Die Literatur der Einwohner mexikanischer Abstammung – der Chicanos – hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten zu einer der lebendigsten Minoritätenliteraturen der Vereinigten Staaten entwickelt. Statt eines Gesamtüberblicks, der in der gebotenen Kürze ohnehin kaum möglich ist, möchte ich mich darauf beschränken, einige wesentliche Momente in der Entwicklung dieser Literatur zu umreißen. Wie viele Einwandererliteraturen hat es die Literatur der Chicanos nicht leicht, sich in der noch immer weitgehend weiß und angelsächsisch dominierten Literaturszene der USA zu behaupten. Bis auf zwei kleine, von Chicanos geleitete Verlagshäuser – Arte Püblico und Bilingual Press/Editorial Bilingüe – gab es für diese Literatur lange Zeit kein Forum. In amerikanischen Mainstream-Literaturgeschichten kam sie nicht vor, und an den US-amerikanischen Universitäten und Schulen wurde sie nicht gelehrt. Diese Situation erinnert an die Anfänge der afroamerikanischen Literatur in den 40er und 50er Jahren und trifft in ähnlicher Weise heute noch auf die Literaturen anderer marginalisierter Bevölkerungsgruppen, wie z.B. der nordamerikanischen Indianer oder der Asiaten, zu. Die Chicana Tiffany Ana Löpez schreibt in ihrer Einleitung zur Anthologie „Growing up Chicano“ treffend: „Während meiner Kindheit als Chicana las ich in der Schule nie ein Buch von jemandem, der ein z in seinem Nachnamen hatte. Kein González, kein Jiménez, kein Chávez, kein López…“
Die Tatsache, daß diese Literatur auch in Mexiko lange Zeit schlicht nicht wahrgenommen wurde, erklärt sich aus ihrer Zwischenstellung an der Grenzlinie zweier Kulturen, die ihr den Vorwurf eintrug, „ni chicha ni limonada“, also weder Fisch noch Fleisch zu sein, nichts Authentisches zu besitzen und damit von vornherein den beiden Herkunftsliteraturen – der mexikanischen und der US-amerikanischen – unterlegen zu sein.
Seit Mitte der 80er Jahre ist es allerdings einigen Autorinnen gelungen, in größere US-amerikanische Verlage vorzustoßen und von dort aus auch breitere Leserkreise außerhalb der eigenen Bevölkerungsgruppe zu erreichen. Prominente Beispiele dafür sind die mit mehreren Literaturpreisen ausgezeichnete Ana Castillo, deren Bücher mittlerweile bei Doubleday verlegt werden, Sandra Cisneros, deren Band „The House on Mango Street“ auch auf Deutsch vorliegt (Das Haus in der Mango Street, München 1992), und der Erzähler Rolando Hinojosa, der sowohl in Spanisch als auch in Englisch schreibt und für sein Buch Klau City y sus alrededores 1976 den kubanischen Premio de Casa de las Américas erhielt (eine Übersetzung des Romans erschien 1980 bei Volk und Welt Berlin und bei Suhrkamp 1981). Das gewachsene Interesse der Verlage an Chicanos erklärt sich nicht nur aus dem im letzten Jahrzehnt geradezu explosionsartig angestiegenen Umfang und der außerordentlich gewachsenen Vielfalt der literarischen Produktion von Chicano-Autorlnnen, sondern beruht nicht zuletzt auf der Erkenntnis, daß das bisher vorherrschende Verhältnis von kulturellem „Zentrum“ (weiß, englischsprachig, europäisch orientiert) gegenüber den „Rändern“ (Afroamerikaner, Indianer, Asiaten, Hispanos) angesichts der demographischen Entwicklung in den USA kaum zu halten sein wird.
Die Zahl der Chicanos in den USA hat in den letzten beiden Jahrzehnten dramatisch zugenommen: 1970 betrug sie laut Zensus 4,5 Mio, 1980 zählte man 8,7 Mio „Mexican Origin Persons“, und 1990 ist die Zahl auf 13,5 Mio angestiegen. Die Chicanos bilden damit gemeinsam mit spanischsprechenden Einwanderern aus Puerto Rico, Kuba, Mittel- und Südamerika die am schnellsten wachsende Bevölkerungsgruppe in den USA (insgesamt 22,4 Mio ohne Berücksichtigung der Dunkelziffern), die voraussichtlich zur Jahrtausendwende die Afroamerikaner als bisher größte Gruppe ablösen wird.
Seit 1848 – dem Jahr, als im Ergebnis des Krieges zwischen den USA und Mexiko der Vertrag von Guadalupe Hidalgo unterzeichnet wurde, mit dem die Gebiete der heutigen Bundesstaaten Texas, Arizona, Kalifornien, Nevada, Utah sowie Teile von New Mexico, Colorado und Wyoming von Mexiko an die USA fielen und damit die ca. 80.000 in diesem Gebieten lebenden Mexikaner zu US-Amerikanern wurden – existiert Literatur von mexikanischstämmigen Amerikanern. Die Anfänge sind zum größten Teil mündliche Überlieferungen von Volkserzählungen und Legenden, Theaterstücke, Reiseberichte und Zeitungsartikel. Der „offizielle“ Beginn der Chicanoliteratur wird dagegen von Kritikern mit dem Jahr 1959 angesetzt – dem Jahr, als mit José Antonio Villareals „Pocho“ der erste von einem Chicano verfaßte Roman erschien. „Pocho“ erzählt die Geschichte Richard Rubios, Sohn einer mexikanischen Einwandererfamilie, der den klassischen Assimilationsprozeß zwischen zwei Welten und die dabei auftretenden Konflikte durchläuft: das Aufwachsen in einem sich der Assimilation verweigernden Elternhaus, in dem Spanisch Muttersprache ist, und die Konfrontation mit der übermächtigen Zielkultur, die zur Anpassung zwingt. Er versucht, beide Pole für sich selbst zu verbinden und sucht seinen Ort und seine Identität zwischen ihnen. Damit wird zum ersten Mal in der US-amerikanischen Literatur ein Hispanoamerikaner als komplexe und mehrdimensionale Figur glaubwürdig dargestellt. Bislang waren Chicanos allenfalls als Karikaturen ihrer selbst, im Desperado-Habit, mit fehlerhaftem Englisch und starkem Akzent oder als Caballeros und Señoritas im nostalgischen und häufig verkitschten Szenario eines „Old Spanish Southwest“ in der Literatur vorgekommen.
Pochos Lavieren zwischen beiden Kulturen weist auf einen paradigmatischen Grundzug der Chicano-Literatur bis in die Gegenwart:
die Problematisierung des „Dazwischenseins“ als Situation, die das Leben von Generationen von Chicanos bestimmt und meist erschwert hat, die zu Wurzellosigkeit und Identitätskrisen geführt hat, die aber auch Möglichkeiten birgt, die dem monokulturellen Anglo verschlossen bleiben und damit ein ganz neues Potential darstellen.
Auf der Suche nach Aztlan – Rückkehr zu den Mythen
In der ersten Hälfte der sechziger Jahre erschienen mehrere Romane und short-story-Samm-lungen, von denen vor allem Sabine Ulibarris Buch Tierra Amarilla: Startes of New Mexico nennenswert ist, das die Tradition des oralen Erzählens mit der Wiedergabe von Sitten und Gebräuchen der Region verbindet. Mitte der 60er Jahre kam es dann in den USA zum Zusammentreffen mehrerer Ereignisse, die für die weitere
Entwicklung der Chicano-Literatur ausschlaggebend sein sollten. Die Bürgerrechtsbewegung unter Martin Luther King erreichte die gesetzlich festgeschriebene Aufhebung der Rassentrennung in öffentlichen Einrichtungen und die Durchsetzung des Wahlrechtsgesetzes, das die Diskriminierung schwarzer Wähler beendete. Die kalifornischen Traubenpflücker, in der Mehrzahl weit unter Tarif bezahlte mexikanische Einwanderer, organisierten unter der Führung von César Chávez einen Streik und setzten den landesweiten Boykott von Tafelobst im Jahr 1967 durch. 1966 organisierte Rodolfo „Corky“ Gonzalez, der später mit seinem Gedichtepos Yo soy Joaquín/I am Joaquin berühmt wurde, den „Crusade for Justice“ (Kreuzzug für Gerechtigkeit) in Denver, eine Organisation, die für die Rechte der Chicanos vor allem im Bildungsbereich wirkte. In vielen Städten kam es zur gleichen Zeit zur Gründung von Verbänden für Chicano-Rechte und zu militanten Aktionen. All dies geschah sicher nicht zufällig zu einer Zeit, da sich auch andere Volksbewegungen – die Studentenbewegung und die Antivietnamkriegs-Bewegung- vehement entwickelten.
Aus diesen zahlreichen Einzelaktionen entstand schließlich die kulturnationalistische Bewegung der Chicanos, das Chicano Movement, dessen Vertreter die Literatur der sechziger und siebziger Jahre entscheidend mitbestimmten. Inhalt ihres Programms, des vom Lyriker Alurista (geb. 1946, eigentlich Alberto Urista Baltazar Heredia) entworfenen „Plan Espiritual de Aztlán“, war die Propagierung der Einheit aller Mestizen- und Indianerstämme Amerikas im Zeichen von Aztlán, einem Konzept, das der Nahuatl-Mythologie entstammt. Aztlán bezeichnet sowohl das Gebiet, das als Ursprungsregion der Mexica gilt, bevor sie ca. 1000 Jahre v.u.Z. nach Süden (heutiges Mexico und Mittelamerika) wanderten, und das ungefähr dem heutigen Südwesten der USA entspricht, als auch die mit diesen Völkern verbundene Kultur: „Wir sind eine Nation, wir sind eine Einheit freier Völker, wir sind AZTLÁN“ (1).
Die spirituelle Aneignung eines – wenn auch geographisch nicht genau abgrenzbaren – Territoriums und der Rückbezug auf die vorkolonialen Imperien der Azteken und später auch auf die der Mayas war Ausdruck des Bestrebens, die abgebrochene Verbindung zur eigenen Geschichte und Kultur zu erneuern und damit eine eigene kulturelle Identität zu bekräftigen. In ähnlicher Weise bezog man sich auch auf die jüngere Geschichte, so z.B. auf Ereignisse und Personen der mexikanischen Revolution, v.a. Zapata und Pancho Villa. Weitere zentrale Themen in der Literatur der kulturnationalistischen Phase, die etwa bis Mitte der siebziger Jahre andauerte, waren das Leben der Chicanos in den USA als unterdrückte Minderheit, das barrio als Ort des Elends und der Armut, aber auch als Platz des Aufgehobenseins in Gemeinschaft und Familie, die Lebenskultur der Chicanos als Alternative zur als kalt und feindlich empfundenen Anglo-Welt, die Beschwörung der Familie als Zentrum von Tradition und Zusammenhalt. Ein häufig anzutreffendes Moment in der Literatur des Movement ist die uneingeschränkte Bejahung der Maskulinität des Chicano-Mannes als Grundwert des Mexikanerseins: Machismo tritt als grundsätzlich positiver Wert auf, verbunden mit dem traditionellen Anspruch des mexikanischen Mannes, Frauen zu beschützen und das an ihnen begangene Unrecht zu rächen. Frauen dagegen werden in den Texten des Movement zumeist die eng definierten traditionellen Rollen zugewiesen: virgen, madre o puta – Jungfrau, Mutter oder Hure -, während es kaum Frauenfiguren gibt, die ein Leben zwischen diesen Polen führen.
In dieser Zeit entstanden zahlreiche Protestromane (2), Gedichtbände und Theaterstücke. Eine wichtige Rolle spielte das Teatro Campesino unter der Leitung von Luis Valdéz, das als Wandertheater vor Landarbeitern und in den barrios der Großstädte auttrat, wo es als Stimme des Protestes füngierte, aufklärte und agitierte und sich um die Wiederbelebung des kulturellen Erbes bemühte.
Wie Dieter Herms feststellt, der mit seiner Geschichte der zeitgenössischen Chicanoliteratur (3) das erste Überblickswerk in deutscher Sprache verfaßt hat, erfolgte die Aneignung präkolumbianischer Mythen und Geschichte im Zeichen von Aztlán teilweise sehr ungebrochen und mit undifferenziertem Bezug auf die militaristischen Aspekte des Aztekenreichs: so bezog man sich z.B. mit dem Titel des ab 1973 jährlich stattfindenden Dichterfestivals „Flor y Canto“ (Blume und Gesang), auf altaztekische Heldenlieder, in denen Krieg und Blut, Schönheit und Lebensfreude besungen werden, alle vereint im Motiv der Blume (4).
Ein hervorstechendes Merkmal vor allem der Lyrik dieser Phase ist die Zweisprachigkeit, das sog. „code-switching“ : entsprechend dem vor allem für die barrios der Großstädte typischen Idiom wechselt die Sprache dabei innerhalb eines Textes, sogar innerhalb von Sätzen mehrfach zwischen Englisch und Spanisch. Dieses Phänomen, auch unter den Bezeichnungen „Spanglish“, „Tex-Mex“, „Calo“ (jeweils unterschiedliche Varianten) bekannt, eröffnete gerade der Lyrik vielfältige Möglichkeiten der Verdichtung und komplexen Aussage.
Einer der wichtigsten Poeten dieser Phase der Chicanoliteratur, in dessen Lyrik der Bezug auf die aztekischen Götter ebenso wie Elemente des code-switching besonders deutlich auftreten, ist Alurista. Seine Gedichte sind voller Referenzen auf Quetzalcóatl, Ometeutl, Tláloc und Ton-antzín, deren Namen er als regenerative Kräfte im Leben der heutigen Chicanos beschwört. In einem der Schlüsselgedichte des Zyklus „Nation-child Plumaroja“ wird das Nahuatl-Bezugssystem weiter ausgedehnt bis auf die Mythologie der Mayas:
a child to be born
pregnant is the continente
el barro y la raza to bear aztlán on ourforehead…
…aztlán, aztlán
the semilla que plantó nuestro padre quetzalcoatl ya germina
en el vientre de nuestra
madre continentetierra, amerindia
nationchild de su padrecarnalismo kukulkán.(5)
Es ist den Chicano-Autorlnnen wiederholt vorgeworfen worden, daß sie durch den Einsatz spanischer Wörter, Redewendungen und mitunter ganzer Sätze dem monolingualen Leser den Zugang zu ihren Texten verwehren. Die besonders ausgeprägte Nutzung des code-switching in der Zeit des Movement muß sicherlich im Kontext des Bemühens um kulturelle Selbstbehauptung gesehen werden, bei dem man erklärlicherweise zu Zugeständnissen an die hegemoniale Kultur nicht bereit war. Wiewohl code-switching in der Lyrik einiger Autorinnen bis heute ein tragendes Element ist (wobei meist per Fußnoten oder Anmerkungen Übersetzungen spanischsprachiger Textstellen dazugeliefert werden), ist die Mischung beider Sprachen in der Literatur der achtziger und neunziger Jahre weniger häufig, was nicht zuletzt als Zeichen wachsender Zugeständnisse an den Literaturmarkt angesehen werden kann.
Zwei Autoren, die sich weniger aktiv im Movement engagierten, die aber heute als Klassiker der Chicanoliteratur gelten, sind neben dem bereits erwähnten Rolando Hinojosa Tomás Rivera, der mit einem einzigen Werk, dem Roman …y no se lo tragó la tierra/…and the earth did not part (6) berühmt wurde, und Rudolfo Anaya, der zahlreiche Romane und short stories geschrieben hat und ebenfalls ins Deutsche übersetzt worden ist (7).
Diversifizierung
Mitte der siebziger Jahre begann sich ein Wandel innerhalb der Chicanoliteratur abzuzeichnen. In dem Maße, in dem sich das Bewußtsein durchsetzte, daß die proklamierte Einheit der Chicano-Gemeinschaft unter dem Vorzeichen eines anti-assimilatorischen Konsenses so nicht haltbar war, nahm der politische Aktivismus der Bewegung ab. Im Ergebnis zunehmender ideologischer Differenzen, aber auch infolge des Vordrängens neuer Autoren und Perspektiven kam es zu einer Fragmentierung oder eher Dezentralisierung der Literatur, die seither eine bemerkenswerte Produktivität und Vielfältigkeit an den Tag legt.
Eine der wichtigsten Entwicklungen dieser Jahre ist eine Verlagerung der Aufmerksamkeit von der Gemeinschaft auf das Individuum, von kollektiver Identität hin zur Befindlichkeit des einzelnen am Schnittpunkt nicht nur zweier Kulturen, sondern innerhalb eines Netzes ganz verschiedener Grenzlinien, die einzelne Gruppen der Gesellschaft voneinander trennen. Neben ethnischen werden dabei ebenso religiöse, geschlechts- und klassenbedingte Differenzen thematisiert. Die Frage der „Gruppenzugehörigkeit“ wird in der Literatur heute als weitaus komplexeres Problem reflektiert als zuvor. Die vollständige Identifikation mit einer Gruppe, einer Kultur, einer Ideologie erweist sich als Fiktion: eine im barrio aufgewachsene Chicana wird sich weder durch die patriarchalisch dominierten Ideen des Move-ment noch durch die weiße Frauenbewegung mit Mittelklassehintergrund vollständig repräsentiert fühlen, obwohl sie mit beiden bestimmte Belange verbinden. Nicht selten wird eine Gruppenzugehörigkeit jedoch überhaupt abgelehnt, wie im Gedicht „Mestiza“ von Marina Rivera:
…don ‚t call me for the Chicanos, nor for my parents,
nor for women. Summon mefor myself… (8)
Die Komplexität des Ichs im Sinne einer kaleidoskopartigen, multiplen Identität, die sich nicht endgültig definieren läßt, wird dabei durchaus als Möglichkeit verstanden. Die Lyrikerin Bernice Zamora verweist auf dieses Potential:
You Insult me when you say I ‚m
Schizophrenie
My divisions are
infinite (9)
Die Chicano-Literatur der 80er und 90er Jahre bekennt sich zu einer Kultur der Synthese, der produktiven Verarbeitung unterschiedlicher Einflüsse und Elemente beider Kulturen, ohne sich auf ein Programm oder eine bestimmte Idee festlegen zu lassen. Sie ist daher gekennzeichnet durch ein weites Spektrum unterschiedlicher Themen und Schreibweisen und zahlreiche neue Perspektiven. Seit Mitte der achtziger Jahre treten dabei besonders die Chicanas hervor, deren Texte heute von vielen Kritikern als der avancierteste und innovativste Teil der Chicanoliteratur hervorgehoben werden (10). Dabei variieren die Ansätze von der Darstellung komplexer und lebensnaher Frauenfiguren, wobei die bekannten Stereotypen aufgebrochen werden, über die literarische Aneignung bislang vielfach ignorierter oder verdrängter weiblicher Lebensräume, Traditionen und historischer Frauenfiguren bis hin zu dezidiert feministischen Inhalten, die sich mit unterschiedlicher Militanz mit Erscheinungsformen des Machismo auseinandersetzen. Häufig ist dabei eine Neubewertung von Geschichte und Mythos aus weiblicher Sicht. So beschäftigen sich viele Texte mit der Figur der Malinche (auch als Malintzin oder Doña Marina bekannt), der Frau, die Hernán Cortes zusammen mit 20 anderen Frauen als Willkommensgeschenk übergeben wurde, und die seine Geliebte und Übersetzerin wurde. Die tradierte Sichtweise auf Malinche ist die einer Verräterin, die Cortés half, die indianischen Stämme zu besiegen (11). Das Konzept des Verrats ist so eng mit dem Namen von Malinche verbunden, daß im mexikanischen Spanisch das Wort Malinche oder malinchista eine Person bezeichnet, die ihr Land oder ihre Kultur verrät.
Bezeichnenderweise mußten sich viele Chicanas, die bereits in den siebziger Jahren versuchten, aus den ihnen zugewiesenen Rollen auszubrechen, die Bezeichnung „Malinche“ gefallen lassen, weil sie sich damit aus Sicht ihrer Kritiker zu stark an der Anglo-Kultur orientierten und ihre eigene Kultur „verrieten“. Eine Neubewertung der Malinche-Figur in den Texten von Chicanas betont zum einen ihre Situation als Opfer sowohl ihrer Familie, von der sie verkauft wurde, als auch der historischen Umstände, zum anderen ihre Rolle als Vermittlerin zwischen Cortes und den indianischen Stämmen: Malinches überdurchschnittlicher Intelligenz und ihrem diplomatischen Geschick wird es zugeschrieben, daß die indianischen Stämme Mexikos von den Truppen Cortes‘ nicht vollständig vernichtet wurden. Eine wichtige Rolle spielt darüber hinaus die Symbolkraft Malinches als Mutter aller Mestizen, als Begründerin einer neuen Rasse. Eine weitere Figur mit großem Identifikationspotential ist die Curandera, die Heilerin oder Medizinfrau mit oft magischen Kräften, die eine starke Verbindung zur Natur und zur Erde verkörpert, neben ihren heilenden Eigenschaften aber auch die Fähigkeit besitzt, Böses zu zerstören. Sie ist in diesem Sinn der Erdmutter Coatlicue nahe, die ebenfalls eine duale Figur ist und sowohl Geburt als auch Tod verkörpert – eine Eigenschaft, die sie von den katholischen Jungfrauen, wie etwa der Jungfrau von Guadalupe unterscheidet, welche ausschließlich positive Züge besitzt.
Die Literatur der Chicano/as ist heute thematisch wie stilistisch so breitgefächert wie noch nie. Die Tatsache, daß sie trotz ihrer zunehmenden Akzeptanz durch Mainstream-Verlage ihre Spezifik und Vitalität als eigenständiger Teil der nordamerikanischen Literatur bewahrt hat, ist ein positives Zeichen.
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*geb. 6.3.63 in Karl-Marx-Stadt, Studium der Übersetzungswissenschaft und Anglistik in Leipzig, z. Z. J.F. Kennedy Institut der FU Berlin.
Sandra Cisneros
geb. 1953, schrieb The House on Mango Street (dt. Das Haus in der Mango Street), einen vielbeachteten, autobiographisch geprägten Roman, der im Hispanic Quarter von Chicago spielt.
Rolando Hinojosa
geb. 1929, schrieb den Romanzyklus Klail City Death Trip Series (der Roman Klail City y sus alrededores liegt in deutscher Übersetzung vor als Klail City und Umgebung).
Ana Castillo
geb. 1953 in Chicago, Autorin mehrerer Romane, Lyrikbände und Essaysammlungen. Castillo promovierte in Bamberg und gab gemeinsam mit Heiner Bus die Anthologie Recent Chicano Poetry/Neueste Chicano-Lyrik (Bamberg 1994) heraus.
Gloria Anzaldúa
aus Texas, feministisch und politisch engagierte Autorin im Sinne einer Einheit aller Drittweltfrauen. Autorin von Borderlands/La Frontera (1983) und Mitherausgeberin von This Bridge Called My Back: Writings by Radical Women of Color (zusammen mit Cherrie Moraga, 1983).
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(1) zit. nach Handbook of Hispanic Cultures in the United States: Literature and Art. Hg. Francisco Lomeli. Houston: Arte Püblico, 1993:92
(2) Raymond Barrio, The Plum Plum Pickers, Richard Vasquez, Chicano, Edmund Villaseftor, Macho, um nur drei zu nennen
(3) Dieter Herms, Die zeitgenössische Literatur der Chicanos (1959-1988). Frankfurt a.M: Vervuert, 1990
(4) ebda, 14
(5) Ein Kind wird geboren
schwanger ist der kontinent / der lehm und la raza / aztlän auf unserer stirn zu tragen/aztlán, aztlán / der samen den unser vater quetzalcoatl / pflanzte / keimt schon / im leib unserer mutter erd-kontinent,
amerindia/nationenkind unserer vaterbrüderlichkeit/kukulkán (Ü.d.Verf.)
(6) …y no se lo tragó la tierra/ … and the earth did not part. Berkeley: Editorial Justa Publications, 1971
(7) Rudolfo Anaya, Segne mich, Ultimo, Nexus-Verlag Frankfurt, 1984
(8)… ruf mich nicht im Namen
der Chicanos,
auch nicht im Namen meiner
Eltern
oder im Namen der Frauen.
Ruf mich um meiner selbst willen.
(In: Infinite Divisions: An
Anthology of Chicana Literature.
Hg. Tey Diana Rebolledo u.
Eliana S. Rivera. Tucson:
Universityof Arizona Press, 1993
(9) Du beleidigst mich / wenn du sagst ich sei / schizophren/meine Verzweigungen sind / unendlich (So not to be mottled, in: Infinite Divisions, a.a.O.)
(10) vgl. z.B. Francisco Lomeli, Handbook of Hispanic Cultures in the United States: Literature and Art, Houston: Arte Público 1993, 104; Tey Diana Rebolledo/ Eliana Rivero, Infinite Divisions. An Anthology of Chicana Literature. Tucson: The University of Arizona Press, 1993, Introduction 1-33, Jüan Bruce-Novoa, „New Mexican Chicano Poetry“ in Paso por Aqui. Critical Essays on the New Mexican Literary Tradition, 1542-1988, ed. Erlinda González-Berry, Albuquerque: University of New Mexico Press, 1989,295).
(11) Vgl. hierzu auch den Artikel von Cornelia Giebeler „Identität und Geschlecht“ in Quetzal Nr. 10, 15-19