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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Der Wahrsager von der Piazza Navona

Roberto Ampuero Espinoza | | Artikel drucken
Lesedauer: 15 Minuten

Kennengelernt habe ich ihn in Rom, in einer milden Sommernacht, direkt auf der Piazza Navona. Er saß auf der einen Seite des Platzes an einem kleinen Tisch, auf dem ein Kerzenstummel brannte, einige verblichene Spielkarten lagen daneben, und ein Pappschild pries in verschiedenen Sprachen seine Dienste an: „Wahrsager von der Piazza Novena. Hier wird italienisch, spanisch, englisch und deutsch gesprochen.“

Angelockt wie von einem Abgrund, schob ich mich durch den Kreis von Menschen, die sich schweigend um ihn drängten, setzte mich an den Tisch und musterte herausfordernd sein eingefallenes, ausgetrocknetes Gesicht. Er nahm meine Hand, betrachtete meine Handfläche, sprach von meiner Vergangenheit, und während seine leise, ruhige Stimme Einzelheiten aus meiner Jugendzeit in Chile nannte, schwand meine anfängliche Arroganz. Es beeindruckte mich, wieviel er aus den Linien meiner Hände und aus dem traurigen Blick meiner Augen herauslesen konnte. In diesem Moment sah er mit seinen dunkelgrauen Augen – in deren Pupillen lebhafte kleine Flammen tanzten – die Umstehenden an, wobei er mich daraufhinwies, dass er mein Schicksal nur dann weiter enthüllen könne, wenn ich an ihn glaubte. Er prophezeite mir lange Reisen, ein gefahrvolles Leben, bittere Trennungen, aber ein von Erfolg gekröntes Ende. Dann legte ich meine letzten Lire neben die Kerze, verabschiedete mich und entfernte mich von dem Platz, seinen Tisch, seine Kerze, seine hagere und ernste Gestalt und das dumpfe Gemurmel der Schaulustigen hinter mir lassend.

Und nun, drei Jahre danach, an einem klaren Winterabend, sollte ich ihn im „Cafe Möwe“ in Binz wiederbegegnen. Er saß gegenüber dem Eingang, dicht an der schweren Holztür, vor sich hatte er eine Tasse Kaffee und ein Glas Kognak. Er rauchte, den Blick auf einen an der Wand lehnenden Rettungsring geheftet.

„Ich habe auf Sie gewartet“, sagte er, ohne mich anzusehen.

Ich setzte mich zu ihm mit der gleichen Entschlossenheit wie in Rom und bestellte einen Mokka. Ich war so verblüfft, dass ich nicht zu sprechen wagte.

„Machen Sie sich keine Gedanken“, fügte er hinzu. Er ließ seine farblosen Augen durch das überfüllte Lokal schweifen. „Die meisten Menschen glauben nicht an die Wahrsager, Sie auch nicht.“ Eine dicke Frau, mit Ringen an den Fingern und einem Tuch um den Kopf, brachte mir den Mokka. Der Wahrsager bot mir eine Zigarette an, indem er auf die Schachtel zeigte. Ich lehnte ab. Mich störte der dichte Rauch und der Geruch nach geröstetem Kaffee; ich wäre lieber mit Bettina durch die engen und gewundenen Straßen der Stadt gelaufen.

„Ich muss Ihnen etwas anvertrauen.“
„Reden Sie…“
„Sie müssen etwas retten.“
„Ich begreife gar nichts“, antwortete ich und blickte mich um, ob uns jemand beobachtete. Der Wahrsager, mit ausgetrocknetem und gelblichem Gesicht, ganz und gar in Schwarz, zog die Aufmerksamkeit des Lokals auf sich. „Ich begreife gar nichts“, wiederholte ich.

Der Wahrsager zog den Rauch seiner Zigarette tief ein und stieß ihn dann langsam in Kringeln aus, denen er bis zu der cremefarbenen Zimmerdecke mit nachdenklichem Blick folgte.

„Kennen Sie das Buch über die spanische Eroberung, das von 1555, in der Náhuatl-Spra-che?“
„An deren Redaktion der Mönch Bernardino de Sahagún mitwirkte?“
„Ebendie.“
„Ja, ich habe davon gehört; es ging um 1570 verloren.“
„Es ist bei mir zu Hause, zusammen mit der kastilischen Kurzfassung von Bruder Bernardino.“ Er bestätigte es unlustig, als handelte es sich um die Morgenzeitung.
„Sie werden verzeihen, wenn ich das bezweifle.“

Ich konnte nicht glauben, dass er eines der wichtigsten Werke der Geschichte meines Kontinents, das vor Jahrhunderten verschwunden war, besaß, hier an der Ostsee, Tausende von Kilometern entfernt von Mexiko. Unsere Forschungen im Berliner Institut diesbezüglich hatten ergeben, dass das Werk unwiederbringlich verschollen war.

„Ich denke, es ist Ihr gutes Recht als Literat, zu zweifeln, wie es Ihre Pflicht ist, sich zu vergewissern, ob ich lüge oder die Wahrheit sage.“

Seine langen, schmalen Finger, deren Gelenke und blaue Adern deutlich hervortraten, schlössen sich um das Kognakglas, hoben es an seine bleichen Lippen. Die Flüssigkeit nahm langsam ab.

„Ich möchte Ihnen das Werk zeigen“, beharrte er.
„Ich erwarte Sie heute Nacht bei mir zu Hause“, fuhr er fort, stand dabei auf und legte einen zerknitterten 5-Mark-Schein auf die Stoffserviette. Er hüllte sich in einen groben Umhang, setzte eine schwarze Mütze auf und band einen schwarzen Schal um, die neben dem Rettungsring an einem Wandhaken hingen. Unwillkürlich dachte ich an die herbstlichen Raben in der Frankfurter Allee.

„Und Ihre Adresse?“ fragte ich, während ich meine Tasse leerte.
„Wenn Sie die Hauptstraße entlanggehen, kommen Sie an einer Araukarie vorbei. Ich wohne in dem weißen Haus dahinter. Dolcino“, fügte er hinzu, mit sarkastischem Lächeln, und verschwand durch die Tür.

Eine Araukarie. Ich bezahlte, verließ das Lokal, und mit dem Buch von Sahagún und dem südländischen Baum im Kopf lief ich die Strandpromenade entlang, mitten unter den warm verpackten und schweigenden Menschen, die um diese Stunde unterwegs waren. Der Himmel hatte sich bezogen, die Wellen schlugen kräftig gegen den Strand, ein nach Salz schmeckender kalter Wind kam auf. Ohne es zu merken, hatte ich mich dem Strandhotel genähert, daneben stand, ganz unscheinbar, das kleine Hotel, in dem wir während des Urlaubs damals wohnten. Verwirrt ging ich hinein, im Vorraum streifte ich die Stiefel ab; ich wagte nicht, unser Zimmer aufzusuchen. Bettina wurde dort ein Buch lesen, und ihre grünen Augen würden meine Besorgnis spüren und mir keine Gelegenheit geben, eine Entschuldigung zu erfinden. Deshalb hielt ich mich bis zum Abendessen in der kleinen Bibliothek des Hotels auf und stöberte zwischen Leder- und dicken Pappbänden herum.

Gegen zehn – nachdem ich üppig gegessen hatte – verließ ich meine Frau und lief durch die Strandpromenade Richtung Stadtmitte.

Die Hauptstraße mit ihren kleinen Läden war leer, und die Schneefläche warf den Schein der Laternen zurück. Der Wind blies noch immer kräftig und fegte jetzt die Wolken vom Himmel, so dass hin und wieder ein klar umrissener runder Mond zum Vorschein kam. Ich ging weiter und weiter, bis ich den unverwechselbaren Wuchs der Araukarie erspähte, die sich vor einem weißen Haus mit metallischer Fassade erhob. In den Mansardenfensterchen sah ich Licht. Ich trat durch ein schmales Seitentor ein und klopfte an der Tür, zu der die Treppe mit den knarrenden Stufen führte. Der Flügel tat sich auf, und es erschien das säuberlich rasierte, zerknitterte Gesicht von Docino. Meine Anwesenheit löste in seinem Antlitz keinerlei Regung aus. Sein langes, auf den Schultern ruhendes weißes Haar – das fiel mir erst jetzt auf- glitzerte wie der Schnee auf den Straßen.

„Treten Sie ein“, sagte er, und ich kam in einen engen Raum mit niedrigen Deckenbalken, der nach Feuchtigkeit roch. Die Wände waren bedeckt mit Meeresbildern, beleuchtet von dem zarten Licht einer Lampe in Gestalt eines Steuerruders, die an rostigen Ketten von der Decke herabhing.

„Da bin ich also“, sagte ich, ohne den Umhang abzulegen. Hier drin war es kalt.
„Machen wir es kurz“, antwortete Dolcino, und seine Stimme wurde rauh. „Ich kann den Náhuatl-Text und auch die Zusammenfassung von Sahagún nicht länger bei mir behalten, denn ich werde sterben.“

Ich sah ihm fest in die Augen. Er stand mitten in dem engen Raum direkt unter der Lampe, groß und hager wie eine Ähre. Seine Züge drückten Ernst aus.

„Die Gelehrten werden sich freuen, dass ein Wahrsager stirbt“, fügte er hinzu, dabei spielte ein leises Lächeln um seine schmalen Lippen.
„Was mich anbelangt, so seien Sie überzeugt, dass mich Ihre Mitteilung betroffen macht.“

Er ging zu der Anrichte, die sich im Hintergrund im Halbschatten abzeichnete, und holte eine Flasche und zwei Gläser heraus. Er schenkte Kognak ein.

„Auf unsere Gesundheit“, sagte er, nachdem er mir ein Glas gereicht hatte.
„Darf man erfahren, warum Sie so bald sterben?“
„Das hängt alles mit dem Náhuatl-Text zusammen.“ Ich setzte eine verständnislose Miene auf.
„Ich kenne Geschichte und Geschick dieses Werkes sehr genau“, fuhr er fort, nachdem er sein Glas geleert hatte. „Es ist nie verloren gewesen, die Menschen haben immer vermieden, es zu besitzen, besser gesagt, nachdem sie seinen Besitz ersehnt und es kennengelernt haben…“
„Entschuldigen Sie, ich sehe da keine Verbindung…“
„Hören Sie: Das Werk hat Bruder Ruy Bermúdez in Mexiko um 1570 gestohlen und dann nach Trinidad gebracht, eine kubanische Stadt. Von da an galt es als verschollen. Der Mönch starb kurze Zeit später, und genauso erging es allen, die auf diese oder jene Weise den Text in die Hände bekamen. Daraus hat man geschlossen, daß ein Fluch an ihm haftet, verstehen Sie!“
„Ja, ich verstehe Ihre Hypothese“,
„Das ist keine Hypothese, sondern erwiesene Tatsache.“
„Gut“, erwiderte ich und trank ein wenig aus meinem Glas.
„Torrelli, oder so ähnlich, der Architekt, der auf Geheiß des spanischen Königs die Mauern von Havanna errichtete, brachte das Buch nach Venedig; er entriss es Amerika, wobei er die Legende nicht beachtete, in der es heißt, bestimmte Wahrheiten werden dem weißen Mann nicht zugänglich sein, ohne dass er dafür bitter büßen muss.“
„Ich weiß, dass Torrelli ebenfalls gestorben ist“, unterbrach ich ihn ironisch.
„Und wissen Sie auch, wie?“
„Nein.“
„Dann bringen Sie es in Erfahrung, und Sie werden erschrecken.“

Mit zitternder Hand schenkte er sich wieder ein. Seine ganz in Schwarz gehüllte Gestalt und sein weißes Haar auf den Schultern, der schwache Lichtreflex auf den dunklen Möbeln des Zimmers und das Schweigen, das auf uns lastete, verlieh dem Treffen etwas Unheimliches und Feierliches zugleich.

„Das Buch, wenn man es als solches bezeichnen darf, überlebte die Pest, die Ende des 18. Jahrhunderts in Venedig wütete, und wurde dann von van Haandem erworben, einem reichen Kaufmann aus Flandern, der starb, kurz nachdem er in sein Heimatland zurückgekehrt war.“

„Woher wissen Sie das alles?“ fragte ich überrascht; aber der Wahrsager blickte gedankenverloren, als erinnere er sich an etwas, was er erlebt.
„Auf dem Totenbett“, fuhr er fort, „befahl er, den Text zu verbrennen, und einer seiner Diener, geblendet von dem Geschäft, das er witterte, verkaufte ihn an einen Partner, der nach Leipzig reiste. Das war etwa 1848″, präzisierte Dolcino, sein neuerlich leeres Glas hebend. „Auf der Durchreise in Berlin starb der in seinem Hotel, Opfer einer der für die Aufständischen bestimmten Kugeln der Armee.“
„Ja, ja“, antwortete ich.
„Das Buch gelangte nie nach Leipzig, es tauchte 1869 an Bord der ‚Maryann‘ auf, einem Schiff unter Kapitän Gerd Kölsch, das, von Kopenhagen kommend, in Thuelsow strandete.“

Dolcino erzählte die Geschichte des Textes weiter, als erzählte er den Text selber. Seine dünnen, knochigen Finger drohten das Glas umzustoßen. Ich trank den letzten Schluck Kognak und fühlte, wie er in der Grabeskälte des Zimmers in mich eindrang.

„Die Spur verliert sich bis 1923, und in dem Jahr taucht er in Rom auf, sagte der Wahrsager, wobei er die Lider schloss und für einige Sekunden das Funkeln seiner wässerigen Augen verbarg, „in der Nationalbibliothek, dann wird er wiederum gestohlen und geht von Hand zu Hand, seinen Besitzern stets den Tod bringend.“
„Und wie kamen Sie dazu?“ fragte ich und hielt ihm mein Glas hin; er füllte es sofort, ganz erfreut. „Mir brachte ihn vor einiger Zeit eine Witwe. Sie erzählte mir in allen Einzelheiten die Geschichte, die ich Ihnen berichtete, aber ich habe sie fast völlig vergessen“, bekannte Dolcino und bewegte dabei den Kopf, während er auf den Fußboden starrte.

„Und die Witwe?‘
„Ich bin ihr nicht wieder begegnet, das letzte Mal ist sie in einer Mondnacht auf der Strandpromenade gesehen worden.“

Er schenkte sich Kognak nach, und ich betrachtete unterdessen seine in die gelblichen Wangenknochen eingesunkenen Augen und fragte mich, worauf das alles hinauslaufen sollte. Dann ging er in den Hintergrund des Zimmers, dorthin, wo der Halbschatten so dicht war, dass man die Wand nicht erkennen konnte.

Ich hörte, wie er in Papieren wühlte.

„Hier ist es“, sagte er, aus der Dunkelheit hervortretend; es war ein riesiges Buch mit dickem Ledereinband und vergilbten und brüchig gewordenen Seiten. Ehrfurchtsvoll legte er es auf einen hohen Lehnstuhl, den er aus dem Dunkel heranrückte.

Ich blätterte vorsichtig darin, aus Angst, die ausgetrockneten Seiten würden unter meinen ungeschickten Händen zu Staub zerfallen. Ich fand beide Manuskripte, das in Náhuatl und das in Kastilisch. Es muss tatsächlich das verlorene Werk sein, sagte ich bei mir, es konnte sich nicht um eine großartige Fälschung handeln, es musste das Original sein, das einzige Exemplar, das 1570 verlorengegangene!

„Das fällt in Ihr Fach“, betonte Dolcino, und mir schien, seine Stimme käme von hoch oben herab, wobei sie in die Kälte und die Dämmerung des Raums schnitt. „Sie sehen, dass ich Ihnen in der ‚Möwe‘ die Wahrheit gesagt habe: In Ihren Händen befindet sich der Náhuatl-Text aus dem Jahr 1555, das Werk, das ein Teil der Menschen für verschollen hält und das meiner Meinung nach einem Teil der Menschen zum Verhängnis geworden ist.“

Ich konnte es nicht glauben, und dennoch, diese mit fast unleserlichen Buchstaben gefüllten großen gelblichen Seiten – lose manche, da sie vor ewigen Zeiten geheftet worden waren und offensichtlich gelitten hatten, und dick und hart wie die Rinde bestimmter Bäume waren ein unwiderleglicher Beweis dafür, dass das Manuskript existierte! Oder bewirkte das alles der Alkohol und das spärliche Licht?

„Und was nun?“ fragte ich und strich über die an den Rändern abgegriffenen Seiten.
„Sie sollen es mitnehmen.“ Ich fuhr hoch und drehte mich zu Dolcino um.
„Ich?“
„Nur einem Lateinamerikaner bringt es den Tod nicht.“
„Sind Sie sicher?“
„Ich sehe, dass Sie anfangen zu glauben“, erwiderte er mit befriedigtem Lächeln. Wiederum füllte er unsere Gläser.
„Sie müssen verstehen, ich als Kritiker…“
„Ich bleibe dabei“, unterbrach er mich mit erhobener Stimme und hochgezogenen Brauen, „ich denke mir, einem Lateinamerikaner bringt es nicht den Tod.“
„Sie vermuten es.“
„Ich schlußfolgere es, wie Sie sagen würden.“
„Ich verstehe.“
„Nehmen Sie es mit, wenn Sie sich nicht fürchten; zeigen Sie es den anderen. In der Akademie wird man Sie anhören, mich niemals, nehmen Sie es mit“, wiederholte er.

Ich schlug das Buch zu und hob es hoch. Es war sehr schwer. Ich sagte ihm, dass ich es mitnehme. Dolcino legte seine bleichen Hände auf den Umschlag des Buches, das ich unter dem Arm hatte, murmelte etwas, beugte sich nieder und küsste es. „Und nun gehen Sie bitte“, bat er, wobei er auf die Tür zeigte, durch die ich eingetreten war.

Ich verabschiedete mich und spürte Dolcinos innere Erregung; ich betrachtete ihn wieder, und mir fiel auf, daß sein Gesicht plötzlich alt aussah, die Schärfe der Züge und der Ernst um die Mundwinkel hatten sich verloren. Mühsam begleitete er mich bis an die Tür; es kam mir so vor, als wäre er kleiner geworden; und als er mir auf der Schwelle die Hand reichte, enthüllte sein müdes Lächeln einen zahnlosen rosaroten Kiefer.

Ich trat auf die Straße hinaus und verharrte einige Sekunden an der schneebedeckten Araukarie; die Straße lag weiß und verlassen und im Lichtschein der Laternen glitzernd vor mir. Der Himmel war klar, und die Sterne funkelten in der Ferne. Oben, durch die Äste der Araukarie hindurch, entdeckte ich im Halbdunkel, an das Fenster gelehnt, die gebeugte Gestalt eines Greises, der durch die Gardinen spähte. Es war schon spät, ich eilte davon, mit dem Buch unterm Arm; zu meiner Linken brachen sich die schaumigen Wellen. Unterwegs wiederholte ich mir bis ins einzelne alles, was Dolcino mir erzählt hatte, und verwarf entschieden die angeblichen Todesursachen, die er aufgedeckt zu haben glaubte.

Ich war verwirrt und kopflos. Ohne es recht zu merken, stand ich plötzlich vor dem Hotel.

Ich ging hinein und stieg auf Zehenspitzen die dunklen Treppen hinauf. Die alten Stufen knarrten. Jäh blieb ich auf einem Treppenabsatz stehen und spürte dabei das Gewicht des schweren Buches. Von hier aus waren die gegen den Strand spülenden Wellen zu hören.

Von einer unbeschreiblichen Kraft getrieben, stieg ich die Treppen wie benommen wieder hinab; das Buch wurde immer schwerer, es brannte mir in den Handflächen. Ich ging in die Bibliothek des Hotels. Als das gelbe Licht aufflammte, tauchten die übereinandergestapelten Bücher in den Regalen auf: friedlich, gelangweilt, ruhig, staubbedeckt. Ich tat ein paar Schritte und näherte mich dabei dem Regal in der Ecke; dort, wo das Licht schwächer war, blieb ich stehen. Und als ich den Kopf hob, las ich die goldenen Lettern auf dem vermoderten und abgegriffenen Band: UTOPIA, fasste ihn mit der einen Hand und zog ihn zwischen den anderen, ebenso verlassenen und unbeachteten Büchern heraus; dabei entdeckte ich, dass dahinter, wie ein zweiter Boden, eine weitere Buchreihe stand. Ich las: „Der Fürst“ und „Don Quijote“, „Die Odyssee“ und „Die Reise um die Welt in 80 Tagen“. Ich holte sie rasch heraus und legte sie auf einen Tisch in dem Saal; als eine breite und tiefe Lücke entstanden war, stellte ich den Náhuatl-Text hinein. Ich schob und rückte an ihm in dem Dunkel, bis er nicht mehr zu sehen war. Dann räumte ich die übrigen Bücher an ihren Platz, und alles war zu meiner – Überraschung -wie bei meinem Hereinkommen. Ich schnaufte befriedigt, meine Arbeit hatte keine Spuren hinterlassen, und ich suchte nach der Ausgangstür. Ich war müde, meine Hände brannten mir, die Armmuskeln waren gespannt, ich trat hinaus.

Und wer diese Geschichte anzweifelt, hole den Text hervor. Er soll in den kleinen Badeort an der Ostsee reisen, sich in das Hotel einschleichen und, ohne jemanden zu befragen, in jener fast vergessenen Bibliothek wühlen, bis er ihn gefunden hat.

Zu fürchten braucht er sich nicht, sterben muss er auf jeden Fall einmal.

Übersetzung aus d. Spanischen: Christel Dobenecker

aus: Roberto Ampuero Espinoza,
Ein Känguruh in Bernau.

Aufbau Verlag Berlin u. Weimar, 1984
(mit freundlicher Genehmigung des Verlages).

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