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Die Begegnung

Alfonso Jaramillo | | Artikel drucken
Lesedauer: 23 Minuten

Jaramillo: Die Begegnung, Foto: Quetzal-Redaktion, Edwin EschweilerWas ich jetzt gerade schreibe und vortrage, trug sich vor ein paar Jahren in meinem Geburtsland zu. Meine Rückkehr aus Europa lag noch nicht lange zurück und ein Freund lud mich ein, im Literaturcafé „Das Pendel“ eine Lesung zu halten. Freudig nahm ich die Herausforderung an und begab mich zu dem Ort, den ich von früher als „Chronos“ kannte, was in meinen Ohren sehr nach dem Namen einer gefälschten Markenuhr klang. Es war gegen acht Uhr abends und vor Veranstaltungsbeginn genehmigte ich mir ein paar Cuba Libres, um das Lampenfieber in den Griff zu bekommen, das mich jedes Mal packte, wenn ich mit Publikum konfrontiert war. Schon viel ruhiger setzte ich mich an den Tisch zu dem anderen eingeladenen Schriftsteller, ohne auch nur im Geringsten zu wissen, welchen Text (oder welche Texte) ich zu Gehör bringen würde. Zum Glück machte mein Tischgenosse den Anfang.

Während er redete, begann ich in meinem kleinen Buch danach zu suchen, was ich einige Minuten später rezitieren würde. Ich konnte mich nicht entscheiden, was das Passendste für jenen Anlass war und die Verzweiflung trieb mich dazu, meine Wahl zu vereinfachen, indem ich mit geschlossenen Augen auf eine x-beliebige Seite in dem geöffneten Buch tippte.

An der erwählten Stelle war die Erzählung, die ich jetzt gerade zu Papier bringe und auch in diesem Café vortrage, und die ich später wieder vorlesen und schreiben werde. Beim Deklamieren dessen, was ich zeitgleich verfasste, schauten sich einige Leute an; ich glaube, dass sie das Geschehen noch weniger begriffen als ich.

Ich wusste nicht genau, wie ich in der Lage war, das, was ich aufzeichnete simultan vorlesen zu können. Noch weniger verstehe ich jetzt, wie ich schriftlich fixieren kann, was ich gleichzeitig zu Gehör bringe und was ich später wieder vortragen und aufschreiben werde.

Ich nahm einen Schluck Wasser aus dem Glas, das vor mir war/ ist und schaute auf Personen, die vor mir standen / stehen: die große Kellnerin, die kassierte/ kassiert; die Frau in Rot, die an dem hinteren Tisch saß / sitzt; das junge Paar, das sich küsste / küsst statt mir zuzuhören; und der weißbärtige Herr in blauem Jackett, der mir gegenüber ist/ war. Alle schauten / schauen einander verwundert an, wie als könnten sie nicht glauben, was sich hier abspielte / abspielt. Alle lachten / lachen verhalten. Ich mache/ machte das Gleiche und setzte / setze den Vortrag fort.

Mal angenommen, dass ich mich an das, was ich schreibe oder vorlese, parallel erinnere, nämlich wie ich hier in einer Ecke des „Pendels“ kritzele, wo ich eine Lesung abhalte, die ich mit Sicherheit wieder abhalten werde, weil ich genau das hier beschreiben und vortragen werde, um das dann wieder aufzuschreiben und vorzulesen und vorausgesetzt, dass ich weiß, dass sich alles ad infinitum wiederholen wird, fühle ich, dass mich der Wahnsinn packt. Aber dieser Moment kommt niemals.

‘tschuldigung! Wie gesagt oder geschrieben, – wenn alles sich synchron auf den drei Zeitebenen abspielt, – also parallel in Vergangenheit, Gegenwart und vielleicht in der Zukunft – dann wäre das zu kompliziert, verwirrend, zu breit und langatmig zu beschreiben, so dass ich ab jetzt nur die Vergangenheit benutze, auch wenn dies bedeutet, dass der Parallelismus darüber in Vergessenheit gerät.

Also gut, so ist es einfacher und ansprechender, zumal ich das Gelächter gehört und selbst gelacht und das mit der Gleichheit der Zeiten klargestellt habe – wenn man das so nennen darf.  Ich las weiter vor, wobei mir das gelegentliche Geraune im Publikum, das eine Art von Erstaunen verriet, nicht entgangen war.

Als ich fertig war, lief es mir eiskalt den Rücken herunter und mir fehlte der Mut, einen weiteren Text vorzustellen. Also entfernte ich mich vom Tisch. Die Leute, die mich mit Glückwünschen und unbeantwortbaren Fragen bestürmten, konnte ich mir kaum vom Hals halten. Ich erreichte die Theke und bestellte einen großen Rum on the rocks. Ich kippte ihn auf ex und stellte meine Ohren für Glückwünsche und Fragen auf Durchzug. Ein schmales idiotisches Lächeln auf den Lippen suchte ich irgendwo nach Halt, um nicht umzufallen. Plötzlich trat der Mann mit dem weißen Bart und dem blauen Jackett, der während der Lesung vor mir gesessen hatte, auf mich zu und schleppte mich aus dem Café.

Die kühle Luft auf der Straße ließ mich ein wenig zu mir kommen. Als ich Anstalten machte wieder in das Café zu gehen, hielt er mich zurück:

– Einen Moment, bitte,  ich tue Ihnen nichts. Ich glaube, Sie haben zu schnell und zu viel getrunken und …

– Kommt mir ganz so vor, als seien meiner Frau Mama Haare auf der Brust gewachsen, erwiderte ich ein wenig von oben herab, bevor er den Satz zu Ende sprechen konnte.

– Nichts liegt mir ferner, als Ihre Mutter zu spielen. Ich weiß eigentlich selber nicht, warum ich Sie aus dem Café herausgeschleppt habe. Und auch nicht, was mich geritten hat, überhaupt zu dieser Lesung zu gehen. Vielmehr sollte ich jetzt zu Hause sein. Ich frage mich, was ich hier mache, antwortete er auf meine Frechheit, während er auf ein in der Nähe geparktes Auto zuging.

– Wie praktisch!  Ein Taxi! Bei meinem schwankenden Zustand! Zur Krönung meiner Darbietung beendete ich den Satz mit Hicksen.

Jaramillo: Die Begegnung, Foto: Quetzal-Redaktion, Edwin Eschweiler– Vielleicht möchte ja jener Herr dort Ihnen zu Diensten sein, warf er dazwischen, als er den Freund, der mich zu der Lesung eingeladen hatte, aus dem Café kommen sah.

– Wohin des Wegs, Prophet? rief dieser lächelnd. Da drinnen hast du alle mit deiner Erzählung verunsichert. Ich glaube, du solltest besser wieder mit hineingehen und die Unklarheiten beseitigen.

– Wen meinst du mit Prophet? Den Herrn, der da sein Fahrzeug aufschließt oder mich, warf ich ironisch ein.

– Dich natürlich. Da drinnen haben sie dich gerade zum Propheten ernannt. Kommst du nun ins Café zurück oder hast du vor, dich von dem Straßenlärm und der Trübnis des Himmels inspirieren zu lassen, erkundigte er sich schlussendlich.

Ohne mögliche weitere Worte meines Freundes in Betracht zu ziehen, zumal der bestimmt schon in das Café zurückgegangen war, sagte ich: „Ich gehe lieber an der Hand der Wolken“ und machte mich auf den Weg.

Wildes Autogehupe, Schreie und Beleidigungen drangen an meine Ohren, bis der Weißbärtige wieder vor mir auftauchte.

– Die stark behaarte Mutter, rief ich und lachte.

– Ich bin weder die stark behaarte Mutter noch die Mutter Theresa von Kalkutta, aber ich kann Sie doch nicht so einfach auf der Straße herumlaufen lassen, stammelte er, während er mich am Arm zum Wagen zog.

– Hab ich doch gleich gesagt, dass ein Taxi hilfreich ist. Ich fiel hin, noch bevor ich ins Auto steigen konnte.

– Anscheinend braucht man zwei Flaschen Brandy, um kleine Propheten ertragen zu können. Er half mir auf und bugsierte mich in sein Gefährt.

– Hui, Brandy, wie fein! lautete mein Kommentar und während er die Fahrertür aufmachte, fuchtelte ich im Innern des Wagens wild herum.

– Warum zum Teufel passiert immer mir so was Blödes, brummelte er vor sich hin und ließ das Auto an. Und dann, ganz wie ein Taxifahrer:

– Wo also wohnen der Herr „Prophet“? Ich bringe Sie bis an die Haustür.

– Also, das ist schon ein bisschen weiter weg, presste ich durch meine geschlossenen Lippen hervor und zwinkerte mehrmals.

– Ist mir egal, wie weit das ist. Sagen Sie mir, wo Sie leben und ich fahre Sie dorthin. Er klang leicht verärgert.

– Also ich bin in Santo Domingo de los Colorados zu Hause. Wieder presste ich die Lippen zusammen und zwinkerte.

– Sind Sie sich da ganz sicher? Hören Sie – ich habe Sie nach Ihrer Adresse gefragt und nicht danach, wohin Sie gerne mal fahren möchten. Er drehte sich um und setzte den Wagen in Gang.

– Ja, is‘ ja alles klar. Mein Kopf sank zur Seite und ich schlief sofort ein.

Von dem Ort, wo wir gewesen waren, bis Santo Domingo de los Colorados braucht man fast vier Stunden. Warum ich dem Mann sagte, dass ich dort lebe, weiß ich nicht, denn eigentlich wohnte ich nur knapp eine halbe Stunde vom Café entfernt.

Ich wachte auf. Die Wirkung des Alkohols hatte bereits nachgelassen und wir waren in jener Stadt angekommen. Er fragte nach meiner genauen Adresse, aber ich hatte keine Antwort für ihn parat. Ich wusste überhaupt nicht, wer und wo ich war und was um mich herum geschah. Wütend brachte er das Auto zum Stehen und packte mich am Kragen.

– Aus reiner Menschenfreundlichkeit bin ich seit ungefähr vier Stunden unterwegs. Es ist schon nach zwei Uhr morgens. Ich bin hundemüde. Ich weiß nicht, wie und wann ich wieder zu Hause sein werde. Langsam reißt mir auch der Geduldsfaden. Wenn Sie mir jetzt nicht auf der Stelle Ihre Adresse verraten oder wohin zum Teufel ich fahren soll, schwöre ich Ihnen, dass sich Ihr Kopf unter den Autoreifen wiederfinden wird.

Schlagartig fiel mir wieder ein, was ich ihm gesagt hatte und um ihn nicht noch mehr gegen mich aufzubringen, wies ich ihn mit tiefer Stimme und zittrigem Zeigefinger an, auf der Hauptstraße weiter geradeaus und dann an der fünften Ampel nach rechts zu fahren. Mir war völlig unklar, wohin die Reise ging und ich hoffte inständig, dass die Straßenführung ein Abbiegen nach der fünften Ampel überhaupt zuließ. Bei der vierten Ampel blieb das Auto liegen. Kein Benzin mehr! Ich musste mir den Mund zuhalten, um nicht laut loszuprusten. Er umklammerte das Lenkrad und verfiel in hysterisches Gelächter.

– Na toll!  Zumindest sind wir nur wenige Minuten von Ihrer Wohnung entfernt. Lassen Sie uns das Auto bis dahin schieben und als Dankeschön werden Sie mir hoffentlich erlauben, bei Ihnen zu übernachten, sagte er. Sein Lachen wurde langsam leiser, bis es ganz erstarb und seine wütenden Blicke mich wieder trafen.

– Mit dem größten Vergnügen! Selbstverständlich! Ich werde Sie sogar zu einem Brandy einladen und Ihnen gestatten, meine Lieblings-Pasillo-Schallplatte anzuhören, antwortete ich. Es war mir schleierhaft, warum ich den Bluff weiterfortsetzte.

– Wie nachlässig von mir. Da habe ich doch glatt vergessen, nach einer Tankstelle zu fragen, als der Benzinanzeiger kurz vor der Stadt zu blinken anfing. Was für ein Irrsinnstag! Ja, ich denke, ich werde Ihre Einladung annehmen. So wie die Dinge liegen, kann ich zur Beruhigung einen guten Brandy gebrauchen, erwiderte er und ich verspürte erneut Lust „Hui, Brandy, wie fein!“ auszurufen.

Jaramillo: Die Begegnung, Foto: Quetzal-Redaktion, Edwin EschweilerWir begannen das Fahrzeug zu schieben und kurz bevor wir nach rechts in die Straße nach der fünften Ampel einbogen, sagte er: – Fehlt nur noch, dass uns diese Kerle da überfallen wollen, womit er vier Männer meinte, die auf uns zukamen. Wir hielten für einige Augenblicke an, blieben gegen den Wagen gelehnt, um sie vorbeizulassen. Aber sowie sie uns erreichten, stellte einer von ihnen uns auch schon vor die Wahl zwischen einem Schlag auf den Kopf und dem Aushändigen unserer Wertgegenstände. Doch als wir uns ihnen zuwandten, rief ein anderer von ihnen: Sieh mal einer an, ein Bärtiger und ein Segelohr! Und sie schieben eine Karre!

Sie gaben sich kurze Zeichen und dann rannte der Kleinste von ihnen los und kam wenige Zeit später mit einer Gallone Benzin zurück. Sie betankten das Auto und ohne ein weiteres Wort zu verlieren, brachten sie uns zu einem großen, neonbeleuchteten Gebäude. Davor stand eine hochgewachsene und stämmige blonde Frau, die sich bei den Typen bedankte und uns ins Haus einlud. Wir gingen durch einen sehr langen Korridor mit vielen Türen, vorbei an einer Tanzfläche voller halbnackter Frauen und Betrunkener und erreichten treppauf eine Galerie, von der aus man das ganze Treiben beobachten konnte, ohne den geringsten Lärm zu hören.

– Hallo, ich bin Argenta, begrüßte sie uns. Sie sind genau zu der Uhrzeit gekommen, zu der Sie sich angekündigt hatten. Ich hoffe, meine Freunde haben Sie nicht allzu sehr erschreckt.

– Sie haben mich überhaupt nicht erschreckt. Ich beglückwünsche Sie zu Ihrer neuen Technik, Freier zu werben, sagte ich und ging auf sie zu.

– Das ist kein neuer Koberertrick, mein lieber Prophet, erwiderte sie und tätschelte mir zärtlich die Wange. Sie haben mich doch vor einiger Zeit selbst darum gebeten, Ihnen jemand zu schicken, der bei der Autopanne helfen kann und Sie pünktlich um 2:35 Uhr in der Tür meines Lokals zu erwarten, um Sie hier freundlicherweise die Nacht verbringen zu lassen, da es sehr spät ist und der kleine Prophet das mit dem Wohnort gelogen hat, schloss sie, sich an den Bärtigen richtend.

– Ich glaube, ich träume. Ich verstehe nicht, warum ich mir mit solchen Absurditäten die Nacht um die Ohren schlage und noch weniger, weshalb ich mich um diesen Schwindler gekümmert habe, bemerkte er mit einem Wink auf mich. Und das Allerverrückteste ist, dass ich genau in dem Moment, als wir hier ankamen, auf die Uhr gesehen habe. Sie zeigte exakt 2:35 Uhr in der Frühe. Ja, ich träume. Eine andere Erklärung kann es nicht geben.

– Das ist kein Traum, mein Lieber, widersprach sie und holte eine Brandyflasche aus einem der Fächer des Schreibpults. Du kannst dich ja kneifen, dann weißt du, dass es stimmt. In der Ersten Zeit – oder vielmehr in irgendeiner Zeit – waren Sie beide eng befreundet und nach der von Ihnen besuchten Lesung kamen Sie sternhagelvoll nach Santo Domingo. Der Wagen blieb an der gleichen Stelle wie vor einigen Minuten liegen, ebenfalls ging Ihnen der Sprit aus. Dann überfiel man Sie – bis jetzt ist nicht geklärt, wer es war – , schlug Sie fast tot und schleppte Sie bis auf einige Meter vor diese Tür. Um mir möglichen Ärger mit den Behörden zu ersparen, beschloss ich, Sie in das Lokal zu holen und mich so gut es ging um Sie zu kümmern. Morgen stelle ich Ihnen den Meister vor, der am folgenden Tag kommen musste, um mich zu unterstützen, aber auch er konnte nicht viel ausrichten und wir brachten Sie ins Krankenhaus. Später erfuhren wir, dass du Prophetchen, ein Auge verloren hattest, aber dass es den Bärtigen weitaus schlimmer erwischt hatte, dass er nämlich durch einen Schlag auf die Wirbelsäule zum Krüppel gemacht worden war. Nach einigen Wochen haben auch Sie beide sich zu den Lehren des Meisters bekehrt und diese für den Rest Ihres Lebens befolgt. Dann schickten Sie sich Botschaften an Ihre Vergangenheiten und seitdem wiederholen sich die Dinge fast auf die gleiche Art, nur dass Sie in den anderen Zeiten keine dicken Freunde waren und dass Sie, wenn Sie in diese Stadt kommen, einzig zu dem Zweck überfallen werden, zu mir zu gelangen.

– Kann sein, dass ich zu viel gesoffen habe und dass diese Frau da gerade einen LSD-Trip oder so was Ähnliches geschmissen hat, sagte ich zu dem Weißbärtigen.

– Unter diesen Umständen weiß ich nicht, was ich davon halten oder dazu sagen soll, aber ich  würde gerne von der Dame ein Glas von dem annehmen, was sie da gerade in der Hand hält, meinte er und nickte in Richtung Brandyflasche.

– Bitte, bedienen Sie sich! Möchten Sie schlafen? Dann steht Ihnen jedes Zimmer auf dem Korridor zur Verfügung. Falls Sie Gesellschaft brauchen, sagen Sie es nur. Fühlen Sie sich ganz wie zu Hause. Wenn Sie mich nun bitte entschuldigen –  ich muss nach unten, um mich wieder meinen Geschäften zu widmen.Jaramillo: Die Begegnung, Foto: Quetzal-Redaktion, Edwin Eschweiler

Sie verließ die Galerie und wir schenkten uns wortlos ein Paar Schnäpse ein. Dann erklärte er, dass er schlafen müsse oder aufwachen und ging. Ich begab mich ins Lokal und trank noch etwas, bis ich beschloss, die Gesellschaft eines der Mädchen in Anspruch zu nehmen und verschwand in einem der Zimmer entlang des Korridors.

Am späten Morgen nahm uns die blonde Frau mit, um uns mit dem Mann bekannt zu machen, den alle den Meister nannten. Er bewohnte ein altes Haus in der Nähe des Bordells. Auf den Eingangstreppenstufen wurden wir von ihm in Empfang genommen, mit Namen begrüßt und  in den Garten hinter seinem Haus geführt.

– Nach der schlimmen Nacht brauchen Sie ein wenig Erholung. Trinken Sie Wasser, bestimmt wird es Ihnen wohltun, empfahl er uns und wies auf ein paar Gläser, die unter einem Rosenstrauch standen.

– Verzeihen Sie Magister oder Meister, Sie haben nicht zufällig eisgekühltes Bier und ein Muschel-Cebiche? Ich denke, das wäre ein besseres Katerfrühstück für mich, entgegnete ich und rieb mir den schmerzenden Kopf.

– Man nennt mich nicht aufgrund meiner Erhabenheit Meister, sondern weil ich Uhrmacher bin. Ich war der Uhrmachermeister des Viertels. Wer mich kennt, benutzt diese Bezeichnung und ich habe auch nichts dagegen, klärte er mich auf, während er über eine Rose strich.

Mir drängte sich das Gefühl auf, dass man mit dem Unsinnreden aufhören sollte und zugleich erblickte ich mich selbst ohne mein linkes Auge.  Ich sprach kein weiteres Wort mehr und griff zum Wasserglas. Als ich es leergetrunken hatte, war mir, als sei ich zu neuem Leben erwacht und der Meister (Uhrmacher) begann seinen Vortrag.

– Sie sind hier, nicht weil ich es so möchte oder Sie es so wollen, sondern weil wir uns schon irgendwie in der Ersten Zeit über den Weg gelaufen sind und miteinander zu tun hatten. Es gibt Dinge, an denen lässt sich nichts ändern, auch wenn man sich noch so anstrengt. Mit anderen Worten:  Sie wiederholen sich bisweilen, ohne dass man es verhindern kann. Vielleicht passiert in einer anderen Zeit nichts von alledem, aber in dieser hier muss es geschehen. Dem Unausweichlichen hat man sich zu stellen. Bald wirst du wissen, welche die Erste Zeit ist. Während des letzten Satzes sah er den Bärtigen an. Nichts liegt mir ferner, als nett mit Ihnen zu plaudern oder gar einen Dialog zu führen, richtete er sich an mich genau in dem Moment an, in dem ich dachte „Wie nett wir doch gerade plaudern!“.  – Ich bin kein Hexenmeister, ich registriere einfach nur, was in Ihnen vorgeht, wandte er ein, als ich gerade überlegte: Boah! Was für ein Hexenmeister! Hier entschied ich mich zu meinem eigenen Wohl, meinen Kopf von derartigen Gedanken freizuhalten.

– Ich kann Ihre Gedanken lesen, denn ich vermag die elektromagnetischen Teilchen in den Botschaften zu entschlüsseln, die jedes Mal, wenn jemand eine Überlegung ausführt, freigesetzt werden. Klingt kompliziert, ist aber so! Erneut beging ich die Unvorsichtigkeit des Denkens: – Hallo? – Geht’s nicht vielleicht noch komplizierter? – Genauso sicher, wie ich weiß, was in Ihren Köpfen vorgeht. Das hat viel mit der Ersten Zeit zu tun, wandte er sich dem Bärtigen zu. – Du kannst dir zum Beispiel nicht erklären, wie es dazu kam, dass du zu jener Lesung gegangen bist, wie du dann Luis von dort herausgeholt und ihm am Ende angeboten hast, ihn nach Hause zu fahren. – Du hingegen verstehst nicht, warum du ihm hast weismachen wollen, du wohnst in dieser Stadt und – was noch viel schlimmer ist – wieso du ihn noch weiter angeflunkert hast, nachdem Sie beide hier bereits angekommen waren; ebenso wenig kannst du dir einen Reim darauf machen, wie du eine Erzählung hast schreiben können, in der du  darlegst, was bei der Lesung geschah und was sich jetzt abspielt. Wie Argenta Ihnen erzählte, waren Sie in der Ersten Zeit dicke Freunde und als Sie nach der Lesung in dieser Stadt waren, widerfuhr Ihnen etwas Fürchterliches. Seit dieser Ersten Zeit haben Sie sich Botschaften in ihre Vergangenheit geschickt, um eine Wiederkehr dieses schrecklichen Vorfalls abzuwenden. In Ihrer Vergangenheit geschieht dieses Ereignis nicht noch einmal, aber Sie treffen sich immer wieder bei der gleichen Lesung, fahren dann in die gleiche Stadt, das Auto bleibt an der gleichen Stelle liegen, es kommt Hilfe und man bringt Sie zu Argenta, die Sie um 2:35 Uhr morgens erwartet. Deshalb beginnen Sie nach dieser Begegnung mit mir damit, sich Botschaften aus Ihrer Vergangenheit zu senden und du – sich an den Weißbärtigen wendend – kommuniziertest in einer der Vergangenheiten der Ersten Zeit mit Argenta, damit Sie Ihnen Hilfe schickt und Sie genau zu jener Uhrzeit in ihrem Etablissement erwartet. Ja, all dies ist kompliziert, nahm er den Gedanken wieder auf und signalisierte damit vielleicht auch, dass ich es lassen solle, mir über derlei Dinge den Kopf zu zerbrechen.

Jaramillo: Die Begegnung, Foto: Quetzal-Redaktion, Edwin Eschweiler– Sie beide haben schon oft das Gefühl gehabt, dass sie etwas tun oder lassen müssen. Wenn Sie diese Empfindungen ignorierten, bereuten sie es, wussten Sie doch, was passieren wird und haben es trotzdem nicht verhindert!  Allem Anschein nach muss auch dem Bärtigen diese Art von Gefühlen nicht unbekannt gewesen sein, denn wir beide nickten zustimmend. Dies ist ein weiterer Beweis dafür, dass Sie sich fortwährend Nachrichten aus der Zukunft senden, um zu vermeiden, dass sich bestimmte Ereignisse wiederholen, aber erst nach dieser Begegnung werden Sie diesen Empfindungen Beachtung schenken. Und du träumst nicht, wandte er sich an den Bärtigen. Um es dir zu verdeutlichen: Jedes Mal, wenn in unserem Gehirn ein Gedanke entsteht, spielen sich viele chemische Vorgänge ab, die es ermöglichen, dass die bereits vorhandenen Informationen gesammelt, identifiziert und schließlich verarbeitet werden. All diese chemischen Prozesse in unseren Zellen und Neuronen erzeugen Millionen kleiner elektrischer Impulse, die ihrerseits dazu führen, dass wir elektromagnetische Wellen abgeben, die irgendwann zusammenlaufen und sich in Teilchen verwandeln, die schneller als das Licht reisen können. Es ist unerheblich, wenn Sie mir jetzt keinen Glauben schenken oder mich nicht verstehen, denn sie werden es später praktisch anwenden, sagte er und legte seine Hand auf die Schulter des Bärtigen, der im Begriff war, wegzugehen. Die Zeit ist ein Phänomen,  ein Maß – keiner weiß, wo sie anfängt und wo sie endet, ob sie gekrümmt oder flach ist, ob sie einförmig verläuft und sich rückkoppelt, ob sie multipel und parallel ist. Was ich sicher bezeugen kann, ist, dass sie wie in einer Endlosschleife unaufhörlich wiederkehrt, immer und immer wieder, tausende und Millionen Mal. Die Erste Zeit, von der ich sprach, ist nicht zwangsweise der Ursprung, wo sich alle Handlungen erstmalig wiederholt haben. Sie ist vielmehr der weitentfernteste Ort in der Zukunft, von wo ich Botschaften bekomme, und zwar von mir und von Ihnen. Durch die Relativitätstheorie wissen wir: Je mehr sich die Geschwindigkeit eines Körpers an die des Lichts annähert, umso langsamer vergeht die Zeit für ihn. Und wir können uns fragen, was mit der Zeit bezogen auf diesen Körper passiert, wenn sie die Lichtgeschwindigkeit erreicht und sie sogar überholt. Die Antwort ist einfach: Jener Körper kann in der Zeit reisen. Wir senden ständig Partikel aus, die schneller als das Licht sind. Es ist uns also gegeben, in Zeit und Raum zu reisen. Anfangs beseelte mich der Glaube, dass eine Person ihre Botschaften, ihre elektromagnetischen Teilchen bis in die Vergangenheit senden könnte. Auf diese Art wäre sie, die sich in einer anderen Zeit befand, in der Lage es so einzurichten, dass sie diese Botschaften räumlich und zeitlich genau dann erhielte, um Irrtümer zu korrigieren, Katastrophen abzuwenden, die Welt, die als Ewig-Seiende sich zu unserem Nachteil ständig wiederholte, zu retten. Ja, dies glaubte ich zunächst, in der Ersten Zeit. Für den Rest der Welt war ich aber nie etwas anderes als der arme Nachbar, der über die viele Arbeit mit Uhren verrückt geworden war, einer, der den Halt verloren und nur drei treue Anhänger hat: Argenta und Sie beide. Nachdem es mir also nicht gelungen war, die Welt zu retten, begnügte ich mich damit, mein Leben fürderhin mit größtmöglicher Ruhe und Gelassenheit zu ertragen.

Nachdem er seinen Vortrag beendet hatte, fand ich, dass das alles ein einziger großer Quark war. Ein Blick in sein verquältes Gesicht legte mir nahe, zu gehen.

Es verstrichen viele Tage, an denen ich mir alles, was der Meister gesagt hatte, durch den Kopf gehen ließ. Den Mut, mir tatsächlich selbst Botschaften in eine andere Zeit zu schicken, brachte ich nicht auf. In jenen Tagen überfielen mich aber Ahnungen, dass ich etwas Bestimmtes tun oder lassen sollte, und das in weit stärkerem Maße als zuvor. Ich beschloss schließlich, sie ernst zu nehmen und entging so einem Autounfall und einem Streit mit einem Freund. Es gelang mir sogar eine Festanstellung zu finden, als ich mich bei einer Redaktion genau in dem Moment vorstellte, als sie jemanden mit meinem Profil suchten. Diese Tatsachen führten dazu, dass ich das Aussenden von Botschaften in die Vergangenheit ernsthaft zu nutzen begann. Ich machte es Nacht für Nacht und Tag für Tag, immer wenn ich Zeit hatte und in der Tat fing mein Leben an sich zu verändern. Die Fehler, die ich normalerweise begangen hätte, vermied ich ganz. Bei meiner Arbeit als Journalist war ich immer vor Ort und zwar genau zu der Sekunde, in der etwas Wichtiges geschah. Mein Leben wurde eintöniger. Es bot keinen Widerstand und keine große Herausforderung mehr. Ich schaffte es sogar, einen Bewusstseinszustand zu erreichen, in dem man sich an unterschiedlichen Orten und zu verschiedenen Zeiten zugleich aufhält. So erlebte ich meine eigenen Handlungen in unterschiedlichen Epochen und Räumen und am Ende wurde ich mit mir selbst identisch, ein ganzer Mensch. Etwas Ähnliches spielt sich in meinen Träumen ab. Ich war zugleich Subjekt und Objekt, indem ich mich selbst und die Ereignisse beobachten konnte. Mein Unbehagen ist genau wie jenes Gefühl in den Träumen. Deshalb kann ich darüber jetzt in dieser Lesung sprechen und zur selben Zeit schreiben, was ich in diesen Augenblicken vortragen werde. Außerdem kann ich etwas machen, was ich zugleich nicht verstehe.

Einmal bin ich dorthin zurückgekehrt, wo der Meister wohnte, um ihn zu bitten, mir aus dem Labyrinth herauszuhelfen, aber ich fand nur ein grellbuntes, neonbeleuchtetes Gebäude. Gerade auf der ersten Treppenstufe angelangt, kam mir ein blonder und korpulenter Junge entgegen. Er war etwa acht Jahre alt und genauso lange hatte ich den Meister nicht gesehen.  Nachdem er mir zugerufen hatte: „Du bist der Prophet, Luis, das Segelohr. Der Arme, der reist und niemals wissen wird, wohin“ – reichte er mir einen Umschlag und lief schnell ins Haus zurück. Das Seltsamste war, dass der Junge ein kleines blaues Jackett trug und dass ich, als er mir beim Verlassen des Gebäudes sein Gesicht zuwandte, undeutlich an seinem Kiefer eine leichte weiße Behaarung wahrzunehmen schien. Schließlich öffnete ich den Umschlag und fand außer einer hässlichen zeigerlosen Armbanduhr, die kränklich tickte, einen Brief mit folgendem Wortlaut. „Je mehr du nach mir suchst, desto weniger wirst du mich finden und die Ungewissheit wird aus dir einen einfältigen und unwissenden Reisenden machen. Bewahre diese Uhr, die einzige, die deine Zeit messen kann.“

Jetzt beende ich das Vorlesen und das Abfassen dieser Erzählung. Mir läuft es eiskalt den Rücken herunter. Deshalb brauche ich nun einen großen Rum on the rocks und dann will ich darauf warten, dass alles wieder von vorne beginnt.

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Übersetzung aus dem Spanischen: Gabriele Eschweiler

Bildquellen: [1], [2], [3], [4], [5] Quetzal-Redaktion, Edwin Eschweiler

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