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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Hymnisches – ernsthaft und kurios

Heidrun Zinecker | | Artikel drucken
Lesedauer: 7 Minuten

Dominikanische-Republik_Nationalhymne_Bild_wiki_ccKönnen Sie die obigen Noten einer lateinamerikanischen Nationalhymne zuordnen? Hören Sie überhaupt gern Nationalhymnen? Bei Staatsempfängen lauschen Sie ihnen respektvoll und beim Fußball singen Sie sie gern, gar lauthals, mit? Dies aber nur dann, wenn es auch „Ihre“ Mannschaft ist! Das versteht sich von selbst. Aber sind Nationalhymnen, die doch ein patriotisches Wir-Gefühl konstituieren, angesichts von Globalisierung überhaupt noch zeitgemäß? Transportieren sie nicht nicht viel zu viel Ideologie? Wird in ihnen semiotisch, also über Zeichen, nicht Macht glorifiziert? In solcherart kulturphilosophische und politische Diskussionen will sich dieser Artikel nicht einmischen. Sein Anliegen ist begrenzt: In ihm geht es lediglich um Musik und Text, um historische Kontexte und politische Hintergründe, um Ernsthaftes und Kurioses. Aber auch dabei sollen nur Schlaglichter geworfen werden, nach dem Motto: Wussten Sie schon …?

Wussten Sie schon …

… dass einige lateinamerikanische Nationalhymnen gecovert wurden? Z.B. die Hymne …

  • … Ecuadors bedient sich der Opera seria von Vincenzo Bellini „I Puritani (di Scozia)“,
  • … Uruguays schöpft musikalisch aus Giacomo Meyerbeer Krönungsmarsch aus „Le Prophète“ (es sollen insgesamt aber nur neun Noten sein),
  • … El Salvadors gründet sich auf einen Vers aus Gaetano Donizettis „Lucrezia Borgia“,
  • … Brasiliens lässt musikalische Ähnlichkeiten mit einer Violinsonate Niccolò Paganinis vermuten,
  • … Chiles scheint, so geht zumindest die Rede, das italienische Belcanto produktiv aufzunehmen, was natürlich nicht heißt, dass das schon Covern bedeutet;

… dass mit Francisco Acuña de Figueroa die Hymnen zweier Staaten denselben Dichter haben (ob auch denselben Komponisten, ist nicht klar), und zwar die

  • Uruguays und
  • Paraguays;

… dass bei zwei weiteren Hymnen zumindest textliche Verwandtschaft entdeckt wurde, mithin der

  • Argentiniens und der der
  • Dominikanischen Republik;

… welche Hymne die in Lateinamerika älteste ist?

  • es ist die Argentiniens, die schon von 1813, also noch von vor der Unabhängigkeit von Spanien, stammt;

… welche Hymne es schon 90 Jahre gab, ehe sie zur offiziellen Hymne erklärt wurde?

  • das ist die mexikanische;

… und welche (mit 6 Minuten) am längsten dauert?

  • die uruguayische. Allerdings bis 1924 hielt diesen Rekord noch, mit rund 20 Minuten, die argentinische;

… dass auch schon einmal Staatspräsidenten selbst künstlerische Hand an eine Nationalhymne anlegten, wie z.B.

  • … der Präsident Kolumbiens Rafael Nuñez bei den Versen – wiewohl nach übereinstimmender Einschätzung nicht ganz so geglückt;
  • … der Noch-Nicht-Interims-Präsident Argentiniens Alejandro Vicente López y Planes, dessen Strophen aber so blutrünstig gegen Spanien gerichtet waren, dass sie später wieder gelöscht werden mussten;

… andere jedoch aus künstlerischen Wettbewerben hervorgingen, etwa in

  • Guatemala,
  • Honduras,
  • Nicaragua und
  • Costa Rica;

… wieder andere im konkreten Regierungsauftrag entstanden, so in

  • El Salvador und
  • Panama;

… dass in manchen Ländern die Hymne zu festen Tageszeiten in Radio und Fernsehen intoniert wird? So

  • … in Mexiko um sechs Uhr früh und Mitternacht,
  • … in Kolumbien um sechs Uhr früh und sechs Uhr abends;

… welche Hymne in mehreren Nationalsprachen gesungen wird?

  • das ist bei den Hymnen Perus, Ecuadors, Paraguays sowie Boliviens nicht nur auf Spanisch, sondern auch auf Quechua bzw. Guaraní oder Aymara der Fall;
  • auch die Hymne Venezuelas soll in eine indigene Sprache, in Warao, übersetzt worden sein;

… welche Wörter in lateinamerikanischen Hymnen am häufigsten vorkommen? Das sind …

  • „Libertad“/ „Freiheit“,
  • „Pueblo“/ „Volk“,
  • „Patria“/ „Vaterland“,
  • „Unido“/ „Vereint“;

Music-cuttime_wiki_cc… dass fast alle Hymnen, da in kriegerischen (Unabhängigkeits-)Kontexten entstanden, bellizistisch getextet sind und, sofern sie nicht aus Opernarien gecovert wurden, sondern sich an der Marseillaise ihr Beispiel nahmen, auch den Rhythmus des Marsches verfolgen?

Aber es gibt ein paar Ausnahmen:

  • die Hymne Nicaraguas ist heute, zumindest was den Text betrifft, eine einzige Ode an den Frieden;
  • der Hymnentext Costa Ricas soll sogar niemals bellizistisch gewesen sein; in ihr waren vielmehr schon immer die Nationalfarben oder auch bestimmte Anbaukulturen prominent… (wen wundert das von denen, die Costa Ricas friedliche Geschichte kennen?);
  • in den Hymnentexten von Guatemala, Honduras und El Salvadors dominierte zwar einmal Bellizistisches, heute aber kaum noch, insbesondere die honduranische rekurriert inzwischen auf Mythisches aus der (idealisierten) präkolonialen Vergangenheit, z.B. auf den Kaziken Lempira;

Doch …

  • … in Chile, (allerdings nur) unter Pinochet, war es umgekehrt: da wurde gerade die besonders friedfertige zweite Strophe entfernt, damit nach der ersten sogleich die dritte – über die mutigen Soldaten – intoniert werden konnte;

allein, alle sechs Hymnen, auch die mit nicht-kriegerischem Text, folgen dem marschtypischen Viervierteltakt;

… dass aufgrund der zu den Entstehungszeiten der Hymnen gerade obwaltenden Liberalen Reformen und dem damit verbundenen Positivismus im Gros der zentralamerikanischen Staaten der Gottesbezug fehlt, mithin in

  • Guatemala,
  • El Salvador und
  • Honduras;

… warum die Texte fast aller Hymnen im Laufe der Zeit mehrmals, aber mindestens einmal geändert wurden, sodass in vielen von ihnen inzwischen auch ganze Strophen nicht (mehr) gesungen werden (Woran erinnert uns das?)?

Warum das so war? Nach den Unabhängigkeitserklärungen der Staaten Lateinamerikas konnten Spanien bzw. Portugal in den frisch und zutiefst patriotisch geschriebenen Hymnen nicht gut wegkommen, doch späterhin wollte man ja gute Beziehungen zur einstigen Kolonialmacht, sodass die Spanien-feindlichen Passagen wieder gelöscht wurden: so z.B. in den Hymnen

  • Argentiniens,
  • Uruguays,
  • Chiles,
  • Brasiliens und
  • Kubas;

… dass Hymnen zwar Kunstlieder sind, aber das eine oder andere Mal auch schon das Volk selbst einmal einen Vers dazu dichten durfte, so z.B. in der Hymne

  • Perus die Strophe „Largo tiempo el peruano oprimido“. Das aber galt nur vier Jahre lang, danach wurde genau diese Strophe von der Regierung höchstselbst wieder aus dem Text entfernt;

… dass selbst profunde Revolutionen des 20. Jahrhunderts ihr eigenes Liedgut nicht als Nationalhymne durchsetzten, so in

  • Nicaragua, etwa mit „Nicaragua, Nicaragüita“ und
  • in Kuba, etwa mit „El hymno/La Marcha del 26 de Julio“, hier blieb vielmehr die Bayamesa als Hymne erhalten, zu Recht, denn auch sie ist ja revolutionär … wenn auch schon aus den Zeiten des Unabhängigkeitskampfes;

… dass lateinamerikanischen Hymnen in der Regel der Maskulinität frönen, es aber (mindestens) eine Ausnahme auf dem Subkontinent gibt:

  • das ist Honduras, das in seinem Hymnentext immerhin eine „india virgen“ erwähnt (aber ob das gerade der Frauenemanzipation dienlich ist?!);

choir-pixabay_cc… welche lateinamerikanische Hymne die schönste ist?

  • Die Antwort darauf kann ja gar nicht objektiv sein: Interessant aber ist, dass fast alle Lateinamerikaner:innen ihre eigene Nationalhymne (nur) als die zweitschönste empfinden … nach der französischen Marseillaise; bei internationalen Befragungen – hier nach der sowjetischen Hymne und der Marseillaise – gelten von den lateinamerikanischen die mexikanische als die schönste und die uruguayische bzw. kolumbianische Hymne (zusammen mit der Nordkoreas, Kasachstans oder Irak) als die hässlichsten (das wird von den Angehörigen dieser beiden Nationen natürlich gaaaanz anders gesehen);
  • Sie fragen nach meiner Favoritin? Auch gaaanz eindeutig … die argentinische! Sie wundern sich, dass die argentinischen Fußballer ihre Hymne dennoch, obwohl sie doch so schön ist, nie vor ihrem Spiel mitsingen …?! Anders als ihr spanisches Pendant hat sie doch durchaus einen Text! Und die Fußballer aus diesem Land haben auch nicht das Özil-Problem! Nein, es ist das – wunderschöne – Intro, das einfach genauso lang (1min 10 sek) dauert wie die bei Fußballspielen für Hymnen grundsätzlich anberaumte Zeit.

 

P.S. Na, haben Sie herausgefunden, zu welcher Hymne das Notenblatt am Anfang gehört? Schreiben Sie es doch in die Kommentarspalte, wir honorieren Richtiges beim ersten Mal durch explizites Wohlwollen, auch „Lob“ genannt, wenn auch kein hymnisches.

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Bildquellen: [1, 2] wiki_cc, [3] pixabay_cc

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