Melissa Cardoza (2012): 13 Farben aus dem honduranischen Widerstand / 13 Colores de la Resistencia Hondureña
Übersetzung der Erzählungen Zwei und Elf der honduranischen Aktivistin und Autorin Melissa Cardoza
Einleitende Worte Melissa Cardozas über die honduranische Bewegung der Gemeinschaft der Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Trans (LGBTI) und die Bewegung für sexuelle Vielfalt (Movimiento de la diversidad sexual)
Seit der De-Facto-Regierung Michelettis und ihrer Nachfolgerin, jener Pseudo-Regierung von Lobo Sosa, ist die Gemeinschaft der LGBTI der Teil der Bevölkerung im Widerstand, der am meisten von den Übergriffen betroffen ist. Homosexuelle Aktivisten wie Walter Tróchez wurden aufgrund ihrer politischen Aktivitäten gegen den Putsch verfolgt und ermordet. Die Liste der an Transgender-Personen verübten Verbrechen überschritt allein im Zeitraum der Ausgangssperren die zwanzig – mit steigender Tendenz bis in die Gegenwart. Die Grausamkeit gegen die Körper ist ein klarer Ausdruck für den Hass auf andere sexuelle Praktiken und Formen des Liebeslebens.
Die Bewegung für sexuelle Vielfalt, wie sie sich selbst nennt, fand auf den Straßen und in den Gesprächen des Widerstands ein Aufbegehren und eine Unzufriedenheit wieder, die mit den eigenen Erfahrungen vergleichbar waren. Diesen Umstand nutzend, beförderte die Bewegung für sexuelle Vielfalt ihre Vorstellungen über Leben, Politik, Liebe und Kampf an die Öffentlichkeit. Eigene Aktionen während der Demonstrationen, wie die systematische und audiovisuelle Dokumentation der Fakten und Worte im Widerstand, Stellungnahmen sowie die Teilnahme an allen Aktionsräumen der Bewegung haben der honduranischen Gesellschaft gezeigt, dass es Lesben, Homosexuelle, Transvestiten und Transsexuelle gibt, die an einer Politik für alle interessiert sind. Die Gemeinschaft der LGBTI politisiert ihre Erfahrung an der Seite des honduranischen Volkes mit der Überzeugung, dass es politische Freiheit nicht ohne sexuelle Freiheit geben kann und dass die Kämpfe dafür nicht getrennt ausgetragen werden sollten, denn beide Freiheiten sind von gleicher Wichtigkeit.
Zwei
Für die autonomen aufständischen Frauen
Kenia, Yesenia und Alondra sind Namen, die Träumen, Filmen und dem nächtlichen Theater entnommen sind. Von diesen Frauen der Nacht weiß tagsüber keiner, wer sie sind, wo sie sind und was sie machen. Ihr Leben oszilliert zwischen den lächerlichen Ausdrucksformen ihres Körpers, den sie nach eigenem Belieben aus Bildern und Vorlagen geschaffen haben, und dem Verkauf sexueller Dienstleistungen an Männer, die mit Geld im Verborgenen für eine Sexualität zahlen, die sie bei Tageslicht mit Worten nicht zugeben können.
Die Transfrauen sind so zahlreich in Tegucigalpa, dass sie zu gewissen Stunden ganze Straßenecken bevölkern. Sie defilieren mit ihren wohlgeformten Körpern in beeindruckenden Kleidern und schüren so Unruhe, Angst und Erstaunen. Meine Nichte Luna findet sie schön und bewundernswert. Die Mehrheit von ihnen ist so arm wie fast alle Honduraner. Sie arbeiten auf der Straße und leben den überwiegenden Teil ihres Lebens in harten Umständen, viele von ihnen sind ein Teil des Widerstands, weil sie auf der Straße die Ungerechtigkeit gesehen haben und sie daher gut kennen. Und weil einige von ihnen bereits in der Bewegung für sexuelle Vielfalt organisiert sind, die, trotz des nationalen Konservatismus, in den letzten Jahren an Mitgliedern und Initiativen angewachsen ist.
Eines Nachmittags beschloss COPINH [1] eine kollektive Kreuzigung zu veranstalten. Sie errichteten die Kreuze auf der Plaza de la Resistencia, der zuvor Parque de la Merced [2] hieß, und dort nahmen ihre indigenen Körper die Haltung jenes katholischen Jesu ein, der von ihnen als Verfolgter und Geopferter eines anderen imperialen und gewalttätigen Regimes verstanden wurde. Frauen und Männer wechselten sich an den Kreuzen ab. Menschen zogen vorbei, schauten und fragten nach. Denjenigen, die nicht verstanden, und das waren wenige, wurde erklärt, warum man eine Aktion mit solch symbolischer Last durchführte. Es gab die, die sympathisierten und zum Reden, Verstehen und Entdecken ihres eigenen Volkes stehen blieben, dessen Geschichte sie nur aus verstaubten Schulbüchern kannten.
Aus diesem Tumult tauchen plötzlich zwei Transfrauen auf. Eine von ihnen trägt ein Kleid, das Dekolleté von Pailletten besetzt, und da es noch ausreichend hell ist, spiegelt sich der Lichtschein der Pailletten in ihrem Antlitz. Ihre winzige glitzernde Handtasche scheint in einer riesigen Hand zu verschwinden, und der ganze Körper schaukelt, wenn sie mit ihren enormen Absätzen vorangeht. An ihrer Seite ordnet sich die Freundin die blonde, frisierte Mähne und ihre langen Ohrringe. Sie beginnen nun ihre Arbeitszeit und nähern sich den Orten, wo sie mit Glück auf Kunden treffen werden.
Die Lencas [3] aus dem Widerstand beobachten mit viel Neugier in den Blicken diese beiden Frauen, die Männer zu sein scheinen. Wie sie mir später sagen werden, waren sie verwirrt und stellten sich plötzlich Fragen über Körper, Formen und Lebensentwürfe. Doch von diesen Fragen werden sie später in ihren weit entfernten Gemeinden nichts erwähnen, wenn sie bei einem heißen Kaffee am Herdfeuer sitzen und von dem Aufeinandertreffen mit diesen Persönlichkeiten erzählen werden, umgeben von Mädchen und Jungen, die sich weigern früh schlafen zu gehen, um ja nicht die Geschichten des Widerstands in der Hauptstadt zu verpassen. Wenn sie also mit ihren Familien und Nachbarn zusammensitzen und reden, um sich die unterschiedlichen Wege des Widerstands und seiner Teilnehmer auszudeuten und wie einer jeder seinen eigenen Lebensentwurf hat, den der andere manchmal weder kennt, noch versteht, weil er nichts davon weiß – in diesen Momenten werden sie sich, mit dem Schein des Feuers im Antlitz, an jede Einzelheit der folgenden Szene erinnern.
Eine dieser auffallenden Frauen näherte sich den Kreuzen und wählte sich das, nach ihrem Dafürhalten, schönste aus. Sie vertraute ihre großen, schmalen und teuren Schuhe jemandem an und bestieg dann das Kreuz. Dort wurde sie, leuchtend und glamourös, zu einem Teil der kollektiven Kreuzigung, vollkommen uninteressiert daran, wo Galiläa und Golgatha eigentlich lagen. Angetrieben von diesem Volk im Widerstand, das, wenn es vom Kampf für die Marginalisierten sprach, doch auch sie mit einschließen müsste, genau wie ihre Großmutter. Eine Lenca aus der Gemeinschaft, die ich verlassen musste wegen meiner Art zu leben, wie sie es jedem erklärte, der es wissen wollte.
Aufrecht am hohen Kreuz, das an einem hauptstädtischen Nachmittag in den blassen Himmel ragte, fühlten Kenia, Yesenia oder Alondra in ihrem Blut das Blut ihres Großvaters Lempira fließen.
Elf
Amanda sagte immer, ihr Name sei ein Gerundium, ein konjugiertes Verb: die, die geliebt werden muss [4].
Amanda Castro starb und hinterließ ihr geliebtes Honduras in den Klauen der Putschisten, Militärs und der verlogenen Diebe, die sich auf Kosten ihrer Leute bereicherten. Doch sie hinterließ ihr Honduras auch in den Händen eines aufständischen und friedlichen Volkes, das sie liebte, obwohl sie dieses Land manchmal verließ, um der Poesie und dem Leben hinterherzurennen, die man bisweilen miteinander verwechseln kann. Sie starb wie sie lebte, leidenschaftlich und intensiv, zwischen Horror und Hoffnung.
Ihre Krankheit war geprägt von Traurigkeit, denn sie starb traurig wegen des Putsches, doch zugleich war sie erfüllt davon, so viele Menschen ohne Angst auf den Straßen zu sehen mit einem verdammten Mut, wie sie sagte, und dabei über diesen schlechten Ausdruck lächelte, sie, die keine Schimpfworte mochte.
Sie hatte eine genetische Lotterie gewonnen und ihre Krankheit war ebenso seltsam wie tödlich, aber Honduras vermochte sie zu heilen, und vor allem Comayagüela mit seinem Markt und seinem stinkenden Fluss.
Wie machen Sie das nur, dass Sie noch leben?, sagte ihr ein ‚Gringo‘-Arzt, der ihre Unsterblichkeit nicht verstand.
Ich trinke Guaro [5], antwortete sie ihm, ich schreibe Gedichte und ich lebe in meiner Heimat.
Warum auch immer Ihnen das hilft, machen Sie einfach so weiter, einfach so weiter.
Alle, die eine Lungentransplantation erhalten hatten, waren mittlerweile tot, sie schlich sich rechtzeitig von dieser tödlichen Warteliste.
Als Jugendliche erschien ihr eines Tages der Tod [6], so sehr hatte sie nach ihm gerufen. Den Tod ruft man nicht, versicherte sie mir, denn er nimmt einen ernst. Und sie berichtete, dass sie sich im Angesicht des Todes für das entschied, was sie am meisten wollte: leben. Und wenn sie sich auch noch so viel Scheiße gegenüber sah, die ihr die Zersetzung der Lunge vorantrieb, es gab einfach zu viel Poesie im Leben. Und sie liebte vor allem die Poesie und alle Frauen, aber ihr die Liebste war Honduras.
Manchmal, wenn der Widerstand der Straße wie Poesie war, so bunt, geistreich und manchmal auch unschuldig; voller Leidenschaft, Lieder und Schreie, dann weinte sie, weil sie nicht hingehen konnte und sie bestand darauf, dass wir ihr von den Details und den Gefühlen erzählten. Sie ließ mich die Geschichte der Frauen vom Tag des Flughafens wiederholen, jener unvergessliche 5. Juli, an dem die Frauen den Soldaten Wasser reichten, denn „die armen Jungs mussten die Sonne wie wir ertragen“, und sie sahen keinen Unterschied zwischen diesen jungen Männern und ihren Enkeln und Neffen.
Siehst du, sagte sie mir, so ist dieses Volk. Diese dummen Putschisten haben überhaupt gar keine Ahnung, wer wir eigentlich sind. Und haben wir eigentlich eine Ahnung? Haben diese Anführer eine Ahnung, die die Leute zum Protest und dazu ermuntern, ihre Körper den Waffen entgegen zu stellen?
Amanda war eine Schule des Widerstands, ihre Art des Widerstands war raffiniert und machtvoll und richtete sich gegen den angekündigten Tod, der nach ihr suchte und über den sie sich lustig machte, indem sie ihm jahrelang auswich, ihn verführte und ihn so hinausschob. In den Monaten des Putsches, die sie noch erlebte, sie, Amanda Castro, Poetin und Feministin, die Sauerstoffflasche hinter sich herziehend, bevor wir ihren Körper am 19. März 2010 dem Friedhof von Comayagüela übergaben, schrieb tausende Zeilen, versandte Nachrichten gegen den Putsch, nahm an Zusammenkünften und Großaktionen teil und machte Hungerstreiks ebenso mit wie öffentliche und private Protestaktionen, um bei diesem Kampf für die Würde dabei zu sein, der sich ab dem 28. Juni 2009 massiv verstärkte.
In einer Septembernacht des gleichen Jahres warf man einen riesigen Stein gegen das Glasfenster ihres Zimmers, im Parque Central hatte sie mit anderen Bürgern aus Protest gerade einen Hungerstreik begonnen. Der Anschlag war zielsicher und verbrecherisch, überall waren Glasscherben und der Stein landete auf ihrem Bett. Niemand schlief dort, denn sie schlief generell wenig und das Zimmer, in dem sie zu diesem Zeitpunkt schrieb, war ein anderes. Um das Fenster zu reparieren, sagte sie mir, muss ich alles komplett auswechseln, genau wie in diesem Land, in dem alles ausgewechselt werden muss, daher müssen wir es neu gründen.
Einige Tage darauf schrieb sie, umgeben von eigenen und fremden Büchern, in ihrem Schreibzimmer einen Text für den 8. März. An diesem Abend organisierten die Frauen ihr zu Ehren ein Fest. Sie nannte diesen Text eine vorträgliche Hommage, sie wollte keine nachträgliche Hommage, denn sie wäre ja nicht mehr da. Und sie verlas den Text im Nationaltheater, beschämt von der Zeremonie, und zugleich glücklich, denn umgeben von dem, was ihr, jenseits der medizinischen Wissenschaften, das Leben verlängerte: der Liebe, der Poesie und dem Kampf der Frauen.
Es folgen ihre Worte, die wissen, was sie sagen.
Vorträgliche Hommage
(Fragment)
Zu wissen, dass Du jeden meiner Verse gehört hast
Jedes Wort, das ich in Deinem Namen gesagt habe
Zu wissen, dass sich alles, was ich erlebt habe, gelohnt hat
Um nur einen Tag mehr mit Dir zu sein, mit Euch, mit Euch
So glücklich, wie ich heute Abend bin, begreife ich nun, wie eine Frau, oder zwei, oder vier oder mehrere oder wie wir alle es geschafft haben, den Tod zu überwinden.
Wie schafft es jemand, sich dem Tod entgegen zu stellen? Nur eine erweckte Seele ist dazu im Stande, die verinnerlicht hat, dass sie lebt. Nur sie kann Verhandlungen mit dem Tod aufnehmen, ihn verführen und ihn davon überzeugen, dass es noch nicht Zeit ist, kann ihn verwirren und ihn betäuben, damit er vergisst, sie abzuholen.
Nur eine Seele, der bewusst ist, dass die Luft endlich ist, kann lange Zeit denken und Erwartungen und Vorhersagen, die über ihr Leben gemacht werden, übertreffen.
Die vorträgliche Hommage ist eben genau dieses Leben, das uns der Tod so sehr voraussagt, sie ist dieses Licht, das uns manches Mal so schmerzt.
(…) Dieses Leben leben wir, weil wir es lieben; weil wir lieben, weil wir uns lieben.
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[1] Consejo Cívico de Organizaciones Populares e Indígenas de Honduras (COPINH): Ziviler Rat der Volks- und indigenen Organisationen von Honduras. Der COPINH ist eine der aktivsten indigenen Organisationen des Landes und gilt einer der Säulen des Widerstands.
[2] Die Plaza de la Resistencia (Platz des Widerstands vormals Platz der Gnade Gottes) gilt als bedeutender politischer Aktionsort im öffentlichen Raum Tegucigalpas. (Anmerk. d. Übers.)
[3] Die Lenca sind das im Land am zahlreichsten vertretene indigene Volk. Lempira war jener Lenca-Kazike, der gegen das spanische Kolonialsystem im frühen 16. Jahrhundert aufbegehrte. Seit 1926 ist der Lempira die nationale Währung von Honduras.
[4] Gerundium des lateinischen Verbs amare. Amanda: Die, die geliebt werden muss, die Liebenswerte oder die Liebenswürdige. (Anmerk. d. Übers.)
[5] Ein preiswerter, aus Zuckerrohrsaft destillierter Alkohol, mit starker Wirkung für die Leber.
[6] Der Tod ist im Spanischen weiblich: la muerte. (Anmerk. d. Übers.)
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Übersetzung aus dem Spanischen von Susanne Ritschel.
Bildquelle: COPINH_.