Landes“ dar. (ebenda, S. 25 – Übersetzung P.G.). Zudem besaß der linke Flügel des MNR mit Juan Lechín als Vizepräsident ein starkes Gewicht in der Regierung von Paz Estenssoro. Dieser setzte jedoch – nicht zuletzt unter dem Druck Washingtons – auf die „Operation Triangular“. Dazu musste der Widerstand der Bergarbeiter gebrochen werden, weshalb die Armee an Bedeutung gewann. Zusammen mit Bauernmilizen, die gegenüber dem Präsidenten loyal waren, gelang es den Streitkräften, der bolivianischen Arbeiterbewegung eine Niederlage beizubringen. Dies führte zum Bruch zwischen Paz Estenssoro und Lechín, der in Gestalt des Partido Revolucionario de la Izquierda Nacionalista (PRIN) 1963 eine eigene Partei gründete. Das neue Kräfteverhältnis schlug sich außerdem in der Nominierung von General René Barrientos für den Posten des Vizepräsidenten bei den Wahlen vom 31. Mai 1964 nieder. Dass die Wendung nach rechts und die Unterwerfung unter die Forderungen Washingtons in dieselbe Richtung weisen, macht der Bruch mit Kuba deutlich, den Paz Estenssoro im August 1964 vollzog.

Obwohl Paz Estensorro die Wahlen erwartungsgemäß gewonnen hatte, geriet er sowohl von links als auch von rechts immer weiter unter Druck. Dies brachte die Armee in die Position des lachenden Dritten. Barrientos, der sich in Cochabamba eine eigene Machtbasis aufgebaut hatte, nutzte die Gelegenheit, um Paz Estenssoro Anfang November 1964 zu stürzen. Damit erweist sich der Putsch als nicht intendierte Folge der Durchsetzung des US-amerikanischen Entwicklungsmodells, das durch die „Operation Triangular“ paradigmatisch verkörpert wird. Obwohl Washington bis zuletzt glaubte, in Paz Estensorro den besten Garanten gefunden zu haben, um aus dem unruhigen Andenland ein „Schaufenster“ der Allianz für den Fortschritt zu machen, wurde die Johnson-Administration durch den Putsch eines Besseren belehrt. Paradoxerweise war sein Sturz das Ergebnis der ihm zugedachten Aufgabe: Die Umsetzung der AfP führte in Bolivien einerseits zu einer zunehmenden Militarisierung und damit zur Stärkung der Armee, andererseits scheiterte Paz Estensoro gerade deshalb, weil er sich in den Dienst des US-Projektes gestellt hatte. Indem er der „Operation Triangular“ zum Erfolg verhalf, machte er sich die Bergarbeiter zum Feind und trieb die Spaltung des MNR voran. Damit hatte er sich in einem Maße politisch isoliert, das es Barrientos relativ leicht machte, sich an die Spitze der immer breiter werdenden Protestbewegung zu setzen und seine Nachfolge anzutreten. 

Wodurch unterscheidet sich der bolivianische Fall von der lateinamerikanischen Regel?

Wenn abschließend die Besonderheiten des bolivianischen Falls benannt werden, dann beziehen sich diese vor allem auf drei Aspekte: Erstens die Revolution von 1952, zweitens die Rolle von Barrientos und drittens die Spezifik der bolivianischen Armee. Es liegt in der Natur der US-amerikanischen Vorherrschaft über Lateinamerika, dass Revolutionen in Washington als worst case gelten. Dies hat vor allem zwei Gründe – zum einen die geographische Nähe und zum anderen das jeder Revolution immanente Ziel der Veränderung der Machtverhältnisse. In den Beziehungen Washingtons zu den Ländern südlich des Rio Grande haben deshalb Revolutionsbekämpfung bzw. -verhinderung oberste Priorität. Sieht man von der Revolution 1952 in Bolivien ab, ist in den letzten hundert Jahren jede Revolution in der Region auf den erbitterten Widerstand der USA gestoßen. Im Gegenzug besitzt jeder ernsthafte Versuch, die gesellschaftlichen Verhältnisse im Hinterhof der USA zu verändern, eine anti-imperialistische Stoßrichtung. Die Gründe, weshalb sich Washington dennoch mit der bolivianischen Revolution arrangiert hat, wurden vorn bereits erörtert. Einerseits hatten die Schnelligkeit und die Tiefe der Veränderungen, die in den ersten beiden Jahren erreicht wurden, vollendete Tatsachen geschaffen, andererseits betrafen diese nicht direkt US-amerikanische Interessen. Der von Washington geforderte Antikommunismus war der Preis, den die kleinbürgerliche Revolutionsführung gern zu zahlen bereit war, um den Segen Washingtons zu erhalten.

Nach dem Sieg Fidel Castros über die Batista-Diktatur machte Kennedy per AfP aus der Not eine Tugend, indem er die bolivianische Revolution in dreifacher Hinsicht konterrevolutionär instrumentalisierte – zur Bekämpfung der kubanischen Revolution, zur Verhinderung eines „zweiten Kubas“ und zur Kanalisierung der Revolution von 1952 selbst. Kuba hat den Nachweis erbracht, dass die Überwindung der US-amerikanischen Vorherrschaft nur noch auf dem Weg einer sozialistischen Revolution zu erreichen ist. Legt man den kubanischen Maßstab zugrunde, dann blieb die bolivianische Revolution doppelt unvollendet – sowohl in Hinblick auf ihre anti-imperialistische Stoßrichtung (was nicht zuletzt durch den Putsch von 1964 bestätigt wird) als auch bezüglich des historisch notwendigen Übergangs zu sozialistischen Macht- und Eigentumsverhältnissen. Dass eine neue (die kubanische) mittels einer vorherigen (der bolivianischen) Revolution bekämpft wird, stellt – zumindest in Lateinamerika – einen historischen Ausnahmefall dar.

Eine zweite Besonderheit resultiert aus der paradoxen Rolle, die Barrientos in den Jahren von 1964 bis zu seinem Tod 1969 gespielt hat – einerseits als Totengräber der Revolution von 1952, andererseits aber auch als deren Sachwalter. Der Putsch vom November 1964 machte allen Beteiligten klar, dass damit auch die bolivianische Revolution ihr Ende gefunden hatte. Barrientos Machtübernahme hatte jedoch einen Preis: Nachdem er Paz Estenssoro ausgeschaltet hatte, hing sein politisches Überleben davon ab, dass Washington ihn als gleichwertigen „Ersatzmann“ akzeptierte. Die Lösung bestand darin, die Bauernbewegung in einen Pakt mit der Armee einzubinden. Damit verfügte er nicht nur über ein Gegengewicht gegen die rebellischen Bergarbeiter, sondern schuf sich zudem eine persönliche Machtbasis. Bei diesem Vorhaben konnte Barrientos am Pacto Militar-Campesino (PMC) vom 9. April 1964 anknüpfen. Dieser Pakt war ursprünglich zur Unterstützung des Generals bei dessen Wahl für das Amt des Vizepräsidenten im Mai initiiert worden. Im Zuge der Vorbereitung und Durchführung des Putsches vom November entwickelte er sich zur wichtigsten Machtbasis seiner Regierung. Unter Anleitung und Aufsicht des Militärs wurden die Bauernmilizen in die staatlichen Strukturen eingebunden und zu einem zentralen Pfeiler der „neuen Ordnung“ entwickelt. Die Landbevölkerung sah im PMC die wichtigste Garantie zur Sicherung der Agrarreform. In diesem Sinne fungierte Barrientos als Sachwalter der Revolution von 1952.

Zwei Ereignisse des Jahres 1967 belegen die machtsichernde Funktion des PMC – das Massaker von San Juan am 23. Juni und die Ermordung von Ernesto Che Guevara am 9. Oktober. Damals sah sich Barrientos mit der größten Herausforderung seines Regimes konfrontiert. Im März war es in Ñancahuazú (Departament Santa Cruz) zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen Guerilleros und der bolivianischen Armee gekommen. Als Barrientos erfuhr, dass Che Guevara den Guerillakampf anführte, setzte er alles daran, die drohende Gefahr zu beseitigen. In dieser Situation traten die Bergarbeiter von „Siglo XX“ in Aktion und berieten darüber, wie sie die Guerilla unterstützen konnten. Um ein Zusammengehen von Guerilla und Arbeiterbewegung zu verhindern, richtete die Armee unter den Versammelten ein Massaker an, das ca. 100 Menschen das Leben kostete. Es war aber nicht allein das Militär, das die Guerilla scheitern ließ. Eine ebenso wichtige Rolle spielte die Bauernschaft, der zweite „Partner“ des PMC. Dass die Guerilleros bis zu ihrer Niederlage isoliert blieben, war dem Umstand geschuldet, dass die Landbevölkerung ihres Operationsgebietes misstrauisch blieb. Die Agrarreform und der darauf aufbauende Pakt mit der Armee hatten die Bauern gegen die Aufrufe der Guerilla weitgehend „immunisiert“. 

Aus den beiden ersten Besonderheiten resultiert eine dritte – die sich auf den Charakter und die Rolle der bolivianischen Armee bezieht. Bereits vor der Revolution von 1952 hatte es immer wieder reformerische und antioligarchische Bestrebungen besonders unter den jüngeren Offizieren gegeben. Nach ihrer Zerschlagung durch den April-Aufstand 1952 war sie schrittweise als Gegengewicht zu den rebellischen und gut organisierten Bergarbeitern wieder aufgebaut worden, blieb aber zahlenmäßig schwächer als die Arbeiter- und Bauernmilizen. Obwohl sie unter Barrientos für die Unterdrückung der Arbeiterbewegung und die Zerschlagung der Guerilla verantwortlich war und dabei auch eng mit den USA zusammenarbeitete, nimmt sie innerhalb Lateinamerikas eine Sonderrolle ein, die aus ihrer „Wiedergeburt“ im Kontext der Revolution von 1952 resultiert. Im historischen Vergleich kann man die bolivianische Armee am ehesten als Vorläufer des Militärreformismus (Peru 1968-1975, Ecuador 1972-1976, Panama 1968-1981, Honduras 1972-1978) bezeichnen.

Während die meisten Armeen Südamerikas eine Identität als institutionelle Einheit entwickelt haben, mangelt es den bolivianischen Streitkräften an einer solchen. Im Zeitraum von 1964 bis 1985, in der die Armee an der Regierung war, bestimmte das persönliche Profil des jeweiligen Machthabers die ideologische und politische Orientierung des jeweiligen Regimes, wobei das Spektrum von links-radikal über gemäßigt-reformistisch bis reaktionär-repressiv reicht (vgl. Klein 2022, S. 225-226). Im November 2019 unterstützte die bolivianische Armeeführung aktiv den Staatsstreich gegen Evo Morales und im Juni 2024 fand ein Staatsstreichversuch gegen die Regierung von Luis Arce statt. Dies zeigt, dass die Armee Boliviens immer noch für Überraschungen gut ist. 

 


 

Literatur  

Behoteguy Chávez, Gabriela: Memorias de pacto y terror. Historias del general René Barrientos Ortuño en Bolivia (1959-1969). La Plata, Argentina 2023

Field Jr., Thomas: From Development to Dictatorship. Bolivia and the Alliance for Progess in the Kennedy Era. Ithaca & London 2014 

Klein, Herbert: A Concise History of Bolivia, Third Edition. Cambridge University Press 2022, S. 209-238

Soto, César: Historia del pacto militar campesino. Cochabamba 1994

 

(1) „Bolivarisch“ bezieht sich auf den Helden der lateinamerikanischen Unabhängigkeitsbewegung Simón Bolívar (1783-1830), von dem sich auch der Landesname von Bolivien ableitet, das an dieser Stelle aber nicht gemeint ist.

 

Bildquellen: [1-3] Quetzal-Redaktion_pg; [4] Quetzal-Redaktion_AndrésGimeno

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert