Die Redaktion des „Quetzal“ hat sich entschlossen, den portugiesischen Schriftsteller José Saramago aus Anlass seines Todes zu würdigen. Da wir uns als Lateinamerika-Magazin verstehen, bedarf dieses Überschreiten unseres selbst gewählten Zuständigkeitsbereiches einer Erklärung: Als ein Großer der Weltliteratur hat sich Saramago bis an sein Lebensende für eine gerechte Welt engagiert. Aufgrund der sprachlichen und kulturellen Nähe zu Lateinamerika nahmen die Völker dieses Kontinents einen prominenten Platz in Saramagos politischen und publizistischen Wirken ein. Zugleich sind wir uns bewusst, dass ein Mensch wie Saramago eine globale Ausstrahlung hat, die wir weder ignorieren wollen noch können. Wir werden deshalb bei gegebenem Anlass Ereignisse und Personen würdigen, die von ähnlicher Bedeutung sind, auch wenn sie den Rahmen Lateinamerikas sprengen.
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Am 18. Juni 2010 verstarb der portugiesische Literaturnobelpreisträger José Saramago im Alter von 87 Jahren auf der Kanareninsel Lanzarote. Die Weltliteratur hat mit ihm einen unbequemen und streitbaren Romanautor, Lyriker, Erzähler und Dramatiker verloren, der mit seiner Schreibkunst stets auch Sozialkritik verbunden hat. Mit seiner ihm eigenen Poetik hinterfragte er das scheinbar Selbstverständliche, problematisierte geschichtliche Entwicklungen und Ereignisse und rüttelte an vermeintlich unumstößlichen Wahrheiten. Zwischen Hoffnung und Pessimismus hinsichtlich der Gestaltungskraft und -macht des Menschen oft schwankend blieb Saramago vor allem ein Verfechter der Gerechtigkeit.
Zahlreiche Werke Saramagos sind politische und historische Parabeln einer kritischen Auseinandersetzung mit der Geschichte Portugals und der modernen Zivilisation, die der Literat immer wieder mit den Fragen nach der Rolle des einzelnen Menschen verband. Er war bekannt für undogmatische und provokante Äußerungen, mit denen er sich einmischte und mit philosophischem Anspruch gesellschaftspolitische Fragen unserer Zeit stellte:
- zur Rolle von Religion und klerikalkonservativer Macht in „Das Evangelium nach Jesus Christus“ (1991).
- über die Grenzen der Menschlichkeit oder das Gesetz des Stärkeren in einer fiktiven Katastrophe in „Stadt der Blinden“ (1995): Dieser inzwischen erfolgreich verfilmte Roman lässt viele Lesarten zu, hinterlässt mit einem apokalyptischen Szenario vor allem aber eine beunruhigende Stimmung, die eher wenig Hoffnung vermittelt.
- zu den Auswirkungen einer globalisierten Welt zwischen Gleichmacherei der Wohlstandsgesellschaft und der lokalen ländlichen Tradition in dem Roman „Das Zentrum“ (2000): Sein Misstrauen gegenüber den Segnungen der westlichen Zivilisation verbindet er im Roman mit einer klaren Kritik an bürokratischer Macht und einer ungerechten Weltwirtschaftsordnung.
- über die Einzigartigkeit des Menschen in „Der Doppelgänger“ (2002): Erzählt wird hier eine hochspannende Geschichte über die menschliche Identität in einer Welt zunehmender Duplikate und sekundärer Gewichtungen.
- über die Fragilität moderner Demokratien in „Stadt der Sehenden“ (2004): Die politische Parabel folgt der Fiktion, was passieren könnte, wenn die Bürger sich der Parteiendemokratie verweigern und nicht mehr zu Wahlen gehen.
Saramago bemüht historische Themen wie auch Utopien, verpackt in Allegorien und Parabeln, für seine Fragen, auf die er letztlich keine Antworten gibt und den Leser zum Nachdenken anregt. In einer Hommage anlässlich des 85. Geburtstages des Schriftstellers wurde sein kritischer Zeitgeist so beschrieben: „Aufbegehren ist für ihn Programm – und keine Frage des Alters“.
Josè Saramago war bekennender Kommunist, trat 1969 unter dem Salazar-Regime in die verbotene Kommunistische Partei (PCP) ein und war ihr trotz mancher Kontroverse bis an sein Lebensende treu.
Ob es die Rolle seiner Großmutter väterlicherseits aus dem Milieu ärmlicher Landarbeiter war oder die Inspiration durch die Frauen, die seinen Lebensweg begleiteten, Frauen übernehmen in seinen Werken häufig die Rolle der zum Teil einzigen Hoffnungsträger aus der offen gelegten Misere.
36 Ehrendoktortitel an Universitäten in Europa und Amerika, von Kanada bis Chile, von Schweden bis zur iberischen Halbinsel würdigten in den letzten Jahrzehnten den Schriftsteller Saramago.
1998 erhielt er als erster portugiesischer Schriftsteller den Nobelpreis für Literatur verliehen. In der Begründung zur Preisverleihung hieß es, dass er für sein Werk geehrt wird, dessen Parabeln die Menschen die trügerische Wirklichkeit fassen lassen. Damit erfuhr nicht zuletzt auch seine ihm eigene unverwechselbare Sprache Würdigung. Es verlangt dem Leser seiner Werke einiges ab, in einen Schreibstil hineinzufinden, der von endlos wirkenden Sätzen ohne Kennzeichnung wörtlicher Rede Dialoge gleichsam als Sachverhalte wiedergibt. Bilderreiche, poetische Beschreibungen und zuweilen überraschende Erzähldramaturgie und symbolträchtige Allegorien prägen diesen Stil.
Bereits die Geburt von José Saramago verband sich mit einer symbolträchtigen Begebenheit. Er wurde am 16. November 1922 in Azinhaga in der Provinz Ribatejo in ärmlichen Verhältnissen mit dem Namen Jose Melrinho de Sousa geboren. Der dorfbekannte Spitzname der väterlichen Landarbeiterfamilie de Sousa war „Saramago“. So heißt ein wildes Kraut, der genannte Ackerrettich, der zu Mahlzeiten der Armen in Portugal auf den Tisch kam. Irrtümlicherweise fügte der Standesbeamte im betrunkenen Zustand diesen Spitznamen als Zusatz auf die amtliche Geburtsurkunde, was erst nach Jahren bemerkt wurde. Auf diese Weise kam es zum späteren Autorennamen, der in die internationale Literaturgeschichte der Gegenwart eingegangen ist. (1)
Sein literarisches Schaffen begann Saramago mit Kurzgeschichten, Rezensionen und Theaterstücken in den 1950er Jahren, nachdem er sich als Jugendlicher in der Bibliothek autodidaktisch mit portugiesischer und internationaler Literatur beschäftigt hatte. Die Auseinandersetzung mit dem Estado Novo (2) wie auch die Unterstützung für die Nelkenrevolution, die am 25.04.1974 begann, beeinflussten Stationen seines beruflichen und publizistischen Schaffens. Mit dem Ende der Revolution im November 1975 zerbrach für ihn die Hoffnung auf ein sozialgerechtes Gesellschaftsprojekt in Portugal. Zugleich motivierte Saramago, den gelernten Maschinentechniker, die gescheiterte Chance einer antikapitalistischen Perspektive für Portugal zu einer freischaffenden Schriftstellerkarriere. Die Aufarbeitung der Nelkenrevolution war für den Schriftsteller ein maßgeblicher Anlass für seinen 1980 erschienenen Roman „Hoffnung im Alentejo“, mit dem er erstmals große Aufmerksamkeit in Portugal erlangte. Im Roman zog er den Bogen von der 500jährigen Geschichte des latifundistischen Großgrundbesitzes bis hin zu den revolutionären Veränderungen im Agrarsektor, einem zentralen Bereich der portugiesischen Wirtschaft.
Rasch folgten weitere Romane, mit denen er den internationalen Durchbruch erzielte, unter anderem „Das Memorial“ (1982) über den Bau des Klosters von Mafra im 18. Jahrhundert, bei dem 2000 Bauarbeiter ums Leben kamen, sowie „Das Todesjahr des Ricardo Reis“ (1984).
1991 löste sein Roman „Das Evangelium nach Jesus Christus“ einen politischen Skandal mit internationaler Wirkung aus. Der katholische Klerus und konservative Politiker Portugals verurteilten die alternative Heilsgeschichte, in der sich Jesus seiner eigenen Instrumentalisierung in kirchlichen Machtstrukturen zu widersetzen versucht, als Gotteslästerung. Das portugiesische Kulturministerium verweigerte Saramago schließlich die Kandidatur zum Europäischen Literaturpreis. Im Ergebnis der kulturpolitisch zugespitzten Kontroverse um die Freiheit des Wortes entschloss sich der Atheist Saramago, Portugal zu verlassen. Er siedelte auf die spanische Insel Lanzarote um, was ihm seine portugiesischen Landsleute vor dem Hintergrund der iberischen Geschichte lange Zeit verübelten, bevor sie ihn Jahre später doch versöhnlich als „ihren“ Nobelpreisträger feierten.
Saramago ließ keine Gelegenheit aus, um zu dokumentieren, dass sein politisches Engagement fester Bestandteil seines Schaffens als Künstler ist, und das nicht nur als unorthodoxer Kommunist, sondern auch als Sprachrohr für Menschenrechte und Gerechtigkeit. Als weltweit anerkannte Persönlichkeit unterstützte er öffentlich und konkret soziale Bewegungen, vor allem in Lateinamerika, wie
- die Landlosenbewegung Movimento dos Sem Terra im nordöstlichen Brasilien (1996) und
- die Bevölkerung in der Provinz Chiapas in Mexiko nach dem Massaker Acteal (1997/98) – 2001 weilt er auf Einladung von Subcomandante Marcos zur Ankunft des Marsches der Zapatistas vor Ort.
Genannt sei auch sein Engagement für die sich formierende Antiglobalisierungsbewegung im Manifest Attac (2002). 2007 gründete er die Fundação Jose Saramago zur Unterstützung von Menschenrechtsprojekten mit Sitz auf Lanzarote und in Lissabon und gewann dafür zahlreiche Persönlichkeiten. (3)
Diese Lebensbilanz von Jose Saramago will ich nicht abschließen ohne zu erwähnen, dass ich im Mai 2006 eine kurze persönliche Begegnung während der Buchmesse in Sevilla hatte. Dem ging ein eindrucksvoller, mehr als einstündiger Vortrag des zu dieser Zeit 84-jährigen Literaturnobelpreisträgers voraus, der Open-Air vor geschätzten 1.000 aufmerksamen zumeist andalusischen Zuhörern über das Verhältnis von Bildung und Erziehung in der modernen Gesellschaft philosophierte und polemisierte. Mit dieser Erinnerung und der Neugier auf die angekündigten Veröffentlichungen der deutschen Übersetzung von „Die Reise des Elefanten“ (August 2010) sowie „Chaim“ (Herbst 2011) wird Saramago für mich präsent bleiben. Seine Werke zu lesen lohnt sich – jetzt erst recht.
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(1) siehe Orlando Grossegesse, Saramago lesen, Berlin 2009, S.117 – Wer sich eingehend mit dem Werk, Leben und bibliographischen Übersichten befassen möchte, dem sei dieses Buch empfohlen.
(2) portugiesische Variante einer faschistischen Diktatur
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Bildquellen: [1], [2], [3] Fundação José Saramago; [4]: António Costa Santos